Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehr sein sollte wie
zuvor, begann wie zahllose andere Tage. Er kam um Viertel vor acht von der Bundesterrasse
und betrat die Kirchenfeldbrücke, die vom Stadtkern hinüber zum Gymnasium führt.
Das tat er an jedem Werktag der Schulzeit, und es war immer Viertel vor acht.
Als die Brücke einmal gesperrt war, machte er nachher im
Griechischunterricht
einen Fehler. Das war vorher nie vorgekommen, und es kam auch nachher nie mehr
vor. Die ganze Schule sprach tagelang nur von diesem Fehler. Je länger die Diskussion
darüber dauerte, desto zahlreicher wurden diejenigen, die ihn für einen Hörfehler
hielten. Schließlich gewann diese Überzeugung auch bei den Schülern, die dabeigewesen
waren, die Oberhand. Es war einfach nicht denkbar, dass Mundus, wie alle ihn
nannten, im Griechischen, Lateinischen oder Hebräischen einen Fehler machte.
Gregorius blickte nach vorn zu den spitzen Türmen des Historischen Museums der
Stadt Bern, hinauf zum Gurten und hinunter zur Aare mit ihrem gletschergrünen
Wasser. Ein böiger Wind trieb tiefliegende Wolken über ihn hinweg, drehte seinen
Schirm um und peitschte ihm den
Regen
ins Gesicht. Jetzt bemerkte er die Frau mitten auf der Brücke. Sie hatte die
Ellbogen auf das Geländer gestützt und las im strömenden Regen, was wie ein
Brief aussah. Sie musste das Blatt mit beiden Händen festhalten. Als Gregorius
näher kam, zerknüllte sie das Papier plötzlich, knetete es zu einer Kugel und
warf die Kugel mit einer heftigen Bewegung in den Raum hinaus. Unwillkürlich
war Gregorius schneller gegangen und war jetzt nur noch wenige Schritte von
ihr entfernt. Er sah die Wut in ihrem bleichen, regennassen Gesicht. Es war
keine Wut, die sich in lauten Worten würde entladen können, um dann zu verrauchen.
Es war eine verbissene, nach innen gewandte Wut, die schon lange in ihr glimmen
musste. Jetzt stützte sich die Frau mit gestreckten Armen auf das Geländer,
und ihre Fersen glitten aus den Schuhen. Gleich springt sie. Gregorius überließ
den Schirm einem Windstoß, der ihn übers Brückengeländer hinaustrieb, warf seine
Tasche voller Schulhefte zu Boden und stieß eine Reihe von lauten Flüchen aus,
die nicht zu seinem gewohnten Wortschatz gehörten. Die Tasche ging auf, und
die Hefte glitten auf den nassen Asphalt. Die Frau drehte sich um. Für einige
Augenblicke sah sie reglos zu, wie die Hefte vom Wasser dunkler wurden. Dann
zog sie einen Filzstift aus der Manteltasche, machte zwei Schritte, bückte sich
zu Gregorius hinunter und schrieb ihm eine Folge von
Zahlen auf die Stirn.
"Entschuldigen Sie", sagte sie auf französisch, atemlos und mit
fremdländischem Akzent, "aber ich darf diese Telefonnummer nicht vergessen und
habe kein Papier bei mir."
Jetzt blickte sie auf ihre Hände, als sähe sie
sie zum erstenmal.
(Aus "Nachtzug nach Lissabon" von Pascal Mercier.)
Raimund Gregorius,
Lateinlehrer, lässt
plötzlich sein wohlgeordnetes Leben hinter sich und setzt sich in den Nachtzug
nach Lissabon. Im Gepäck: das Buch des Portugiesen Amadeu de Prado, dessen Einsichten
in die Erfahrungen des menschlichen Lebens ihn nicht mehr loslassen. Wer war
dieser Amadeu de Prado? Es beginnt eine rastlose Suche kreuz und quer durch
Lissabon, die Suche nach einem anderen Leben und die Suche nach einem ungewöhnlichen
Arzt und Poeten, der
gegen die
Diktatur Salazars gekämpft hat. (Hanser)
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