Kindheit am Fels
1949 - 1969

So lange ich mich zurückerinnern kann, war ich Felskletterer. Dabei kletterte ich nicht nur an den Wänden der heimatlichen Geislerspitzen, an haushohen Felsklötzen am Waldrand, an Ruinenfassaden und in der Schulpause an der Friedhofsmauer. Vor allem kletterte ich in meiner Phantasie. Im Geiste meinem Können immer ein wenig voraus, stieg ich durch immer steilere Felswände - bis mir kein Weg in der Vertikalen mehr unmöglich erschien. Zuletzt gelangen mir Erstbegehungen in Serie - an den höchsten Wänden der Dolomiten, am Eiger, Kilimandscharo und Aconcagua.
Ich ging auch zur Schule, und daheim half ich, wie alle Geschwister, beim Aufbau des Hühnerhofs, der es unseren Eltern erlaubte, neun Kinder großzuziehen. Mein Vater war Dorfschullehrer und auch mein erster Lehrmeister im Fels, mit zehn oder zwölf aber kletterte ich ihm davon und mit meinem jüngeren Bruder Günther bald in ein Reich, das nur noch uns gehörte.
In den letzten Jahren meiner Schulzeit schon habe ich bemerkt, daß mein Weg zum Wissen nicht über Bibliotheken und Professoren, über Universitäten und Studien führen konnte. Mein Weg war das Leben und das Erleben der Realität. Ich konnte vieles lernen, Erfahrungen aus zweiter Hand übernehmen - nichts aber sollte meine Erlebnisse in der Wildnis übertreffen. All mein Wissen über soziale, naturwissenschaftliche, religiöse Zusammenhänge beruhen auf Erfahrungen, die ich selbst gemacht habe.
Das ist einer der Gründe, warum ich mich später immer wieder dazu zwang, die nächste Expedition auf die Beine zu stellen, eine neue Reise zu wagen. Wie oft habe ich mir unterwegs gesagt: Es ist genug! Trotzdem, Wochen später, wenn die Anstrengungen, die Sorgen, die Schinderei vergessen waren, begann ich von einer neuen Herausforderung zu träumen, eine neue Klettertour zu planen. Bald war ich wieder unterwegs. Und es war wieder gefährlich. Ich wollte nie Kopf und Kragen riskieren! Ich wußte aber: Würde ich eines Tages nicht mehr träumen, nicht mehr reisen können, ich würde alt sein und daran verzweifeln.

