Der zweite Blitz schlug keine zwanzig
Sekunden nach dem ersten ein. Er war wesentlich stärker und hatte verheerendere
Folgen. Sie flogen zwanzig Meter durch die Luft, glühend und knackend wie ein
erkaltendes Lagerfeuer. Wahrscheinlich war die atomare Zersetzung, die Körper
und Elemente in einem solchen Fall erleiden, der Grund, warum der Aufprall nicht
tödlich war: Er war so abgepolstert, dass sie wieder zurückprallten. Und nicht
nur das: Das Fell des Tieres war so aufgeladen, dass es wie ein Magnet wirkte
und Rugendas durch die Salti nicht aus dem Sattel geworfen wurde; doch kaum
waren sie auf dem Boden gelandet, ließ die Anziehungskraft nach, und der Mann
fand sich plötzlich auf der trockenen Erde wieder, den Blick gen Himmel
gerichtet.
Das Blitzegewirr in den Wolken ließ Albtraumgestalten aufleuchten und wieder
verlöschen. Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, ein schreckliches Gesicht
zusehen. Der Monigote! Überall schallte es ohrenbetäubend: Geräusch über Geräusch,
Donner über Donner. Der Umstand war in höchstem Grade ungewöhnlich. Das Pferd
wälzte sich am Boden wie ein
Krebs,
um sie herum platzten Tausende von Feuerzellen und bildeten eine Art allumfassende
Aureole, die sich mit ihm verschob und ihm nichts anhaben konnte. Schrien der
Mann und sein Pferd? Wahrscheinlich befanden sie sich in einem Schockzustand;
aber selbst wenn sie aufgeheult hätten, hätte man nichts gehört. Der umgekippte
Reiter suchte mit den Händen nach dem Boden, um eine Stelle zu finden, wo er
sich aufstützen konnte. Doch er war statisch zu sehr aufgeladen, als dass er
etwas hätte berühren können. Das Pferd begann sich aufzurichten, und Rugendas
las an seiner plötzlichen Erleichterung ab, dass es so gut war; für einen Moment
musste er auf den Trost eines Begleiters verzichten, um dem dritten Blitz zu
entkommen.
Dann stand das Pferd wieder, mit gesträubten Haaren, monumental,
und verdeckte die Hälfte des Blitzegewirrs; seine Giraffenbeine knickten
widerspenstig ein, der Kopf lauschte wieder aufmerksam dem Ruf des Wahnsinns ...
und dann rannte es los ...
Und Rugendas mit! Er konnte und wollte es nicht
verstehen, es war zu ungeheuerlich. Er spürte, wie er mitgeschleift wurde, fast
schwebte, wie der Satellit eines gefährlichen Sterns. Der Ritt wurde immer
schneller, und er hing dahinter, prallte auf und nieder, ohne irgendetwas zu
begreifen ...
Er wusste nämlich nicht, dass sich der eine Fuß in einem Steigbügel verfangen
hatte, ein Unfall, der Klassiker unter den Reitunfällen, der, nur weil er sich
schon so oft wiederholt hat, nicht plötzlich nicht mehr vorkommt. Die Stromerzeugung
setzte genauso plötzlich aus, wie sie eingesetzt hatte, was ein Jammer war,
weil ein Blitzschlag zur rechten Zeit, der das Tier wieder zum Stehen gebracht
hätte, dem Maler eine Menge Unannehmlichkeiten erspart hätte. Aber der Strom
wurde in die Wolken
abgeleitet, Wind kam auf, es begann zu regnen ...
Das Pferd galoppierte eine unbestimmte Strecke; wie weit, fand man nie heraus,
und eigentlich ist es auch nicht wichtig. Die Katastrophe war geschehen. Der
folgende Tag dämmerte bereits herauf, als Krause und der alte Baquiano sie entdeckten.
Das Pferd hatte seinen Klee gefunden, graste abwesend vor sich hin und zog einen
blutigen Lumpen hinter sich her, der sich am Steigbügel verheddert hatte. Die
ganze Nacht über hatten sie ihn gesucht, und auf dem Gipfel der Angst hatte
ihn der arme Krause bereits für tot erklärt. Ihn zu entdecken war nur eine halbe
Freude: Da war er zwar endlich, lag aber reglos auf dem Bauch; sie ritten schneller,
sahen beim Näherkommen, wie er sich bewegte, ohne die Kusshaltung zur Erde aufzugeben;
die leise Hoffnung, die in ihnen aufkeimte, wurde gedämpft, als sie bemerkten,
dass er sich gar nicht bewegte, sondern lediglich vom Pferd mitgezerrt wurde,
wenn es beim Grasen ein paar Verdauungsschrittchen tat. Sie stiegen ab, hakten
ihn vom Steigbügel los und drehten ihn um ... Das Entsetzen ließ sie verstummen.
Rugendas' Gesicht war eine geschwollene, blutige Masse, der Stirnknochen lag
offen, über den Augen hing die Haut in Fetzen. Die Nase hatte ihre charakteristische
Form verloren, das Augsburgisch-Adlerhafte, die Lippen waren aufgeplatzt und
zurückgetreten, gaben den Blick frei auf Vorder- und Backenzähne, die wie durch
ein Wunder ganz geblieben waren. Zuerst mussten sie prüfen, ob er noch atmete.
Tat er. Dieses Detail verlieh dem, was folgte, ein Hauch von Dringlichkeit.
Sie luden ihn aufs Pferd und nahmen ihn mit. Der Führer, der seine Führerschaft
wiedergewonnen hatte, zeigte in eine Richtung, in der, wie er sich erinnerte,
einige Ranchos lagen. Am Vormittag erreichten sie eines dieser schlichten Farmhäuser.
Das Mitbringsel, das sie für diese armen, verlorenen
Bauern
dabeihatten, war bestens geeignet, um Verblüffung hervorzurufen. Wenigstens
konnten sie erste Maßnahmen einleiten. Sie wuschen ihm das Gesicht, versuchten
mit der Fingerspitze die einzelnen Teile zurechtzurücken, legten ihm heilende
Hamamelispflaster auf, um die Vernarbung zu beschleunigen, und überprüften,
ob Knochen gebrochen waren. Die Kleidung war zerfetzt, doch der Körper war,
abgesehen von einigen Aufschürfungen an Brust, Ellbogen und Knien und einigen
oberflächlichen Schnittwunden, heil geblieben; am Kopf jedoch war er schwer
verletzt, sein Gesicht sah aus, als wäre etwas darüber hinweggerollt. War es
die Rache des
Monigote? Wer weiß. Der Körper ist ein seltsames Ding, und wenn ihm ein Unfall
zustößt, bei dem übermenschliche Kräfte wirken, weiß man nie, wie es ausgeht.
(Aus der Novelle "Humboldts Schatten"
von
César Aira.
Aus dem argentinischen Spanisch von Matthias Strobel.)
Mit furioser Sprachkraft gestaltet
César Aira erzählerisch den Abschnitt einer Reise, die den Augsburger Maler
Johann Moritz Rugendas im Jahr 1837 nach Südamerika führt. Gefördert von seinem
Mentor Alexander von Humboldt malt Rugendas atemberaubende Bilder von den
Menschen und Landschaften der Anden - bis ihn eines Tages ein fürchterliches
Unglück ereilt. "Humboldts Schatten" ist ein virtuoses literarisches Porträt und
Hommage an eine manchmal zerstörerische künstlerische Inspiration. (Nagel &
Kimche)
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