Die Erschaffung der Menschen

Nun erfolgte von der Erzeugerin und dem Schöpfer, der nächste Versuch, Wesen zu erschaffen, die gehorsam waren, Ehrfurcht empfanden, die fürsoglich waren und dienten. Diese neuen Wesen erschufen sie aus Erde und Schlamm. Jedoch sahen sie, daß es nichts taugte. Es zerfiel, war ganz teigig und breiig, schlaff und hinfällig, war nur dazu da zunichte zu werden. Zwar konnte es sprechen, doch hatte es keinen Verstand. Es war ganz kraftlos und konnte den Kopf nicht drehen. Sein Blick war verschleiert und kam es mit Wasser in Berührung, zerfloß es gleich und hatte keinen Bestand. Da zerkneteten die Erbauerin und der Erzeuger ihr Werk, zerstörten ihre Schöpfung und sprachen: Wie sollen wirs machen daß es gut gerate? Daß der Gedanke sich doch verwirkliche, ein Wesen zu schaffen, daß uns anruft und zu uns betet und unsere Namen zu nennen vermag? Den nächsten Versuch, unternahmen sie mit Holz und Riedgras. Im Augenblick entstanden Menschen aus Holz, die Gesichter hatten und sich unterhielten. Da waren sie nun, waren fruchtbar und hatten Söhne und Töchter und bevölkerten die Erde. Aber auch sie hatten keine Seele und keinen Verstand. Nicht einmal eine Erinnerung an ihre Erbauerin und den Schöpfer hatten sie behalten. Sinnlos trieben sie einher und liefen auf allen vieren. Daher verkamen sie an Ort und Stelle. Das Herz des Himmels, erdachte eine Flut, die über die Scheitel der Menschen aus Holz kommen sollte und so wurden sie alle vernichtet und ertranken.Es kam ein großer Col vom Himmel, Xecotcovach ist sein Name, der höhlte ihnen die Augen aus. Es kam Camalotz, der schnitt ihnen den Kopf ab. Es kam Cotzbalam, der fraß ihr Fleisch. Es kam Cucumbalam, der zerbrach und zerwühlte ihre Knochen und ihre Adern. Zerstückt und zerstäubt wurden ihre Gebeine, das war die Vernichtung ihres Wesens. Denn ihre Gedanken reichten nicht bis zum Angesicht ihrer Schöpfer, des Himmelsherzens dessen Name Huracan ist. Ihretwegen entstand eine große Regen-Düsternis. Platzregen bei Tag, Platzregen bei Nacht. Der nächste Versuch, der Erzeugerin und des Schöpfers, ein Wesen zuschaffen, das sie zu huldigen vermochte, das sie ehrte und ihre Namen anrief, gelang ihnen vortrefflich. Dies sind die Namen der ersten Menschen, die erbaut, die erschaffen wurden: Der erste Mensch, das war Balamquitze, der zweite dann Balamacab, der dritte wurde Mahucutha genannte, der vierte endlich Iquibalam, das also sind die Namen welche die ersten Ahnen der Menschen trugen. Nur `Gebautes', nur `Geschöpf' wurden sie genannt: Sie haben keine Mutter, keinen Vater, daher können wir sie nur `Edle' nennen. Keine Weiber haben sie geboren. Sie wurden nicht als Söhne gezeugt von der Meisterin des Bauens und dem Meister des Erschaffens, von der Gebärerin und dem Schöpfer. Sondern ein Wunder war es, dass sie erschaffen wurden, ein Zauber gewirkt von der Erzeugerin und dem Erzeuger, von der Gebärerin und dem Söhnezeuger, von der Mächtigen und von Cucumatz. Indem sie menschliches Aussehen annahmen, wurden sie Menschen. Sie sprachen und formten Worte, sie sahen gut und hörten, sie gingen einher und griffen mit Händen. Wohlgeratene schöne Menschen waren sie, edel war ihre Erscheinung. Sie hatten Gedanken, sie nahmen wahr und sofort erreichte ihr Blick sein Ziel. Schließlich sahen und kannten sie die ganze Welt. Wenn sie Umschau hielten, erreichte ihr Blick zugleich von der Höhe in die tiefste Höhle hinab, das Himmelsgewölbe und ganze Erde erblicken und überschauen. Läge etwas noch so tief im Schatten, sie entdeckten es, sie brauchten nicht zu wandern um die Welt zu betrachten, sondern an Ort und Stelle blieben sie, wenn sie Umschau hielten. Ihr Blickfeld reichte über Baum und Fels, über See und Meer, über Berg und Ebene. Wahrlich hochwertige Menschen waren Balamquitze, Balamacab, Mahucutah und Iquibalam!


(aus dem "Popol Vuh"; spätes 16. Jahrhundert)
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