Hommage à Sankt Petersburg
Vorwort zur Neuausgabe
Sankt Petersburg feiert
im Jahre 2003 den 300. Jahrestag seiner Gründung nicht nur mit Festen und Feiern,
sondern auf seine, ihm angemessene Weise: mit einem großen Comeback, mit seinem
Wiedereintritt in den Kreis der großen Städte der Welt, aus dem die Stadt an
der Newa für lange Zeit herausgefallen war. Die Welt reibt sich die Augen und
fragt sich, wie es nur hatte kommen können, daß man auch nur für einen Augenblick
diese Stadt hatte aus dem Auge verlieren können. Die Wiederkehr von Städten
ist mehr als nur ein event, den man arrangiert oder auch unterläßt. Dahinter
stehen immer Kräfte anderer Größenordnung, "Elementarkräfte", wie sie der Dichter
Alexander Blok genannt hat. Es kommt dazu, wenn die Kräfte, die sie wieder in
Fahrt bringen, sich gefunden haben. Offensichtlich ist es nun soweit.
Die Wiederkehr Sankt Petersburgs.
Genaugenommen begann das Comeback schon früher und folgte weniger dem Rhythmus
der kalendarischen Zeit der Jubiläen als vielmehr dem der historischen Zeit.
Die Stadt, die in der Sprache der Einheimischen über Generationen hinweg immer
Piter hieß, hatte 1991 ihren ursprünglichen, dem Apostel Petrus, dem Schutzpatron
der Stadt, gewidmeten Namen zurückerhalten. Es war in den bewegenden Augusttagen
des Jahres 1991, als Hunderttausende von Demonstranten über den Nevskij-Prospekt
gezogen waren und sich auf dem Schloßplatz zwischen Eremitage und Generalstabsgebäude
versammelt hatten, um gegen den Moskauer Putsch zu protestieren und ihre Solidarität
mit der Stadtregierung zum Ausdruck zu bringen, als sich abzeichnete, daß die
Stadt ihren alten Namen wiederannehmen würde. Die Stadt war zwar schon nach
dem Tode Lenins im Jahre 1924 in Leningrad umbenannt worden, aber in Wahrheit
war sie zu Leningrad erst in den 900 Tagen des heldenhaften Widerstands gegen
die deutsche Belagerung geworden. Sie hatte sich ihren neuen Namen mit unvorstellbaren
Opfern erworben. Nun aber konnte es keinen glücklicheren Moment für die Wiederzueignung
des alten Namens geben als diese Manifestation bürgerschaftlicher Verantwortung.
Das Jahrzehnt danach war für die zweitgrößte Stadt der ehemaligen Sowjetunion
voll von dramatischen Veränderungen und Überraschungen. Die Stadt, in Sowjetzeiten
eine Hochburg des militärisch-industriellen Komplexes, von der Außenwelt isoliert
und immer zurückgesetzt gegenüber Moskau, tat und tut sich mit den gravierenden
Veränderungen besonders schwer. Petersburg, gegründet als "Fenster nach Europa",
mußte nach so vielen Jahrzehnten im Schatten des Eisernen Vorhangs überhaupt
erst wieder lernen, mit der Öffnung zur Welt hin zu leben. Fast dreihundert
Jahre nach der Stadtgründung mußte, so schien es, Sankt Petersburg noch einmal
neu erfunden werden. Dieses Buch, das 1988 zum ersten Mal erschien, hat das
Heraustreten der Stadt aus dem langen Schatten der Sowjetgeschichte vorweggenommen.
Es sollte Petersburg, wie es damals im Titel hieß, "Jenseits des Großen Oktober"
zeigen. Wenn auch noch niemand Mitte der 80er Jahre sich vorstellen konnte,
daß das
Ende der Sowjetunion fast unmittelbar bevorstand, so war doch zu spüren,
daß etwas Großes im Gange war. Die sowjetische Spätzeit war eine gute Zeit für
Erkenntnis. Irgendwie waren die ideologischen Schlachten geschlagen, die Leidenschaft
des Pro und Contra hatte sich erschöpft, fast alles war gesagt, und man wartete
nur darauf, daß etwas anderes begann. Die Eule der Minerva hatte ihren Flug
im Abendlicht des realen Sozialismus längst begonnen. Etwas anderes wurde sichtbar:
eine große, dramatische Zeit, in der das moderne Rußland Gestalt angenommen
hatte und verschwunden war, noch bevor es sich hatte festigen können. Ein anderes
Rußland war sichtbar geworden, und es kam nun darauf an, es zu entdecken, freizulegen
und sich neu anzueignen.
Neu sehen lernen. Zeitgenossenschaft lehrt neu sehen - auch Historiker. Sie
ist ein zweischneidiges Privileg. Oft geht sie einher mit Augenzeugenschaft.
