(...) Sooft ich an meine Kindheit zurückdenke, legt sich ein Schleier von Gelb über meine Erinnerungen: Die glasierten Dachziegel waren gelb; die Sänfte war gelb; die Sesselkissen waren gelb; das Futter meiner Kleider und Hüte, der Gürtel um meine Hüfte waren gelb; die Schalen und Teller, aus denen ich aß und trank, waren gelb; die Einbände meiner Bücher, die Vorhänge in meinen Zimmern, die Zügel meines Pferdes - es gab nichts um mich, was nicht gelb war. Diese Farbe, das sogenannte »Strahlende Gelb«, war ausschließliches Privileg der Kaiserlichen Familie und flößte mir schon von klein auf das Bewußtsein ein, ich sei etwas Einzigartiges und besäße eine »himmlische« Natur, die mich von allen anderen Menschen unterscheide.
Als ich zehn Jahre alt war, entschieden die Kaisergemahlinnen, daß mich meine leibliche Mutter und meine Großmutter von nun an in regelmäßigen Abständen für einige Tage besuchen und dabei auch zur Gesellschaft meinen Bruder Pu Dschiä und die älteste meiner Schwestern in den Palast mitbringen sollten.
Der erste Besuch verlief
anfangs sehr langweilig: Meine Großmutter setzte sich zu mir auf den Kang und
sah mir zu, wie ich auf einem Tischchen Domino spielte; Bruder und Schwester
standen steif daneben und starrten mich unverwandt an, wie Yamendiener auf Wache.
Schließlich kam ich auf den Gedanken, den Geschwistern meinen Palast des Geistigen
Wachstums zu zeigen, und als wir dort waren, fragte ich Pu Dschiä:
»Was spielt ihr bei euch zu Hause? «
"Pu Dschiä kann Verstecken spielen!« gab mein Bruder, der um ein Jahr jünger
war als ich, ehrerbietig zur Antwort.
»Was? Ihr spielt Verstecken? Das spielen Wir selbst auch so gern!«
Ich war begeistert. Verstecken hatte ich zwar schon oft mit Eunuchen gespielt, aber noch nie mit Kindern, die jünger waren als ich. Wir fingen gleich an, und im Eifer des Spiels verloren meine Geschwister ihre Befangenheit. Später ließen wir noch die Fensterläden herunter, um überall dunkel zu machen. Meine Schwester, die zwei Jahre jünger war als ich, kämpfte nun ständig zwischen Spaß und Angst, und während mein Bruder und ich sie von einem Schrecken in den andern jagten, wurden wir gar nicht gewahr, wie laut wir lachten und herumlärmten. Als wir zu guter Letzt ermattet auf einen Kang kletterten, um etwas zu verschnaufen, bat ich sie, sich ein neues Spiel auszudenken. Pu Dschiä dachte einen Augenblick nach und grinste mich dann wortlos an.
»An was denkst du?
« Er grinste weiter. »So sag doch schon! « drängte ich ungeduldig, da ich glaubte,
er hätte sich bereits ein" neues Spiel ausgedacht. Aber zu meiner Überraschung
platzte er heraus: »Ich dachte..., ouh, Pu Dschiä dachte, daß Eure Majestät
ganz anders wären. Die Kaiser auf der Bühne tragen immer so lange Bärte...«
Bei diesen Worten strich er sich einem imaginären Bart entlang. Das war sein
Verhängnis. Denn als er seine Hand hob, war mein Blick auf das Innenfutter seines
Ärmels gefallen, das von einer mir sehr vertrauten Farbe war.
»Pu Dschiä, was ist das für eine Farbe? Wer hat dir erlaubt, sie zu tragen?«
fragte ich finster.