Es war Mittag, und wir saßen zu viert an der Gratschneide der Secéda in den Geislerspitzen, mein Vater, zwei meiner Brüder und ich. Über uns die Kleine Fermeda. Hell in der Sonne sah ihre Südwand steil aus, aber gegliedert, die Aufstiegsroute logisch. Wie Wattebäuschchen hingen ein paar Haufenwolken über den südöstlichen Dolomiten, deren Gipfel über die Puezhochfläche herausragten. Das Wetter also blieb gut.
Es war nicht alleine Neugier oder Übermut, die mich immerzu zwangen, die Wand über uns zu betrachten, es war mehr. Vielleicht kann man es mit Maßnehmenwollen bezeichnen. Weil mein Vater nichts dagegen hatte, ging ich los, allein und ohne Seil. Über ein Felsband lief ich ein Stück weit abwärts, dann kletterte ich schräg nach rechts oben. Der Fels, rauh und ziemlich glatt, war zuerst nicht besonders steil, unter mir aber brach die Wand senkrecht ab. Ich sah nicht nach unten, sondern auf die Wand vor mir, an der ich Griff für Griff, Tritt für Tritt höherstieg. Genau das wollte ich tun: klettern, ohne mich umzusehen, meinem Instinkt folgen, selbst den Weg finden. Darauf war ich stolz. Inzwischen hatte ich die Schlüsselstelle erreicht und sah mir die senkrechte Wand über mir genau an. Nachdem ich eine Griff- und Trittfolge ausgespäht hatte, kletterte ich los. Alles war vergessen, ich war ganz Griff und Tritt und Bewegung, selbstvergessen. Vielleicht habe ich einmal kurz gezögert und dabei an den Füßen vorbei in den Abgrund geschaut, der sich 300 Meter tiefer im Grün der Almwiesen verlor. Nach ein paar Metern war die Kletterei wieder leichter, und wenig später stand ich vorsichtig am Südgipfel, kletterte über brüchigen Fels hinüber zum Hauptgipfel und schaute nach Norden hinab auf die Gschmagenhart-Alm, wo wir am Morgen zu unserer Tour aufgebrochen waren. Im Süden sah ich all die berühmten Dolomitengipfel vor mir, vom Langkofel bis zum Saß Songher, dahinter Marmolada, Monte Pelmo und Civetta.
Das Klettern war für mich mehr als Sport. Gefahr und Schwierigkeiten gehörten dazu, ausgesetzt sein und Abenteuer. Eine große Wand zu klettern bedeutete, sich ganz auszuliefern, einem Geheimnis zu folgen, ein paar Tage lang ganz auf sich selbst zurückgeworfen zu sein.
Klettern hat mit Freiraum zu tun, mit der Freiheit, außerhalb aller Regeln etwas zu wagen, erleben zu können, Erkenntnisse über die Menschennatur zu schöpfen. Dabei gibt es immer mehr als nur eine Antwort auf eine Frage, mehr als eine Geschichte zu einer Erfahrung. Für mich ist Phantasie beim Klettern wichtiger als Muskeln oder Todesverachtung. Sie ist wertvoller als Technologie, die Entwicklung der Menschen wichtiger als Hakenleitern allerorten. Unsere Schätze sind in Bildern zu finden, nicht in abgesicherten Kletterstrecken. Also gilt es, die Vielfalt der Möglichkeiten zu sichern und nicht jeden Meter Fels.

