Den 3. November 1730

Bestürmen hat keinen Zweck. Man ist ein unerbittlicher Freund unbestechlicher Gerechtigkeit. Aber ich glaube trotzdem, dass EG auf jeden meiner Briefe warten und unruhig werden, wenn er ein paar Tage ausbleibt. Wir zwei haben nämlich inzwischen eine gemeinsame Geschichte, und sie wird uns zu siamesischen Zwillingen machen. Da zählt der freie Wille so wenig wie nach der Lehre des Kandidaten Lieberherr bei der Taufe. Auch Ashman hat in diesem Kapitel noch einiges zu lernen.
In Rotterdam, wohin die Berner Wiedertäufer verschifft wurden, warteten am Hafen die holländischen Glaubensgenossen auf sie, bärtig und mit großen Hüten die Männer, in unter dem Kinn mit Bändeln befestigten Kappen die Frauen, und nahmen sie bei sich auf. Es war ein unverstecktes, freies Leben, wie die Leute aus Bern es nicht kannten. Viele von ihnen wohnten selbst bald im eignen Haus, übten fleißig ihr Handwerk und versammelten sich sonntags zu Gebet und Predigt, und das, sie vermochten es kaum für wahr zu halten, mit Duldung und unter dem Schutz der Regierung.
Ashman war zuerst Melker auf einem großen Gut, das einem Grafen gehörte, der selbst kein Täufer war, vor dem er aber seine Täuferei nicht zu verbergen brauchte. Doch dann schickten die vertriebenen Berner eine Abordnung zu ihm und forderten ihn auf, weiterhin ihr Prediger und Lehrer zu sein. Sie wollten ihm auch ein Haus bauen, gleich neben der geplanten Kirche. Ashman nahm an, und als Kirche und Pfarrhaus fertig waren, zog er ein und wurde in der neuen Kirche von einem Vorsteher der Täufergemeinde von Rotterdam vor allen, die mit ihm den Rhein herunter gekommen waren, eingesegnet. Fortan hielt er hier sonntags den Gottesdienst, besuchte seine Leute, unterrichtete ihre Kinder, beerdigte ihre Toten, segnete die Brautpaare und taufte die gläubig Gewordenen.
Er predigte nichts anders als in den abgelegenen kleinen Bauernhäusern des Emmentals. Nur war es jetzt heller Tag, wenn die Gemeinde zusammenkam, und sogar die Glocken läuteten dazu. Doch je länger er das Gleiche predigte, desto stärker merkte er, dass es nicht dasselbe war. Es waren dieselben Worte, doch sie hatten ihren Sinn geändert. Bei der Taufe der Erwachsenen war alles gleich, und doch alles anders. Ashman schüttelte, wenn es keiner sah, über sich selbst den Kopf. "Du sehntest dich nach der Freiheit. Jetzt hast du sie, und es ist dir nicht wohl darin." Er fühlte sich wie die Made im Speck und zugleich als ein schäbiger Jünger. "Solltest du etwa Langezeit nach dem Salzhaus haben?", fragte er sich.