Sie taucht die Vergangenheit in ein neues Licht und schärft die Sinne. Geschichten,
die noch nie erzählt worden sind, werden endlich erzählt, und solche, die schon
oft gehört worden sind, bekommen mit einemmal eine andere Wendung. Die Aufkündigung
des alten Zustandes bringt alles, was fix und fertig war, in Fluß. Die lebendige
Stadt wird zum Ort, an dem sich der historische Sinn schult. Es geht um Spuren,
neue Verknüpfungen, Farben, Nuancen. Bestimmte Formen der Darstellung kommen
nicht mehr in Frage, weil sie der Komplexität nicht länger angemessen und allzu
simpel sind. Einer Stadt, in der die Zeit angehalten war, zuzusehen, wie sie
wieder in Bewegung kommt, ist ein unschätzbares Privileg, das Historikern nicht
oft im Leben zuteil wird. Was wir ansonsten nur aus Lektüren und Archivalien
erfahren, wird zum unmittelbaren Erlebnis. Wir sehen zu, wie aus Vergangenheit
Geschichte wird und aus Mythen Historie. Was wir uns sonst mühsam imaginieren
müssen, wird in einem dramatischen Augenblick zu einem Schauspiel auf offener
Bühne. Leningrad/Sankt Petersburg war mit einemmal nicht mehr das Museum des
Fin de siècle oder der Russischen Revolution, sondern eine Arena, in der es
auf etwas ankam, in der etwas entschieden wurde. Das taucht auch die Vergangenheit
der Stadt in ein neues Licht. Das bringt eine Veränderung der Perspektive. Wir
verstehen mit einem Male etwas von der Wildheit der Geschichte, in der andere,
die Helden unserer Erzählungen, Kopf und Kragen riskiert haben. Die Stadt, deren
verzweifelt-kraftvoller Neubildung wir zusehen, hört auf, bloß eine Veranstaltung,
ein Diskurs oder ein Projekt zu sein. Wir spüren etwas vom Kräftemessen, vom
survival of the fittest, von der Zerbrechlichkeit der Institutionen des zivilen
Lebens. Wer Geschichte im Rohzustand, im Zustand ihrer Verfertigung zugesehen
hat - und es gab viele solcher Situationen in der Auflösung der Sowjetunion
-, hat einen Anschauungsunterricht erhalten, der durch nichts ersetzt werden
kann. Was es bedeutet für eine Stadt, wieder ein "Fenster nach Europa" zu sein,
kann vermutlich nur derjenige ermessen, der den Zustand der geschlossenen Stadt
gekannt hat.
Zäsur und Zwischenzeit. Dieses Buch verläßt die Fixierung auf das Epochenjahr
1917 und nimmt eine andere Blickrichtung ein. Es geht dabei nicht um die willkürliche
Festsetzung irgendwelcher neuer "Eckdaten" oder darum, zu bestreiten, daß
das
Jahr 1917 wirklich eine Zäsur darstellt. Das hier angegebene Jahrzehnt fungiert
als Brennglas, unter dem die Prozesse, Abläufe, Ereignisse sichtbar werden sollen.
Binnen eines Jahrzehnts hat Petersburg/Petrograd fast alles ausgekostet, was
einer Stadt im 20. Jahrhundert widerfahren konnte: ökonomischer Boom und ungeahnte
kulturelle Blüte, Krise und Krieg, Revolution und Bürgerkrieg, Zerfall jahrhundertealter
Autorität und Etablierung einer ganz neuen, von allen Hemmungen befreiten Diktatur,
Hungersnot, Epidemien, aber auch Leidenschaften und Enthusiasmus. In dem kurzen
Zeitraum entfaltet sich und explodiert, was eine lange Inkubationszeit hinter
sich hat, und es zeigt sich in ersten Umrissen, was wenig später geschichtsmächtig
und fast ein ganzes Jahrhundert hindurch prägend werden wird. Die Fixierung
auf das Jahr 1917 suggeriert so etwas wie eine Stunde Null, einen Hiatus, ein
Davor und Danach, von dem in den geschichtlichen Abläufen, in denen alles mit
allem verknüpft und miteinander verwachsen ist, nicht mehr die Rede sein kann.
Die Fixierung auf die Epochenzäsur gehört zu jenen Simplifikationen, mit denen
wir - notgedrungen - das Chaos der Geschichte zu ordnen pflegen. Die Zeit zwischen
1909 und 1921 ist eine Zeit der Wirren, eine Sequenz von Erschütterungen, eine
wahrhaftige Übergangszeit, an deren Ende ein "verändertes Rußland" stehen wird.
Es ist ein Jahrzehnt, in dem sich die Zeiten überlagern: Ende und Anfang, Nicht-mehr
und Noch-nicht, Zerfall und Neubildung. Unter den Extrembedingungen dieser Übergangszeit
treten die handelnden Personen, ihre Charaktere, Ambitionen und Beschränkungen
nur um so deutlicher hervor.
Petersburg als Geschichtsort. Petersburg ist nicht bloß ein Name oder ein Symbol,
unter dem sich eine Geschichte vom Untergang des Russischen Kaiserreiches und
der Geburt Sowjetrußlands bequem erzählen läßt. Das wäre bloßer Namensschwindel
und rhetorischer Trick, um ein wenig mehr Anschaulichkeit und "lokales Kolorit"
zu gewinnen. Petersburg/Petrograd ist in einem strengen Sinn: Schauplatz, Handlungsort,
Tatort. (...)
aus "Petersburg.
Das Laboratorium der Moderne 1909-1921" von Karl Schlögel
Paris,
Wien,
Berlin: Diese
drei Städte stehen gewöhnlich für die Geburt der Moderne in Europa. Doch es
fehlt eine vierte Stadt: St. Petersburg. Auch dort war zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts alles in Bewegung: Utopisten entwarfen ein neues Russland, Künstler
suchten nach einem neuen Ausdruck für die Zeit und Bankiers und Industrielle
verknüpften Sankt Petersburg mit der europäischen Ökonomie. Doch Krieg und Revolution
setzten dem Aufbruch ein jähes Ende. Karl Schlögels Darstellung dieser Epoche,
schon jetzt ein Klassiker der Kulturgeschichte, erscheint nun in einer aktualisierten
Neuauflage. (Hanser)
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