(...) Letztes Jahr,
mitten im Sommer, war eine kleine norwegische Küstenstadt Schauplatz einiger
höchst außergewöhnlicher Begebenheiten. Es tauchte ein Fremder in der Stadt
auf, ein gewisser Nagel, ein merkwürdiger und eigentümlicher Scharlatan, der
eine Menge auffälliger Dinge tat und ebenso plötzlich wieder verschwand, wie
er gekommen war. Dieser Mann wurde gar von einer jungen und geheimnisvollen
Dame besucht, die in Gott weiß welcher Angelegenheit kam und kaum wagte, mehr
als nur einige Stunden im Ort zu bleiben, und wieder abreiste. Doch all dies
ist nicht der Anfang …
Der Anfang ist der, daß sich, als das Dampfschiff gegen sechs Uhr abends am
Kai anlegte, zwei, drei Reisende an Deck zeigten, darunter einer in einer abstechenden
gelben Kluft und einer breiten Samtmütze. Dies war der Abend des 12. Juni; denn
an diesem Tag wurde an vielen Stellen im Ort anläßlich Fräulein Kiellands Verlobung,
die eben am 12.Juni bekanntgegeben wurde, geflaggt. Der Bursche vom Hotel Central
ging sofort an Bord, und der Mann in der gelben Kluft übergab ihm dann sein
Gepäck; gleichzeitig gab er sein Billett bei einem der Steuerleute ab; doch
danach begann er, statt an Land zu gehen, auf dem Deck auf und ab zu schreiten.
Er schien stark bewegt zu sein. Als das Dampfschiff zum dritten Mal läutete,
hatte er noch nicht einmal seine Rechnung für den Verzehr beglichen.
Während er damit beschäftigt war, blieb er plötzlich stehen und sah, daß das
Schiff bereits ablegte. Er stutzte für einen Moment, dann winkte er zum Hotelburschen
an Land hinüber und sagte zu ihm über die Reling hinweg:
Gut, nehmen Sie trotzdem mein Gepäck mit, und machen Sie für mich ein Zimmer
fertig.
Damit nahm ihn das Schiff
weiter den Fjord hinaus. Dieser Mann war Johan Nilsen Nagel.
Der Hotelbursche zog dessen Gepäck auf seinem Karren mit; es bestand nur aus
zwei kleinen Koffern und einem Pelz – ein Pelz, obwohl es doch mitten im Sommer
war – sowie aus einem Handkoffer und einem Geigenkasten. Alles war ohne Etiketten.
Tags darauf in der
Mittagszeit kam Johan Nagel beim Hotel vorgefahren, zweispännig auf dem Landweg
kam er gefahren. Er hätte ebensogut, ja weit besser, den Seeweg nehmen können,
und trotzdem kam er vorgefahren. Er hatte zusätzliches Gepäck dabei: auf dem
Vordersitz stand noch ein Koffer, und neben diesem lagen eine Reisetasche, ein
Mantel und ein Plaidgurt, der einige Dinge enthielt. Auf dem Plaidgurt war mit
Perlen J.N.N. gestickt.
Noch im Wagen sitzend, fragte er den Hotelwirt nach seinem Zimmer, und als er
in den ersten Stock geleitet wurde, fing er an, die Wände zu untersuchen, wie
dick sie seien und ob man etwas aus den Nebenzimmern hören könne. Dann fragte
er plötzlich das Mädchen:
Wie heißen Sie?
Sara.
Sara. Und übrigens: kann ich etwas zu essen bekommen? Aha, Sie heißen Sara?
Hören Sie, sagte er weiterhin, ist hier in diesem Haus einmal eine Apotheke
gewesen?
Sara antwortete verwundert:
Ja. Aber das ist mehrere Jahre her.
Aha, mehrere Jahre? Doch, mir war gleich so, als ich in den Flur kam; ich erkannte
es nicht am Geruch,
ich hatte aber trotzdem so ein Gefühl. Jaja.