Seine Gemeinde erwartete von ihm, dass er sich gänzlich niederlasse und bürgerlich werde wie sie. Alle Pfarrer in der Gegend, die täuferischen wie die nichttäuferischen, hatten eine Familie. Warum sollte er keine haben? Seine Herde drängte darauf. Sie wollte nicht länger anders sein als die andern.
Und fast hätte Ashman geheiratet. Es gab da eine junge Bernerin, Witwe, deren Mann krank aus dem Kerker auf das Schiff gekommen und schon während der Fahrt auf der Aare, noch bevor sie den Rhein erreichten, gestorben war. In Rheinfelden hatten sie Halt gemacht und ihn neben dem katholischen Friedhof unter dem Schutz der bernischen Stadtknechte der Erde übergeben. Die Witwe war traurig und bedurfte des Beistands des Predigers, der auch traurig war, weil ihr Schicksal ihm seines gegenwärtig machte. "Füg Unglück zu Unglück, und es wird Glück daraus", redete er sich manchmal ein. Nicht ungern hätte er’s getan.
Doch eines Tages stand das Pfarrhaus leer. Ashman war weggegangen, ohne etwas mitzunehmen außer dem, was er auf dem Leib trug. Unerkannt lief er in die große Stadt von Rotterdam und suchte, auf welchem Weg den Nachstellungen des ruhigen Glücks am weitesten zu entfliehen sei.
Darüber musste sich einer in Rotterdam nicht den Kopf zerbrechen: Die Flotte der Republik der Vereinigten Niederlande hatte großen Bedarf. Werber hefteten sich Ashman an die Fersen, und auch die Trupps von den einzelnen Schiffen, die wie die Täuferjäger daheim die finstern Kneipen durchkämmten und mitnahmen, wessen sie habhaft wurden, stellten ihm nach. Ashman floh sie; sein Abscheu vor dem Kriegsgewerbe war in Paris geboren und hatte in der Täuferlehre Bekräftigung gefunden. Es gab aber nur eine Zuflucht vor der Kriegsflotte, und das war die Handelsflotte.
Die "Licht von Holland" war ein Kaufmannsschiff, deren Kapitän ausrufen ließ, er heuere Mannschaft an für die Fahrt nach St. Petersburg und bezahle gut und pünktlich.
Soviel ich weiß, sind EG nie zur See gefahren. Ich werde mir darum Mühe geben, alles, was sich darauf bezieht, nicht in der Sprache der Seeleute zu schreiben, die eine sehr eigene und der so genannten Landratte - EG mögen den Ausdruck verzeihen - vielfach verschlossen ist.
Die "Licht von Holland" lag im Hafen, und vor ihr auf der Mole thronte, in einem gewaltigen Lehnstuhl, wie ein Geldwechsler den Tisch vor sich, auf dem die Gulden zu Türmen aufgebaut waren, der Eigner, Herr van Lakebrink. Er war so dick, dass zwei Diener ihn stützen mussten, wenn er aufstehen wollte. Rund um sein feistes Gesicht wucherte ein Backenbart, so dass es aussah wie ein lachendes, rot gefärbtes Ei im Nest.
"Wie heißt du?", fragte Herr van Lakebrink, als Ashman an den Tisch trat.
"Ashman", antwortete der.
"Und weiter?"
"Nichts weiter", sagte Ashman.
Herr van Lakebrink schaute zu ihm auf. "Du bist kein Holländer."
"Ich bin ein Schweizer. Aus Bern."
"Und du willst zur See fahren? Was hast du ausgefressen?"
"Nichts. Ich will einfach weg."
"Na dann", sagte Herr van Lakebrink, notierte Ashmans Namen in eine Liste, ließ ihn unterschreiben und reichte ihm drei Gulden.
"Dies ist Kapitän Meerswin, der Kommandant des Schiffs."
Der Kapitän war hager, ernst und grau, mit unbeweglichem Gesicht und einem dünnen Sektiererbart unter dem Kinn. Er winkte einen andern Mann herbei, der vom Schiff über den Steg an Land kam. "Zeig Ashman, wo er liegt."

Es muss, als er dem Offizier unter Deck folgte, Ashman vorgekommen sein, als sei er wieder im Salzhaus. Nur, dass es hier noch enger war als dort. Die Hängematten hingen so knapp untereinander, dass der Untere dem Oberen die Nase ins Genick bohrte. Es waren schon zwanzig oder fünfundzwanzig Männer da, junge und ältere. Sie hockten den Wänden entlang, weil es sonst nirgends Platz gab, und schwiegen und wandten allesamt den Kopf, als Ashman hereingeführt wurde. Kaum war der Offizier draußen, fing einer, ein kleiner Wicht mit einer roten Schnapsnase, zu lachen an, zeigte auf Ashman und sagte: "Was ist denn das für ein seltsamer Vogel? Angezogen wie ein Stundengeher."
Kurz nach Mittag lief die "Licht von Holland" aus. In der Mannschaft gab es zahlreiche Neue, und ich erspare uns all die Geschichten, wie sie in wenigen Tagen zu Seeleuten gemacht wurden und was sie dabei von den übrigen, den bestandenen, zu ertragen hatten. Ashman erwarb sich sogleich nicht geringe Achtung, weil er zugriff und sich nirgends drückte.
Der Kapitän hielt strenge Ordnung auf dem Schiff. Es war reinlich, das Essen einfach, aber für jeden genug. Herumsteherei und Geschwätz wurden nicht geduldet. Wer nichts tat, bekam die Knute. Arbeiten, essen, schlafen, etwas anderes gab es nicht. Einzige Ausnahme war das Gebet, das der Kapitän jeden Morgen und jeden Abend vor der versammelten Mannschaft hielt.
Am vierten Tag ließ er Ashman zu sich rufen. "Du bist ein Täufer, nicht wahr? Bist du ein Lehrer unter den Täufern?"
"Ja."
"Dann übernimmst du ab morgen die Gebete."


(Aus "Sturmwarnungen" von Ullrich Knellwolf.)

Zwei berüchtigte Piraten halten um 1730 ganz England in Atem. Ihre tollkühnen Überfälle machen die königliche Admiralität ratlos. Umso schlimmer, dass es sich bei den Seeräubern um alpenländische Landratten handelt, die aus Liebe zu einer Frau die Meere unsicher machen. Ein Freibeuter- und Historienroman, der in einer Zeit spielt, als galante Liebe und Abenteuer untrennbar zusammengehörten. (Nagel & Kimche)
Buch bestellen