Quittenschnaps
(Weikersheim)
Die Justizvollzugsanstalt Straubing feierte ihr hundertjähriges Bestehen. Eine
umfangreiche Ausstellung im Keller der Stadtbibliothek zeigte die beeindruckende
Entwicklung, wie aus einem primitiven Zuchthaus
ein moderner bayerischer Strafvollzug wurde. Zur Eröffnung der Ausstellung sollten
der bayerische Justizminister sowie alle noch lebenden ehemaligen Mitarbeiter
des Knasts eingeladen werden. Ich sehe mir zu Hause oft neue Horrorfilme auf
Video an und wäre gerne zu dieser Veranstaltung gegangen, konnte aber nicht:
Ich musste weiter nach Weikersheim fahren.
Im Straubinger
Hotel hatte ich mehrmals versucht, ein Weikersheim auf der Karte zu finden.
Vergeblich. Wahrscheinlich war meine Karte zu ungenau und Weikersheim zu klein,
oder ich zu ungebildet und ungeduldig. Am Bahnhof fragte ich die
Fahrkartenverkäuferin nach einer günstigen Zugverbindung und war überrascht von
dem vielfältigen Angebot: Ich konnte nach Weikersheim über Platting, über
Nürnberg und Crailsheim fahren, aber auch über Regensburg, Würzburg, Elpersheim
und Lauda. Alle diese Städte waren mir unbekannt, ihre Namen klangen für mich
wie die Namen verschiedener Käsesorten, zum Sonderpreis in einer Tüte
zusammengepackt. Also fuhr ich einfach los - mit dem Regionalexpress durch die
süddeutsche Pampa.
Draußen hatte es mindestens dreißig Grad, die Sonne
knallte durch die Fenster, keine einzige Wolke weit und breit. Am Crailsheimer
Bahnhof im Busch verkaufte ein alter Indianer Pommes mit Ketchup und Coca-Cola.
Nach und nach verließen alle Einheimischen den Zug, bis ich allein im Waggon
blieb und unruhig wurde. Die Abstände zwischen den Stationen wurden immer
kürzer, die Ansagen immer undeutlicher. Alle zwei Minuten hielt der Zug an
irgendeinem kleinen, manchmal überhaupt nicht erkennbaren Bahnhof. Ich steckte
den Kopf aus dem Fenster und suchte vergeblich nach einem Schild mit dem Namen
des Städtchens. Der Lokomotivführer sagte zwar die Stationen durch die
Lautsprechanlage an, trotzdem verlor ich die Orientierung. Entweder sprach er
einen mir nicht zugänglichen Dialekt, oder er kaute jedes Mal an einer
Maultasche - ich konnte jedenfalls kein Wort verstehen. Alles aus seinem Munde
klang wie "Schuschihein" für mich. Laut Fahrplan sollten wir Weikersheim schon
längst erreicht haben. Es hätte aber sein können, dass wir zu spät bzw. zu früh
dran waren. Nach drei weiteren "Schuschihein" beschloss ich, einfach
auszusteigen. Der Zug fuhr immer schneller, er hielt jetzt nur noch für Sekunden
und raste sofort weiter - von einem "Schuschihein" zum nächsten. Die
Wahrscheinlichkeit, dass ich im falschem Schuschihein ausstieg, war groß,
trotzdem sprang ich beim nächsten Halt raus. Und tatsächlich war ich eine
Station zu früh ausgestiegen. Doch Weikersheim war nahe. Ich konnte den Ort
sogar schon sehen.
"Noch zwei, maximal drei Kilometer durchs liebliche Taubertal, immer der Romantischen
Straße entlang, wenn Sie so geradeaus gehen, dann sehen Sie bald das Weikersheimer
Schloss", erklärte mir eine freundliche Einheimische. Ich ging also zu Fuß an
der Romantischen Straße entlang, die eigentlich die Funktion einer Autobahn
hier in der Gegend hatte und deswegen für Spaziergänge völlig ungeeignet war.
Ich versuchte dabei, die Eisenbahngeleise im Auge zu behalten, aber irgendwann
führte die Romantische Straße nach rechts, und die Eisenbahnlinie bog links
ab, und vor mir lag Weikersheim in seiner ganzen Schönheit. Doch ein kleines
und vollkommen unüberbrückbares Flüsschen trennte uns. Ich blieb am Ufer stehen
und fing an, mich selbst zu trösten: Ach, bleib cool, in Deutschland kann man
sich nicht verlaufen. Aber dann drohte ich doch mit der Faust
in
Richtung Schloss. Hier ging es ums Prinzip. Wenn es sein muss, schwimme
ich einfach rüber, dachte ich. Da klingelte plötzlich mein Handy:
"Wo stecken Sie, Herr Kaminer, sind Sie schon in Weikersheim
angekommen? Wir machen uns bereits Sorgen um Sie."
