Leseprobe:
Mein lieber Cogoi, ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher,
obwohl ich es selber geschrieben habe, daß niemand das Leben
eines Menschen besser erzählen könne als er selbst.
Natürlich hat
dieser Satz ein Fragezeichen; ja, wenn ich mich recht erinnere -
inzwischen sind so viele Jahre vergangen, ein Jahrhundert, die Welt
hier
herum war jung, ein taufrischer grüner Morgen, aber sie war schon
ein Gefängnis
-, habe ich als erstes genau dieses Fragezeichen
gesetzt, das alles hinter sich herzieht. Als mich Doktor Ross
aufforderte, jene Seiten für das Jahrbuch zu schreiben, hätte
ich große Lust
gehabt - und das wäre ehrlich gewesen -, ihm einen Stapel
Blätter mit
nichts als einem Fragezeichen drauf zu schicken, aber ich wollte nicht
unhöflich sein, ausgerechnet ihm gegenüber, der im
Unterschied
zu den anderen so freundlich und wohlwollend ist; außerdem
wäre
es nicht angebracht gewesen, jemanden zu verärgern, der dich aus
einem geschützten Winkel, wie die Redaktion des Almanachs der
Strafkolonie, herausholen und in die Hölle von Port Arthur
expedieren kann, wo du es mit der neunschwänzigen Katze auf den
Buckel kriegst, sobald du dich, erschöpft von den
Steinblöcken
und dem eiskalten Wasser, auch nur für einen Augenblick auf den
Boden setzt.
Also habe ich vor dieses Fragezeichen lediglich den ersten Satz
geschrieben und nicht mein ganzes Leben, meines, seines oder wessen
auch immer. Das Leben - pflegte unser Grammatiklehrer Pistorius zu
sagen, wobei er die lateinischen Ausdrücke mit
runden, gemessenen Gesten begleitete, in jenem Raum mit der roten
Tapete, die sich am Abend verdüsterte und erlosch: Glut der
Kindheit,
die im Dunklen verglomm -, das Leben ist keine Proposition oder
Assertion, sondern eine Interjektion, eine Interpunktion, eine
Konjunktion,
im Höchstfall ein Adverb. Jedenfalls nie eine der sogenannten
Hauptwortarten -
"Sind Sie sicher, daß er das so gesagt hat?" - Ach, Herr Doktor,
mag sein, daß gar nicht er diese letzte Behauptung aufgestellt
hat, sondern die Lehrerin Perich, nachmalig Perini,
in Fiume, aber das
war später, sehr viel später.
Übrigens kann diese anfängliche Frage nicht ernst genommen
werden, enthält sie doch bereits ihre Antwort, genauso wie die
Fragen, die den Gläubigen mit erhobener Stimme in einer Predigt
gestellt werden.
"Wer kann das Leben eines Menschen besser erzählen als er selbst?"
Natürlich niemand, scheint man die Gläubigen als Antwort
murmeln zu hören. Wenn ich mir etwas angewöhnt habe, dann
sind es die rhetorischen Fragen, seit ich
im Gefängnis von Newgate die Predigten für Reverend Blunt
schrieb, der mir für jede einen halben Shilling zahlte, inzwischen
mit
der Wache Karten spielte und darauf wartete, daß ich
dazukäme, um mitzuspielen, und so holte er sich oft seinen halben
Shilling
wieder - das war nichts Verwunderliches, schließlich saß
ich auch
deswegen ein, weil ich alles beim Glücksspiel verloren hatte.
Aber wenigstens dort in der Zelle, wenn ich vor den schmutzigen
Wänden solche nichtigen Fragen niederschrieb, war ich es, der
sie formulierte, auch wenn sie dann vom Reverend von der Kanzel
herabgedonnert wurden, während man sie anderswo, überall,
früher und später, Jahr um Jahr und bis in alle Ewigkeit mir
in die
Ohren geschrien hat: "Also dieses große Durcheinander in Island
hast
du ganz allein angerichtet, einfach so, aus Liebe zu diesen armen
rachitischen und grindigen Menschen, ohne daß dir jemand dabei
geholfen hätte, die Ordnung der Meere Seiner Majestät
umzustürzen, nicht wahr, also du hast ausgespuckt, ohne dir
klarzumachen,
daß du mit den anderen in Reih und Glied stehst, um die Rede des
neuen Zuchthauskommandanten
anzuhören", und runter mit der neunschwänzigen Katze, "so
erkennst du also dieses Kommunistengesicht nicht, hast es nie gesehen,
und diese
Flugblätter sind durch irgendein Wunder in deine Tasche gelangt",
und zu
Boden mit Fußtritten und Schlägen, "also dann bist du kein
Spion,
kein Verräter, keiner, der den Genossen spielt, um das freie
sozialistische Jugoslawien der Arbeiter zu sabotieren, womöglich
bist du ein italienisches Faschistenschwein, das sich Istrien und Fiume
zurückholen möchte", und runter mit dem Kopf in die
Abortgrube oder laufen, so schnell du kannst, zwischen den Reihen der
Sträflinge hindurch, die mit aller Kraft auf dich einschlagen und
dabei
brüllen müssen: "Tito Partija, Tito Partija!" - doch woher
kommt
dieses Geschrei, was für ein Lärm, ich höre nichts mehr,
wem gehört
dieses taube, benommene, außer Kraft gesetzte Ohr, es muß
ein
Stockhieb gewesen sein, und wenn einer ihn ausgeteilt hat, muß
einer ihn abgekriegt haben, ich oder ein anderer.