»Ist.. . das nicht Aprikosengelb?«
»Lügner! Das ist Kaisergelb!«
»Jawohl, Majestät, zu Befehl, Majestät.. .«
Pu Dschiä wich sogleich einen Schritt zurück und nahm Haltung an, während meine
kleine Schwester sich vor Schreck weinend hinter ihm aufstellte. Aber ich hatte
noch nicht zu Ende gesprochen:
»Das ist, strahlendes Gelb«, du hast kein Recht, diese Farbe zu tragen!«
»Zu Befehl, Majestät.«
Damit war mein Bruder wieder zum Untertan des Kaisers geworden. Der Klang des
»Zu Befehl, Majestät« ist schon lange verhallt, und wenn ich heute daran denke,
kommen mir diese drei Worte lächerlich vor. Aber damals war ich von klein auf
daran gewöhnt und hätte nie zugelassen, daß mir anders geantwortet wurde. Das
gleiche galt auch für Verbeugungen und Kotau. Seit meiner Kindheit kannte ich
es nicht anders, als daß Menschen vor mir niederknieten, um mir mit Kotau zu
huldigen. Personen, die gut ein dutzendmal älter waren als ich, Würdenträger
der Tsching Dynastie, Familienältere, ja, selbst in Hoftracht oder westliche
Anzüge gekleidete Beamte der Republik bezeugten mir stets auf diese Art ihren
Respekt.
Auch eine andere Eigentümlichkeit meines Lebens war mir zu jener Zeit schon selbstverständlich geworden: der riesige Aufwand, der am Hof tagtäglich betrieben wurde.
Es gibt heutzutage junge Leser, die die Schilderungen aus dem »Traum der roten Kammer« für unglaubwürdig halten. Sie können nicht begreifen, warum Gestalten wie die ›Alte Ahne‹ oder ›Frau Phönix‹ nie einen Schritt tun sollten, ohne daß ihnen ein Schwarm von Zofen und Bediensteten nachfolgte. Dabei ist der in diesem Buch geschilderte Pomp noch bescheiden, wenn man ihn mit dem vergleicht, was im Kaiserpalast selbst üblich war.
Jeden Morgen, wenn ich zum Unterricht getragen wurde oder den Kaisergemahlinnen meine Aufwartung machte, heftete sich ein langer Schweif von Menschen an meine Fersen. Verließ ich die Verbotene Stadt für einen Ausflug in den Sommerpalast, folgte mir nicht nur unweigerlich eine lange Kolonne von Fahrzeugen, auch die Polizei Behörden der Republik waren jedesmal vorher ersucht worden, entlang der gesamten Reiseroute Posten zu meinem Schutz aufzustellen. Eine einzige solche Spazierfahrt dürfte einige tausend Silberdollar verschlungen haben.
Wenn ich die Kaiserlichen Gärten zum Spielen aufsuchte, reihte sich eine Riesenprozession auf: An der Spitze schritt ein Eunuche der Internen Palastverwaltung, der die Funktion einer Autohupe wahrnahm - er zischte unaufhörlich »Tschh!... tschh!.. .«, um jede Person in der Nähe zu warnen; zwanzig bis dreißig Schritte dahinter folgten zwei Generaleunuchen, die querbeinig auf beiden Seiten des Wegs einherwatschelten; und mit weiteren zehn Schritten Rückstand kam dann das Hauptstück der Prozession - ich selbst oder die Kaiserinwitwe in meiner Begleitung. Wurde ich in der Sänfte getragen, schritten zwei Jungeunuchen links und rechts neben mir, um meiner Wünsche gewärtig zu sein. Ging ich zu Fuß, griffen sie mir unter die Arme, um mich zu stützen. Hinter mir folgte ein Eunuche, der einen großen seidenen Baldachin balancierte, und wieder dahinter schloß sich eine große Schar von weiteren Eunuchen an, von denen ein Teil gar nichts, die anderen aber alle möglichen Arten von Utensilien mit sich trugen: einen Stuhl zur Rast, Kleider zum Wechseln, Regenschirme, Sonnenschirme. Nach diesen Kammereunuchen der Kaiserlichen Präsenz kamen die Eunuchen des Kaiserlichen Teebüros, die in einer Sammlung von