(...) O Prag, du tolle, du feierliche Stadt, du Stadt der Märtyrer, der Musikanten und der schönen Mädchen, o Prag, welch ein Stück meiner freien Seele hast du mir genommen!
Sie sagen, wenn die tschechische Mutter ihr Kind geboren habe, so lege sie es auf das Dach: halte es sich fest, so werde es ein Dieb, rolle es herunter, so werde es ein Musikant. Wäre dieses Wort einem deutschen Kopfe entsprungen, so würde es viel böhmisches Gebrumm darum geben, da es aber ein panslavistisches Diktum ist, so muß man es nehmen, wie es sich gibt. Und nun gab es in der alten wundervollen Stadt Prag, als ich dort die Medizin studierte, solch ein Kind - es war freilich von einer böhmisch-jüdischen Mutter geboren -, welches nicht von dem Dache gerollt war, sondern sich recht fest gehalten hatte, welches also von Rechts wegen stehlen durfte und mußte. Mein Herz nahm es mir, und doch liebte ich es nicht, und eine traurige Geschichte ward daraus.
Damals war es fast noch schwerer als heute, den berühmten Kirchhof der Juden zu finden, wenn man fremd in der Stadt war. Man tat und tut am besten, nach dem Wege zu fragen und sich führen zu lassen, und so fragte auch ich am Tage nach meiner Ankunft, nachdem ich, vom großen Ring kommend, aus der Geiststraße mich in das namenlose Gewirr von Gassen und Gäßlein verloren hatte, welches um den »guten Ort« liegt.
Da es mein Grundsatz ist, mich bei Verlegenheiten in fremder Umgebung an das angenehmste Gesicht zu wenden, so sah ich mich auch jetzt nach demselben um, geriet aber aus einer Verlegenheit in die andere: das Volk, welches mir begegnete, war durchgängig häßlich wie die Nacht. Hätte ich mich an die abschreckendste Physiognomie wenden wollen, so würde ich eher zu einem Resultat gelangt sein. Endlich erblickte ich aber, was ich suchte.
Es hing ein alter Frauenanzug vor einer dunkeln Haustür, und an dem Türpfosten lehnte träge, doch nicht unzierlich, ein fünfzehnjähriges Mädchen. Sie hielt die Arme und Hände auf dem Rücken verborgen und sah mich an. Ich sah sie wieder an und beschloß, meine Frage vorzubringen. Ein Gesicht aus den vornehmen Ständen hatte ich freilich nicht vor mir, und ehe mir Antwort ward, kam eine kleine braune Hand hinter dem Rücken des Kindes hervor, fuhr mir geöffnet mit unverkennbarem Verlangen entgegen, und ich konnte nicht umhin sechs Kreuzer hineinzulegen.
»Nach unseren alten Kirchhof? Nun, ich will hinbringen den Herrn.«
Herab von den drei schmutzigen Stufen sprang die schmächtige Gestalt, glitt mir voran, ohne sich umzusehen, und führte mich kreuz und quer durch die abscheulichsten Winkel, Gassen und Durchgänge, wo mir von allen Seiten mehr oder weniger vorteilhafte Handelsanträge in betreff meines schwarzen altdeutschen Sammetrockes gemacht wurden. Ich hielt mich nicht damit auf, diese Anerbietungen abzulehnen, sondern achtete nur auf das zierliche Irrlicht, welches mich durch diese seltsamen Regionen leitete und endlich neckisch schadenfroh mich verleitete.
Wir kamen in eine enge Sackgasse, dann rechts ab zwischen zwei hohe Steinmauern, an deren Ende eine unheimliche Rundbogentür in einen unheimlichen dunkeln Gang führte. An dieser Pforte stand meine leichtfüßige Führerin still, wies in die Finsternis hinein und sagte unübertrefflich treuherzig:
»Klopfen Sie dort an.«
Obgleich ich eigentlich durchaus nicht wußte, wo ich anklopfen sollte, so tappte ich doch auf gut Glück den Gang entlang, bis ich gegen eine andere schwarze, feuchte Tür stolperte. Ich klopfte und vernahm drinnen ein Ächzen, Stöhnen und dann ein Schlürfen. Dann öffnete sich die Pforte, und ich stand entsetzt vor einer unappetitlichen alten Hexe, welche mich auf tschechisch ankreischte. Drei andere ähnliche Zauberschwestern krochen an Krücken langsam herzu und schnarrten mir ebenfalls Unverständliches entgegen. Höchst verblüfft sah ich mich in dem halbdunkeln, weiten, niedern Raume um. Sechs Betten standen darin, und aus zwei derselben richteten sich zwei entsetzliche Gespenster auf und starrten mich an wie die unglückseligen Geschöpfe, welchen Gulliver auf seinen Reisen begegnete, diese Wesen, welche mit einem schwarzen Fleck vor der Stirn geboren werden und nicht sterben können. Ich hatte die Frechheit, meine Frage nach dem Judenkirchhof zu wiederholen, obgleich mir eine Ahnung sagte, daß ich an der Nase geführt und daß diese Frage an diesem Orte sehr unstatthaft sei. Und richtig - im nächsten Augenblicke befand ich mich wieder in dem vorhin geschilderten dunkeln Gange, froh, mit gesunden, unausgekratzten Augen davongekommen zu sein. Drinnen erschallte ein höllisches Gezeter: der Schalk, mein Irrlicht, mein allerliebstes Judenkind hatte mich für meine sechs Kreuzer in ein Spital für sechs christliche alte Weiber geführt, statt zu dem ehrwürdigen Israeliten, welcher den Schlüssel zu dem Beth-Chaim in Verwahrsam hat.