Als er zum Essen herunterkam, öffnete er während der ganzen Mahlzeit seinen
Mund nicht für ein einziges Wort.
Seine Mitreisenden
vom letzten Abend auf dem Dampfschiff, die beiden Herren, die oben am Tischende
saßen, hatten, als er eingetreten war, einander zugefeixt, trieben recht offensichtlich
sogar Spaß mit seinem gestrigen Mißgeschick, ohne daß er sich anmerken ließ,
etwas davon mitzubekommen. Er aß schnell, lehnte den Nachtisch kopfschüttelnd
ab und erhob sich unvermittelt, indem er sich rücklings über das Taburett gleiten
ließ. Er steckte sich sofort eine Zigarre an und verschwand die Straße hinunter.
Und jetzt blieb er bis weit nach Mitternacht weg; kurz bevor die Uhr drei schlug,
kam er zurück. Wo er gewesen war? Es stellte sich später heraus, daß er zum
Nachbarort zurückgegangen war, den ganzen langen Weg, den er am Vormittag gefahren
gekommen war, hatte er hin und her zu Fuß gemacht. Er mußte wohl etwas von höchster
Wichtigkeit zu erledigen gehabt haben. Als Sara ihm aufschloß, war er naßgeschwitzt;
er lächelte dem Mädchen jedoch mehrmals zu und war in ausgezeichneter Laune.
Gott, welch entzückenden Nacken Sie haben, Menschenskind! sagte er. Ist hier
Post für mich angekommen, während ich weg war? Also für Nagel, Johan Nagel?
Huch, gleich drei Telegramme! Ach, hören Sie, können Sie mir nicht den Gefallen
tun und das Bild dort von der Wand nehmen? Damit ich es nicht mehr zu sehen
brauche. Es ist so ärgerlich, hier auf dem Bett zu liegen und es dauernd vor
Augen zu haben. Napoleon der Dritte hatte nämlich keinen so grünen Bart. Vielen
Dank auch.
Als Sara gegangen war, blieb Nagel mitten im Zimmer stehen. Er stand völlig
still. Er fing an, ganz abwesend auf einen bestimmten Punkt an der Wand zu starren,
und abgesehen davon, daß sein Kopf immer mehr auf die eine Seite sank, bewegte
er sich nicht. Dies hielt eine ganze Weile an. Er war von unterdurchschnittlicher
Größe und hatte ein gebräuntes Gesicht mit einem merkwürdig dunklen Blick und
einem feinen, femininen Mund. An dem einen Finger trug er einen einfachen Ring
aus Blei oder Eisen. Er war sehr breit in den Schultern und mochte achtundzwanzig
oder dreißig Jahre alt sein, jedenfalls nicht über dreißig. Sein Haar begann
an den Schläfen zu ergrauen.
Er erwachte aus seinen Gedanken mit einem heftigen Ruck, einem so heftigen,
daß es mutwillig sein mochte, ganz so als hätte er sich, obwohl er doch allein
im Zimmer war, diesen Ruck lange zurechtgelegt. Dann holte er ein paar Schlüssel
aus der Hosentasche, etwas Kleingeld und eine Art von Rettungsmedaille an einem
bedauernswert mißhandelten Band; diese Dinge legte er auf den Tisch neben seinem
Bett. Danach steckte er seine Brieftasche unter das Kopfkissen und holte aus
der Westentasche seine Uhr hervor und ein Fläschchen, ein kleines Medizinfläschchen,
das als gifthaltig gekennzeichnet war. Er behielt die Uhr einen Augenblick lang
in der Hand, ehe er sie weglegte, doch das Fläschchen steckte er sofort zurück
in die Tasche. Jetzt zog er seinen Ring ab und wusch sich; er strich mit den
Fingern sein Haar zurück, in den Spiegel sah er überhaupt nicht.
