In Venedig


Spätherbst in Venedig

Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,
der alle aufgetauchten Tage fängt.
Die gläsernen Paläste klingen spröder
an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt

der Sommer wie ein Haufen Marionetten
kopfüber, müde, umgebracht.
Aber
vom Grund aus alten Waldskeletten
steigt Willen auf, als sollte über Nacht

der General des Meeres die Galeeren
verdoppeln in dem wachen Arsenal,
um schon die nächste Morgenluft zu teeren
mit einer Flotte, welche Ruder schlagend
sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend,
den großen Wind hat, strahlend und fatal.

(Rainer Maria Rilke)


Venedig

Die junge Nacht liegt wie ein kühler Duft
auf dem Kanal, und grauer nun und greiser
sind die Paläste und die Gondeln leiser,
als führte jede einen toten Kaiser
in seine Gruft.
Und viele fahren, aber eine schwenkt
jetzt scheu und ängstlich in die tiefsten Gassen,
weil tiefste Liebe oder tiefstes Hassen
ihr Steuer lenkt.
Vor einem Marmorhaus mit staubger Zier
drängt sie sich horchend an die Wappenpfähle.
Und lange ruhte keine Gondel hier.
Die Stufen warten. - Fern aus heller Kehle
am Canale grande singt ein Gondolier,
und suchend irrt sein Lied durch die Kanäle.
Der Fremde steht und trinkt den Klang voll Gier,
in lauter Lauschen löst sich seine Seele:
Vorrei
morir.

Der Abend zog vorbei am Erdgeschoß
des Dogenhofs, und die Reflexe rannten
hin wie ein Schwarm von wunden Flagellanten.
Er aber stand so einsam ernst und groß
am Fuß der stolzen Treppe der Giganten,
und seiner Blicke dunkle Bogen spannten
sich nach dem Fenster Pellico´s.
Er nickte leise, so als stände jener
noch dort, der einst in ewig öder Haft
ergeben wie ein echter Nazarener
verzichtete auf Zorn und Kampf und Kraft.
Vielleicht gibt er den Gruß zurück und rafft
des Vorhangs Falten. Wenn noch seinen Namen
Verliebte, die des Wegs vorüberkamen,
zusammen träumen mit den Sündendramen,
erschien er hoch im heißen Fensterrahmen,
er lächelte das Lächeln einer zahmen
in Fesseln müd gewordenen Leidenschaft.
Und jener unten lächelte es mit.
Dann stieg er stufenan mit scheuem Schritt
und stand oft still, im vollen Abendscheine,
drin die Arkaden, wie versteinte Haine,
zu harren schienen, daß er sie durchweine,
so traurig war er; denn es war der Eine,
der immer dankte, wenn er sprach: ich litt.
Sein Haupt war schwer, und schweren Fußes ging
er in die leeren Marmorbogengänge,
an denen wie vergessenes Gepränge
der rote, rasch verwelkte Abend hing.
Ihn fröstelte, und hastig ward sein Schreiten,
das bang erklang im hallend langen Gang.
Vor seiner eignen Lehre war ihm bang:
vor jener Lehre der Vergänglichkeiten.
Sie wuchs um ihn in säulenstarrem Hohne:
so wächst der Zorn dem rachegieren Sohne,
der aus des greisen Vaters feiger Frohne
zu eignem Wort und eignem Weh sich wand.
Er lief zuletzt. Und wie gerettet stand
er endlich still auf einsamem Balkone
und lauschte, was in langem, leisem Tone
die matte Woge sang dem Abendland.
Da knistert neben ihm ein Schleppgewand:
und bei ihm kniet in hoher Mützenkrone
mit weißem Bart ein purpurner Padrone,
und leise faltet sich die Hand zur Hand.
Und Jesus nickt und fragt den alten Mann:
"Schwarz ist der Hafen. Wo sind eure Feste?
Gibts keine Gäste mehr? An die Paläste
legt niemals mehr der bunte Jubel an?
Ich warte schon so lange, wo sind sie
die mich verehrt, die wundersamen Alten
mit Silberbärten, lang und tief gespalten
die Vendramin und Papadopoli.
Ich weiß: die Nacht bewohnt in euren kalten
Palästen jetzt das beste Prunkgemach.
Denn ihr seid lang gestorben, und den Jungen
ist Lied und Lachen gar so bald verklungen
in einer Zeit, die nur mit Eisen sprach.
Jetzt sind die Gassen alle kalt und brach,
und Trauer nur, in halbem Traum gesungen,
langt oft den flüchtenden Erinnerungen
aus einem engen grauen Hause nach.
Von keinem Landen wissen eure Stufen,
und alles kam, wie es die Vorsicht will.
Der Hochmut hohe Häuser starben still,
und nur die Kirchen dauern noch und rufen."

"Ja, Herr", spricht jetzt der Doge und entfaltet
die Hände nicht. "Des Todes Ohnmacht waltet
mit tausend tiefen Schauern über uns.
Und deine Glocken locken lauten Munds.
Du gibst noch immer große, reiche Feste
und machst, daß deine gern bereiten Gäste
in deinen Hallen Elend und Gebreste
vergessen und wie Kinder selig sind.
Und jedes Volk, das gerne noch als Kind
sich fühlen mag, folgt in die Prachtpaläste,
die du ihm aufgetan und betet blind.
Doch ich bin alt. Ich seh die Zeiten rollen
bis in den Tag, da keine Völker mehr
wie Kinder sein und Kinder spielen wollen;
denn mögen alle deine Glocken grollen,
dann bleibt auch dein Palast für ewig leer."
Der Alte schwieg. Wie betend blieb er knien.
Sternenknospen sprangen an den Himmelsachsen.
Und dieses Knien schien weit hinauszuwachsen
vorbei an Christo und weit über ihn.


(von Rainer Maria Rilke)