Schachteln und Behältnissen tausenderlei Arten von Gebäck, kleinen Erfrischungen und Delikatessen und zahllose Teesorten nebst großen Kannen mit heißem Wasser und dem nötigen Geschirr mit sich führten. Ihnen folgten die Eunuchen der Kaiserlichen Apotheke mit Tragstangen, an denen alle möglichen Mittel für den Hausgebrauch und für Notfälle in Kästen verstaut baumelten. Die Grundausrüstung bestand aus Tränken von Lampendochtbinsen, Chrysanthemen, Schilfwurzeln, Bambusblättern und Bambusschalen; im Sommer wurden zusätzlich gepreßte Begonien zur Regulierung des Atems, Sechs-Harmonien-Pillen zur Festigung der Zentralorgane, vergoldete Zinnoberpillen gegen Hitze, Bällchen aus klebrigem Duftreis, Salben für Universalzwecke, Arzneien gegen Koliken und Pulver gegen Ansteckung mitgeführt; und zu keiner Jahreszeit durfte das >Elixier der Drei Unsterblichen Genien< für leichte Verdauung fehlen. Den Schluß der Prozession bildeten Eunuchen, die Nachtstuhl und Nachttopf mit sich schleppten. Und falls ich zu Fuß ging, folgte in letzter Position noch die Sänfte, die je nach Jahreszeit offen oder geschlossen war. Dieser buntscheckige Aufzug aus Dutzenden von Menschen bewegte sich mit stummer Würde und Ordnung, sofern er nicht durch mich durcheinandergebracht wurde.
Als ich noch sehr klein war, tollte ich genauso gern wie andere Kinder herum; dann hastete und stolperte die ganze Prozession hinter mir her, bis die Eunuchen schließlich keuchend nach Luft schnappten und alles in heillose Verwirrung geriet. Nachdem ich etwas älter geworden war und gelernt hatte, Befehle zu erteilen, gebot ich den Eunuchen jeweils rechtzeitig, stillzustehen und auf mich zu warten. Dann verharrte das ganze mit Lasten und Tragstangen beladene Gefolge außer ein paar mich begleitenden Jungeunuchen neben dem Weg, bis ich vom Laufen genug hatte, worauf sich die Prozession aufs neue formierte. (...)
(aus "Ich war
Kaiser von China" von Pu Yi)
Vom Himmelssohn zum Neuen Menschen. Die Autobiographie des letzten chinesischen
Kaisers
Herausgegeben und übersetzt von Richard Schirach und Mulan Lehner
Mit Abbildungen
Seine Majestät das Kind: Das Leben des letzten Kaisers von China ist eine der
unglaublichsten und aufregendsten Geschichten des 20. Jahrhunderts. Mit zweieinhalb
Jahren inthronisiert, muß Pu Yi bereits 1912 unter dem Druck der ersten chinesischen
Revolution abdanken. Seine Gedanken konzentrieren sich fortan nur auf ein Ziel:
die Rückkehr auf den Drachenthron. Um dies zu erreichen, ist ihm jedes Mittel
recht.
Pu Yis spannende Autobiographie, Vorlage für Bertoluccis mit neun Oscars ausgezeichnenten
Film ›Der letzte Kaiser‹ gewährt absurde und zugleich faszinierende Einblicke
in die mit ihm versunkene Welt der Verbotenen Stadt und führt über die Wirren
des chinesischen Bürgerkriegs in die Gefängnisse der Volksrepublik, wo Pu Yi
neun Jahre lang eine Umerziehung zuteil wurde, die aus dem ehemaligen Herscher
über Millionen einen überzeugten Anhänger Maos, den »Neuen Menschen« machte.
Pu Yi (1906–1967) wurde im Dezember 1908 als Kaiser Hsüan Tung inthronisiert.
1912 Abdankung; 1924 Vertreibung aus Peking; Exil in Tientsin; 1934 Kaiser des
Japanischen Satellitenstaats Mandschuguo; ab 1945 in sowjetischer Gefangenschaft;
1950 an China ausgeliefert, 1959 durch einen Gnadenerlaß
Maos freigelassen.
(dtv)
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Bernardo Bertolucci:
"Der letzte Kaiser"
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