H Sie sind aufgewachsen in Villnöß, einem bis heute eher unberührten Tal in Südtirol am Fuß der Geißlerspitzen. Wer stand in der Hierarchie dieses unberührten Kosmos ganz oben - Gott?
M Nein, das mächtigste Wesen am Ort war der größte Bauer. Dann gab es noch den Pfarrer, einen altehrwürdigen Herrn, den wir alle respektierten. Mein Vater war der Oberlehrer und zugleich Schulleiter im Tal.
H Warum betrieb Ihr Vater nebenbei noch eine Kaninchenzucht?
M Wir waren neun Kinder, und mein Vater brauchte ein zweites Einkommen. Meine Mutter hat die Kaninchen geschoren und die Angorawolle verkauft. Ein paar haben wir auch geschlachtet, aber vor allem waren die fünfzig, sechzig Kaninchen für uns Wolle, Angorawolle - sehr wertvolle Wolle.
H
Dazu hatten Sie bald eine Hühnerfarm.
M Hühner hatten wir zuletzt Tausende. Wir haben Küken und Junghennen in ganz Südtirol geliefert. Jedes von uns Kindern mußte mitarbeiten. Mit sechs Jahren habe ich angefangen im Hühnerstall.
H Wie viele Stunden mußten Sie da arbeiten?
M Im Sommer sechs, sieben, acht Stunden.
H Am Tag?
M Ja. Mit dem Lehrergehalt allein hätte es mein Vater nicht geschafft, uns durchzubringen. Außerdem hatte er bei der Arbeit, die er uns aufhalste, zwei Hintergedanken. Erstens wollte er, daß wir Lehrerkinder nicht einen privilegierten Stand haben im Tal. Alle Kinder im Tal mußten arbeiten. Nur herumtollen und spielen und es sich leisten können, nichts zu tun, galt als unmoralisch. Bauernkinder mußten in den Stall gehen, hüten, Getreide schneiden und Heu ziehen. Wir mußten also auch anpacken. Am Hühnerhof. Zweitens: Er hat uns damit weggehabt von der Straße, weg von irgendwelchen möglichen Lastern.
H In dem Fußballfilm "Das Wunder von Bern" wird ein Kaninchen geschlachtet für den Sonntagsbraten. Als der Junge das herausbekommt, bricht er zusammen. Hatten Sie ein ähnliches Verhältnis zu Tieren, oder sahen Sie in denen nur einen Nutzwert?
M Ich habe als Kind mit zehn Jahren an Samstagen bis zu fünfzig Hühner selbst geschlachtet und gerupft. Die Mutter der Frau Degani vom Hotel Kabis hatte auch Hühner, und sie hat uns geholt, wenn sie für ihre Gäste Huhn machte. "Buben", hat sie gesagt, "helft mir beim Hühnerrupfen." Schlachten und rupfen, das haben wir gemacht wie Schulaufgaben. Auch beim Pfarrer.
H Wie schlachtet man ein Huhn? Kopf abhacken?
M Wir hatten unsere eigene Methode. Vater hat es uns beigebracht. Das Huhn kriegt mit einer großen Schere, einer Schneiderschere, einen Schlag auf die Schläfe. Exakt über dem rechten Auge. Dann ist es bewußtlos. Alles ganz einfach. Zuerst nimmt man das Huhn - ich kann das heute noch, so wie ich einen Bleistift zur Hand nehme - fest unter den linken Arm geklemmt, damit es nicht zappeln kann. Nein, das Huhn hat keine Angst, alles ist ganz normal, ich tu’ dem Huhn ja nichts. Ich nehme den Kopf in die Hand, und zwischen zwei Fingern schlage ich mit der großen Schere fest auf die Schläfe. Für Momente ist das Huhn also ohnmächtig. Es spürt gar nichts. Dann öffne ich den Schnabel mit den beiden Fingern und schneide im Gaumen die beiden Schlagadern durch. Mit einem Schnitt, denn ich spüre genau, wo der weiche Teil im Gaumen ist. Das Huhn blutet vollkommen aus. Alles Blut rinnt nach unten aus, ohne viel Gezappel. Das Huhn ist immer noch betäubt. Das Huhn rührt sich zuletzt ein bißchen, schüttelt sich, und dann ist es vorbei. Aber wenn man einem Huhn den Kopf mit einem Beil abschlägt, springt es ohne Kopf herum.
H Für solche Methoden haben Sie nur Verachtung übrig?
M Ja, denn es ist unprofessionell, ja fürchterlich. Ich kann nicht zusehen dabei. Weil es nicht gekonnt ist.
H Anscheinend waren Sie schon damals Perfektionist. Wie lange brauchten Sie, um ein Huhn zu rupfen?
M Wenn das Huhn noch warm ist, zehn bis fünfzehn Minuten. Ich weiß genau, an welcher Stelle ich aufpassen muß, damit die Haut nicht reißt. Allerdings bin ich nicht alle Tage gleich schnell.


(Aus "Reinhold Messner - Mein Leben am Limit - Eine Autobiografie in Gesprächen mit Thomas Hüetlin".)

Reinhold Messners Leben, seine Erfolge, seine Familie und seine Philosophie - kritisch und offen stellt Thomas Hüetlin die entscheidenden Fragen zu einem "Leben am Limit".
"Die Welt war nicht größer als dieses Tal. Man ging auf die Almen, um Heu zu holen. Weiter ging man nicht." - Reinhold Messner ist von Anfang an weitergegangen als die Anderen, hat Tabus gebrochen. Früh ließ er das enge Tal seiner Südtiroler Kindheit hinter sich, bezwang als erster den Mount Everest ohne Sauerstoffmaske, bestieg alle vierzehn Achttausender und entwickelte nebenbei neuartige wasserfeste Bergstiefel. Später durchquerte er zu Fuß die größten Eiswüsten der Erde: "Ich gehe freiwillig in die Hölle", sagte der EU-Parlamentarier lapidar und treibt in Eigenregie sein ehrgeiziges Bergmuseumsprojekt voran. Was aber beflügelt diesen Erfolgsmenschen? Woher schöpft er die Kraft und die Fantasie, sich immer wieder neu zu erfinden? Reinhold Messner gibt Antworten auf diese Fragen. Und spricht über seine Heimat, seine Frau und seine Kinder, über Freundschaft und Egoismus, über bürgerliche Moral und über seinen Instinkt, immer das Richtige zu tun. (Malik)
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