Unter dramatischen
Umständen kehrten Goethe und Kniep von Messina aus nach Neapel zurück. Der halb
erzwungene Aufenthalt in der vom Erdbeben verwüsteten Hafenstadt an der Meerenge
zwischen Sizilien und Kalabrien bildete, jedenfalls in dem heiter ausgesponnenen
Erzählgarn der Italienischen Reise, das groteske Schlussstück der homerischen
Wanderungen
durch Sizilien. Die widrige Physiognomie der einst so prunkliebenden Stadt,
die löchrig gewordene Hafenfront der im Halbkreis geordneten Paläste, die
Palazzata, als eine großsprecherische Attrappe vor den dahinter eingenisteten
Elends-Behausungen, die so närrische wie ängstliche Betriebsamkeit auf den
Straßen und Plätzen, und mitten darin der Gouverneur dieser so schwer
heimgesuchten Metropole, wie ein der Vorwelt entronnener Oger, der in Goethes
Schilderung die Züge eines in die Komödie oder ins Satyrspiel hineingeratenen
Polyphem
annahm.
Als die Reisenden überstürzt aus den Fängen notgedrungener Gastfreundschaft
sich auf einen französischen Kauffahrer flüchten, ahnen sie noch kaum, was für
Abenteuer ihnen bevorstehen. Der Golf enthüllt dem ferner rückenden Blick schmerzlich
die Schönheit der beiden Ufer, die schon, inmitten aller Gefahren, der über
die Meere irrende Odysseus vor Augen gehabt haben musste: "doch beschäftigte
uns, bei allmähliger Entfernung vom Ufer, die herrliche Ansicht des Palastzirkels,
der Zitadelle, der hinter der Stadt aufsteigenden Berge. Calabrien an der andern
Seite. Nun der freie Blick in die Meerenge nord- und südwärts, bei einer ausgedehnten,
an beiden Seiten schön beuferten Breite. Als wir dieses nach und nach anstaunten,
ließ man uns links, in ziemlicher Ferne, einige Bewegung im Wasser, rechts aber,
etwas näher, einen vom Ufer sich auszeichnenden Felsen bemerken, jene als Charybdis,
diesen als Scylla. Man hat sich bei
Gelegenheit beider, in der Natur so weit aus einander stehenden, von dem Dichter
so nah zusammengerückten Merkwürdigkeiten, über die Fabelei der Poeten beschwert
und nicht bedacht, daß die Einbildungskraft aller Menschen durchaus, Gegenstände,
wenn sie sich solche bedeutend vorstellen will, höher als breit imaginiert und
dadurch dem Bilde mehr Charakter, Ernst und Würde verschafft." Die abschließende
Bemerkung knüpft an die Überlegungen an, die Goethe im Anblick der Tempel von
Paestum über die verändernde Macht der Fantasie in der Aneignung vorfindlicher
Wirklichkeit angestellt hatte. Aber diese und ähnliche Überlegungen entschwanden
dem neuen Odysseus rasch, als die Wiederkehr der Seekrankheit ihm den Anblick
der vom Mythos überglänzten Küsten und die wunderbare Erscheinung einer Schar
Delfine, die
das Schiff schwimmend und springend begleiteten, auf Dauer raubte.
Erst am dritten Tag, in der
Annäherung an den Golf von Neapel, konnte sich Goethe, dem Freund beim Zeichnen
über die Schulter schauend, der Herrlichkeit dieser in wechselndes Abendlicht
getauchten Landschaft mit dem begeisterten Blick des Künstlers überlassen, der
auf seinen Zustand nicht zu achten braucht. Noch in der Nachzeichnung des
Reiseberichts wirkt dieser überdehnte Augenblick des Glücks mit der gleichen
Leuchtkraft wie zum Zeitpunkt des Erlebens: "In dem glänzendsten Farbenschmuck
lag Cap Minerva mit den daranstoßenden Gebirgen vor unsern Augen, indes die
Felsen die sich südwärts hinabziehen schon einen blaulichen Ton angenommen
hatten. Vom Cap an zog sich die ganze erleuchtete Küste bis Sorrent hin.
Der
Vesuv war uns sichtbar, eine ungeheure Dampfwolke über ihm aufgetürmt, von der
sich ostwärts ein langer Streif weit hinzog, so daß wir den stärksten Ausbruch
vermuten konnten. Links lag Capri steil in die Höhe strebend; die Formen seiner
Felswände konnten wir durch den durchsichtigen, bläulichen Dunst vollkommen
unterscheiden. Unter einem ganz reinen, wolkenlosen Himmel glänzte das ruhige,
kaum bewegte Meer, das bei einer völligen Windstille endlich wie ein klarer
Teich vor uns lag." Nie freilich mag ihm das Schicksal des Odysseus verwandter,
eindringlicher und drohender vor Augen gestanden haben als an diesem Abend und
in dieser Nacht. Am dritten Tag nach dem Auslaufen war das Schiff, im Angesicht
der Inselwelt vor dem Golf, des Posilipp und der Stadtsilhouette, während kein
Hauch den Meeresspiegel trübte, in eine Strömung geraten, durch die es hilflos
auf das Steilufer der Insel Capri zutrieb. Das Durcheinander an Bord, die
unwürdige Haltung des Kapitäns und der Besatzung, die lächerlichen Zurüstungen,
um das Schiff mit Rudern und mit Stangen von der Steilwand unter der fabelhaften
Residenz des Kaisers Tiberius auf ein paar Minuten abzuhalten, die Resignation
in das unausweichliche Schicksal - alles das muss Goethe die Wechselfälle des
homerischen Helden und alle Fährlichkeiten der frühen Entdecker vor die Seele
gerufen haben. Am Morgen hatte der Wind gedreht und den Kauffahrer auf den
richtigen Kurs in der Hafen von Neapel gebracht. Die kaum mehr gehoffte Rettung
ließ die Rückkehr als Wunder, aber auch als symbolische Bestätigung erscheinen,
dass sich jetzt die Italienreise innerlich vollendet habe.
Der Brief an
Herder, den er in der Italienischen Reise auf den 17. Mai 1787 datierte, und die
beiden Schreiben an Philipp Seidel und
an Charlotte von Stein vom 15. und 25.
Mai, sind ganz von diesem Gefühl durchdrungen. Das wiedergeschenkte Neapel erst
macht die glücklich vollbrachte Reise durch
Sizilien zu einem
"unzerstörlichen Schatz auf mein ganzes Leben", wie er Seidel
anvertraut.
(Aus "Der Wanderer. Goethe in Italien" von Norbert Miller.)
Goethes "Italienische Reise" ist ein
sowohl ein großes Reisebuch, als auch eine der bedeutendsten Autobiografien. In
Norbert Miller hat das Werk nun selbst einen Biografen gefunden. In großem
erzählerischen Bogen schildert er die Reise und bietet dem Leser zugleich reiche
Wissenschaftsexkurse.
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