Das war Renate, die lokale
Veranstalterin, die mich nach Weikersheim eingeladen hatte.
"Sie brauchen
sich keine Sorgen zu machen", beruhigte ich sie. "Ich bin zufällig am falschen
Heim ausgestiegen und stehe jetzt hier unten am Fluss. Aber auf der anderen
Seite kann ich Weikersheim bereits ganz deutlich sehen. Leider gibt es hier
keine Brücke, aber das macht nichts, ich rauche schnell meine letzte Zigarette
zu Ende und schwimme zu Ihnen rüber."
"Von welchem Fluss reden Sie eigentlich?", wunderte sich Renate. "Wir haben
hier weit und breit keinen
Fluss.
Meinen Sie vielleicht den Sumpf? Da gehen Sie besser nicht ins Wasser, beschreiben
Sie mir lieber, was Sie sehen, ich komme und hole Sie mit dem Auto ab."
Ich drehte mich um. Beschreiben? Wie sollte man das beschreiben? Ich
stand an einer grünen Wiese vor einem Sumpf, links war die Autobahn, rechts
waren Büsche. Oben knallte die Sonne, unten wuchs Gras.
"Das ist so ziemlich
alles, was ich Ihnen hier beschreiben kann", stotterte ich.
"Alles klar, ich
weiß jetzt, wo Sie sind. Bleiben Sie bitte dort", sagte Renate und legte auf.
Fünf Minuten später saß ich bereits in ihrem Volkswagen.
"Zu Fuß wären Sie
nie bei uns angekommen", lachte sie.
Renate und ihr Mann Norbert, der Leiter
des kleinsten Kulturamts Deutschlands, bewohnten ein altes Steinhaus, in dem
sich früher eine Schnapsbrennerei befand. Um meine Ankunft zu feiern und mich
vom Stress der Anreise zu erholen, holte Renate einige Flaschen selbst
gebrannten Quittenschnaps aus dem Keller. Wir stießen an.
"Die meisten
Bewohner von Weikersheim sind Weinbauern, auch ich. Die Veranstaltungen unseres
Kulturklubs mache ich nebenbei", erzählte mir Renate.
Als sich ihr Großvater
kurz nach Beginn des Krieges in der
Schweiz versteckte, musste ihr Vater, damals
ein vierzehnjähriger Junge, den Weinberg allein bestellen.
Zur Armee wurde er
nicht einberufen, weil er sehr schwach und klein aussah. 1945 kamen die
Amerikaner in das Städtchen und enteigneten als Erstes alle Schnaps- und
Weinvorräte der Bewohner. Selbst gebrannter Schnaps galt als Kriegstrophäe und
durfte nun von den Siegern genossen werden. Niemand leistete Widerstand, nur der
kleine Junge, der Vater von Renate: Er versteckte seinen kompletten Weinjahrgang
im Keller und tat so, als hätte er nicht eine Flasche. Und die Amerikaner
glaubten ihm, weil er eben so klein war und gar nicht nach
Alkohol roch. Sie
tranken alles aus und zogen weiter zum nächsten Schnapsdorf. So blieb der
zukünftige Vater von Renate der Einzige in der Gegend, der noch Wein des
Jahrgangs 1944 besaß. Die Bewohner des Städtchens standen bei ihm Schlange.
Schnaps und Wein zählten dort seit Urzeiten zu den Grundnahrungsmitteln. Als
dann die Währungsreform kam, verkaufte der Vater von Renate seine letzten
Vorräte schnell gegen die neue D-Mark und wurde so zum reichsten Weinbauern der
Stadt. Von diesem Geld baute er sich ein großes Steinhaus, in dem Renates
Familie noch heute lebt.
"Wenn Sie wollen, können Sie auch länger bei uns bleiben", meinte die freundliche
Gastgeberin abends, als wir nach der Lesung im Klub noch auf der Gasse vor ihrem
Haus saßen. Die Sterne waren so groß, der Himmel so nah. Je mehr ich trank,
umso mehr gefiel es mir in Weikersheim: nette Menschen, eine liebliche Landschaft,
eine schöne, aber stabile
Architektur
... Ich war froh, dass die Amerikaner damals den Wein nicht gefunden hatten.
Vielleicht sollte ich einfach hier bleiben. Und in Ruhe einen Quittenschnaps-Roman
schreiben. Dieses Getränk eroberte mein Herz schnell. Wahrscheinlich würde ich
einen solchen Roman nie zu Ende schreiben. Um der Versuchung zu entkommen, verließ
ich gleich am nächsten Tag die freundliche Familie von Renate. Vier lange, dünne
Schnapsflaschen, sorgfältig in Zeitungspapier eingewickelt, lagen in meiner
schwarzen Vorlese-Tasche. Damit hat man vor nichts mehr Angst.
(Aus "Mein deutsches Dschungelbuch" von Wladimir Kaminer.)