Ein helles Gelächter erweckte mich aus meiner ärgerlichen Erstarrung; draußen in die Winkelgasse schien die Sonne, und im Sonnenschein am Ende des dunkeln Ganges tanzte auch eine Hexe; aber diese Hexe war jung und reizend und
»'s isch ke liebliger G'schöpf aß so ne Hexli, wo jung isch.«
In dem Sonnenschein tanzte sie und drehte mir eine lange Nase, und ich drohte ihr mit der Faust: »Wart, Hexe, Verführerin, kleine Prager Teufelin!«
Sie aber deutete mit dem Finger auf den Mund und rief mir spöttisch zu:
»Strc prst skrz krk!«
welche melodischen, durch Vokalreichtum sich auszeichnenden Worte im rauhen Deutsch ungefähr bedeuten: »Stecke den Finger durch den Hals.« Dann verschwand der Kobold, und ich mochte nach Belieben über den tiefen Sinn dieser Worte nachsinnen, tat es aber nicht und fragte auch nach solcher üblen Erfahrung niemand mehr um den Weg nach dem Judenkirchhof, sondern fing an, ihn mit germanischer Ausdauer selbst zu suchen. Meinen eigenen Sternen vertraute ich, und sie ließen mich auch nicht im Stich und führten mich endlich durch das schmutzigste Labyrinth, welches die menschliche Phantasie sich vorstellen kann, zu der Pforte, welche in das schauerliche, oft beschriebene Reich des tausendjährigen Staubes führt.
Ich sah die unzähligen aneinandergeschichteten Steintafeln und die uralten Holunder, welche ihre knorrigen Äste drumschlingen und drüberbreiten. Ich wandelte in den engen Gängen und sah die Krüge von Levi, die Hände Aarons und die Trauben Israels. Zum Zeichen meiner Achtung legte ich, wie die andern, ein Steinchen auf das Grab des Hohen Rabbi Jehuda Löw bar Bezalel. Dann saß ich nieder auf einem schwarzen Steine aus dem vierzehnten Jahrhundert, und der Schauer des Ortes kam in vollstem Maße über mich.
Seit tausend Jahren hatten sie hier die Toten des Volkes Gottes zusammengedrängt, wie sie die Lebenden eingeschlossen hatten in die engen Mauern des Ghetto. Die Sonne schien wohl, und es war Frühling, und von Zeit zu Zeit bewegte ein frischer Windhauch die Holunderzweige und -blüten, daß sie leise über den Gräbern rauschten und die Luft mit süßem Duft füllten; aber das Atmen wurde mir doch immer schwerer, und sie nennen diesen Ort Beth-Chaim, das Haus des Lebens?!
Aus dem schwarzen, feuchten, modrigen Boden, der so viele arggeplagte, mißhandelte, verachtete, angstgeschlagene Generationen lebendiger Wesen verschlungen hatte, in welchem Leben auf Leben versunken war wie in einem grundlosen, gefräßigen Sumpf, - aus diesem Boden stieg ein Hauch der Verwesung auf, erstickender als von einer unbeerdigten Walstatt, gespenstisch genug, um allen Sonnenglanz und allen Frühlingshauch und allen Blütenduft zunichte zu machen.
Ich habe schon erzählt, daß ich in dieser Zeit meines Lebens ein toller, wilder Geselle war; aber das Gefühl, welches mich an dieser Stelle erfaßte, enthielt die Bürgschaft dafür, daß ich noch ernst genug werden könne.
Immer tiefer sank mir die Stirn herab, als ich plötzlich dicht neben mir - über mir ein kindlich helles Lachen hörte, welches ich schon einmal vernommen hatte. Dieses Mal erschreckte es mich fast, und als ich schnell aufsah, erblickte ich ein liebliches Bild.
In dem Gezweig eines der niedern Holunderbüsche, die, wie schon gesagt, das ganze Totenfeld überziehen, - mitten in den Blüten, auf einem der wunderlichen knorrigen Äste, welche die Pracht und Kraft des Frühlings so reich mit Grün und Blumen umwunden hatte, saß das neckische Kind, welches mir vorhin so schlecht den Weg hierher gewiesen hatte, und schelmisch lächelte es herab auf den deutschen Studenten. (...)


(aus "Holunderblüte. Eine Erinnerung an das Prager Ghetto" von Wilhelm Raabe; 1831-1910)
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