Leseprobe aus "Das Rätsel von Paris"
von Pablo De Santis


Der Turm sah von unten schon fertig aus, doch an der Spitze konnte man noch immer Bewegung ausmachen. Die Bauarbeiter, die in Vierergruppen eingeteilt waren, ersetzten noch die letzten provisorischen, kalt eingeschlagenen Nieten durch die richtigen, die erhitzt wurden, bis das Metall rot glühte, um dann mit schweren Hämmern in die Löcher getrieben zu werden. Während der zwei Jahre, die sich die Fertigstellung verzögerte, mangelte es nicht an Problemen: Einige waren leicht zu beheben, wie etwa die fehlerhaften Treppengeländer, die man teilweise austauschen musste; schwerwiegender hingegen waren die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Bauausschusses, die nicht selten das ganze Projekt bedrohten, oder die Schwierigkeiten mit den Fahrstühlen in den Diagonalstreben. In seinen Presseerklärungen zeigte Eiffel sich bei den technischen Problemen bedeutend zuversichtlicher als gegenüber seinen Widersachern. Der Turm wurde von allen Seiten angegriffen, von Politikern und Intellektuellen, von Künstlern und esoterischen Sekten. Eines aber war sicher: Je höher der Turm sich in den Himmel schraubte, desto leiser wurden die Stimmen. Die Wut, mit der man gegen das Projekt gewettert hatte, schien zu verfliegen. Stattdessen erwachte die wehmütige Erinnerung an eine verlorene Welt. Das galt auch für die Querelen in den Ausschüssen. In dreihundert Metern Höhe war es aufgrund der eiskalten Winde, der zwangsläufigen Einsamkeit und des Schwindels schwieriger, seine Gefechte auszutragen als in fünfzig oder hundert Metern. Die auf der Erde widerspenstigen Arbeiter wurden fügsamer, je höher sie kamen. Sie schienen den Turm als persönliche Herausforderung zu betrachten, als etwas, was sie aus der Menge in eine stolze Einsamkeit erhob, die kein Ausscheren mehr duldete. Als guter Ingenieur wusste Eiffel, dass Schwierigkeiten die Dinge manchmal auch vereinfachten.

Doch obwohl der Turm fast fertig war, blieb eine Gruppe von Gegnern übrig, die ihren Widerstand nicht aufgaben und sogar vor kleineren Anschlägen nicht zurückschreckten. Mit Turin und Prag bildete Paris ein hermetisches Dreieck, wo esoterische Sekten sich mit Vorliebe tummelten. Ihre Mitglieder hassten den Turm. Das Organisationskomitee der Ausstellung sah sich gezwungen, Louis Darbon damit zu beauftragen, die Spuren der anonymen Täter zu verfolgen. Eiffel war mit diesem Auftrag ganz und gar nicht einverstanden. Wenn sich einer seiner Kollegen über die Fanatiker lustig machte, verteidigte er sie: "Diese Menschen sind mit ihren erhitzten Gemütern die Einzigen, die uns verstanden haben. Wir befinden uns in einem Krieg der Symbole."

Der Turm war der Eingang zur Ausstellung. Hatte man das hohe eiserne Gittertor einmal durchschritten, war man inmitten eines emsigen Treibens, das weder Zentrum noch Hierarchien zu kennen schien. In diesem Chaos wirkte das Bemühen der Enzyklopädisten merkwürdig, eine Welt, die doch so ungeordnet war, in eine alphabetische Ordnung zu pressen. Alles wurde zur selben Zeit gebaut: Tempel, Pagoden, Kathedralen. Riesige Holzkisten mit exotischen Zollstempeln und maritimen Frachtpapieren wurden auf Karren durch die Straßen gezogen. Manchmal sah man noch die Krone eines afrikanischen Baums oder den Arm einer Götterstatue aus ihnen herausragen. Ausgewählte Ureinwohner Afrikas oder Amerikas hatten die Aufgabe, ihre Zelte und Hütten inmitten des Glanzes der Pavillons und der Paläste zu errichten. Doch es war nicht leicht, diese Inseln des unberührten Lebens in einem schnaufenden und tosenden Technikpark zu erhalten: Brannte die Bambushütte nicht ab, so schmolz dafür ein Iglu.

Wie durch ein Brennglas wollte die Ausstellung auf ihrem Gelände die Welt abbilden. In diesem Bestreben aber lag eine Hysterie, die auf die ganze Stadt übergriff: In Theatern und Hotels wurden plötzlich Vitrinen aufgestellt und alte Schätze aus Kellern gehoben, um die sich jahrelang niemand geschert hatte. Selbst Friedhöfe wurden hergerichtet. Doch auf den in neuem Glanz erstrahlenden Gräbern lag nunmehr ein Schleier des Künstlichen, als hätten sich die alten Tafeln in Symbole ihrer selbst verwandelt. Die Welt, in der ich lebte, war auf einmal eine Welt ohne Rätsel geworden. Es gab nichts mehr, was sie hätte verbergen können. Das Licht einer Gaslampe etwa warf einen Halbschatten und zerfiel an den Rändern - wie das Licht ihrer Vorfahren: die Kerze und das gelbe Licht des Mondes, nicht das der Sonne. Seit dem Turm aber und seit der Ausstellung versprach das elektrische Licht eine Welt ohne Risse, ohne Gelbtöne, ohne Schatten. Es hatte die Farblosigkeit der Wahrheit. (...)


Pablo De Santis: "Das Rätsel von Paris"
Aus dem Spanischen von Claudia Wuttke.
Unionsverlag, 2010. 320 Seiten.
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Am Vorabend der Weltausstellung von 1889 geben sich die Zwölf Detektive in Paris ein Stelldichein: Die berühmtesten Vertreter der Detektivzunft möchten der Welt die neusten Ermittlungsmethoden und ihre spektakulärsten Kriminalfälle präsentieren. Aus der unbeschwerten Zusammenkunft wird Ernst, als einer der "Zwölf" unter mysteriösen Umständen vom gerade errichteten Eiffelturm zu Tode stürzt. Nachdem wenig später auf dem Ausstellungsgelände in einem Krematoriumsofen eine verkohlte Leiche entdeckt wird, zweifelt niemand mehr an einem Serienverbrechen. Nun gilt es für die Meisterdetektive, ihr Können unter Beweis zu stellen und das Rätsel von Paris zu lösen.
Mit viel Fantasie, Witz und Spannung verhilft Pablo De Santis den großen Detektivgestalten der Weltliteratur zu einem neuen Auftritt und setzt der Detektivgeschichte ein literarisches Denkmal.