Er war bereits zu Bett gegangen, als er plötzlich seinen Ring
vermißte, der vergessen auf dem Waschtisch lag, und als ob er nicht ohne diesen
schäbigen Eisenring sein könne, stand er noch einmal auf und streifte ihn über.
Schließlich erbrach er die drei Telegramme, hatte aber das erste noch nicht
durchgelesen, bevor er ein ziemlich kurzes, leises Lachen anschlug. Er lag da
und lachte ganz für sich allein; seine Zähne waren außerordentlich schön. Dann
wurde sein Gesicht wieder ernst, und kurz danach schleuderte er die Telegramme
mit größter Gleichgültigkeit weg. Sie schienen sich gleichwohl auf eine große,
wichtige Sache zu beziehen; es war darin die Rede von zweiundsechzigtausend
Kronen für einen Landbesitz, ja, einem Angebot über die Barauszahlung der gesamten
Summe, falls der Verkauf sofort zustande käme. Eine trockne, kurze Geschäftskorrespondenz,
an der nichts Lächerliches war; aber sie war ohne Unterschrift. Einige Minuten
später war Nagel eingeschlafen. Die beiden Kerzen,
die auf dem Tisch brannten und die er zu löschen vergessen hatte, erhellten
sein glattrasiertes Gesicht und seine Brust und warfen einen ruhigen Schein
auf die Telegramme, die offen ausgebreitet auf dem Tisch lagen (....)
(aus "Mysterien"
von Knut Hamsun)
Roman. Aus dem Norwegischen von Siegfried Weibel
In der kleinen norwegischen Hafenstadt war Johan Nilsen Nagel vom ersten Tage
an eine exotische Figur. Er war gekommen und geblieben, niemand wußte warum.
Er trug knallgelbe Anzüge, schickte sich selbst Telegramme und hatte in seinem
Hotelzimmer einen geheimnisvollen Geigenkasten, der dann doch nur schmutzige
Wäsche enthielt. Aber nicht nur durch solche Äußerlichkeiten verblüfft und irritiert
er die Einheimischen. Dieser »Ausländer des Daseins«, wie er sich apostrophiert,
verteidigt leidenschaftlich einen lahmen alten Mann, den er nie zuvor gesehen
hat, betätigt sich zum Schein als Detektiv, spricht voller Engagement über Literatur,
ist ein charmanter Unterhalter und setzt sich mit nervöser Souveränität über
die Regeln des Kleinstadtlebens hinweg. Er wirbt um eine nicht mehr junge Frau
und verliebt sich gleichzeitig in die schöne Tochter des Pfarrers. Und beide
weisen ihn ab. Seine Handlungen, die undurchdringlich und geheimnisvoll sind,
erwachsen aus dem mystischen Gefühl des Sicheinswissens mit der Natur. Man hat
diesen Roman, der viele autobiographische Elemente enthält, einen »Schneesturm
von unbändiger Kraft« genannt.
Knut Hamsun (eigentlich Knut Pedersen), geboren am 4. August 1859 in Lom/Gudbrandsdal,
gestorben am 19. Februar 1952 in Norholm, durchlitt eine harte Jugend, übte
verschiedene Berufe in Nordamerika und Norwegen aus, bis sich 1890 ein erster
literarischer Erfolg mit dem autobiographischen Roman ›Hunger‹ einstellte. Hamsun
lebte mehrere Jahre in Paris und bereiste Finnland, Russland, Persien und die
Türkei. Einen Bruch in der Verehrung Norwegens für seinen Starautor gab es,
als Hamsun die Besetzung durch die Nazis begrüßte und die Nazi-Herrschaft gut
hieß. Nach dem Krieg wurde er deswegen für "vermindert zurechnungsfähig" erklärt
und zu Reparationszahlungen verurteilt. Die Qualität seines literarischen Werkes
und Hamsuns Einfluß auf die europäische Literatur nahmen daran jedoch keinen
bleibenden Schaden. 1920 erhielt er für den Roman ›Segen der Erde‹ den Nobelpreis.
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