Jetzt ist es vorbei, das Getöse wird leiser. Auch das war eine
rhetorische Frage; es ist mein Ohr, da Sie, Doktor Ulcigrai,
sich zum anderen, dem linken neigen, um mich zu fragen: "Also dein
richtiger Name wäre Jorgen, und das hier hättest du
geschrieben" und
mir dabei diese alte Kladde zeigen, die ich in der Buchhandlung am
Salamanca Place gefunden habe. Wenigstens schlagen Sie nicht, im
Gegenteil, Sie sind freundlich, nehmen es nicht einmal übel,
wenn ich Sie Cogoi nenne, und insistieren auch nicht auf Ihren
Fragen. Wenn ich schweige, lassen Sie’s gut sein, indessen haben
Sie
mich das gefragt, aber es ist überflüssig, denn Sie kennen ja
schon
die Wahrheit, vielmehr Sie glauben, sie zu kennen, was auf das
gleiche herauskommt, jedenfalls kennen Sie bereits meine Antwort, wenn
ich Ihnen antworte - andernfalls wird sie mir von Ihnen
suggeriert, in den Mund gelegt.
Eine entschlossene, klare Antwort, im wesentlichen; manchmal,
das gebe ich zu, in den Einzelheiten ein wenig verworren. Aber was
soll man machen bei diesem ständigen Hin und Her, bei all den
vielen Dingen, die sich über lagern, Jahre und Länder und
Meere
und Gefängnisse und Gesichter und Ereignisse und Gedanken und
immer wieder Gefängnisse und zerstückelte Abendhimmel, aus
denen das Blut strömt, und Wunden und Fluchten und Nieder lagen
... Und
das Leben, so viele Leben, man kann sie gar nicht zusammenhalten.
Dazu kommt, daß jemand, der von den pausenlosen Verhören
erschöpft
ist, noch größere Schwierigkeiten hat, die Dinge auf die
Reihe zu bringen, oft erkennt er seine Stimme und sein Herz nicht mehr.
Warum spulen Sie das Tonband hin und wieder vor und zurück und
lassen mich Ihre Fragen wiederholen? Vielleicht, damit ich sie
mir besser einpräge, ich verstehe, denn es stimmt, daß ich
manchmal den Faden verliere, aber so komme ich noch völlig
durcheinander,
wenn ich Sie mit meiner Stimme reden höre. Jedenfalls, je mehr man
ausgefragt wird, desto weniger weiß man zu antworten
- man verstricke sich in Widersprüche, heißt es dann, und
sie setzen
dich noch mehr unter Druck, im Guten wie im Bösen, je nach ihrem
Beruf.
Ich weiß zwar nicht genau, was die Widersprüche sein sollen,
aber man verstrickt sich darin, soviel steht fest. Und man
verschwindet wie Schnipsel, aufgesogen vom Wasserstrudel im
Abfluß. Hier,
auf der südlichen Halbkugel, kreist das Badewannenwasser gegen den
Uhrzeigersinn um das Abflußloch, bei uns im Norden dagegen
andersherum, im Uhrzeigersinn. Das ist ein physikalisches
Gesetz, habe ich gelesen, man nennt es Coriolis-Kräfte -
bewundernswerte Symmetrien der Natur, wie eine Quadrille, bei der ein
Paar
vortritt, während das andere zurückweicht, sich beide, wenn
sie an der
Reihe sind, verneigen, und der Tanz nicht aus dem Takt kommt. Einer
wird geboren, ein anderer stirbt, auf einem Hügel wird eine
Schlachtenreihe Infanteristen von Kanonenkugeln niedergemäht,
kurz darauf stehen andere Uniformen und Fahnen oben auf der Kuppe, und
eine Salve rafft sie ihrerseits dahin.
"Also, die
Rechnungen gehen auf ..." Ja, Geben und Nehmen, Sieg und Niederlage,
das Straflager auf der Insel Goli Otok, und später badet man an
denselben wunderbaren Adriastränden, der Kommunismus, der uns aus
dem KZ befreit hat und in einen Gulag steckte, wo wir durchgehalten
haben im Namen des Genossen Stalin, der inzwischen andere von unseren
Genossen in seine Gulags geschickt hat.
"Die Rechnungen gehen auf, und selbst wenn das Blut die
Hauptbücher befleckt, löscht es doch nicht die Ziffern aus,
auch nicht die Null am Ende, den Ausgleich zwischen Soll und Haben."
Wenn einer das sagen kann, dann bin ich es, der so viele Jahre im
Gefängnis verbracht hat, in ebender Stadt, die ich selbst
gegründet
hatte, mit all ihren Häusern, ihrer Kirche und auch ihrem
Gefängnis, vor so
vielen Jahren, als in diesem riesigen Mündungstrichter des
Derwent,
bei dem man nicht begreift, wo der Fluß aufhört und das Meer
beginnt, als in dieser großen Leere, in der es nichts gibt bis
hin zum
Nichts der Antarktis und des Südpols, nichts zu finden war
außer
schwarzen Schwänen und Walfischen, die nie gespürt hatten,
wie sich eine Harpune in ihren Rücken bohrt und das Blut so hoch
aufspritzen
läßt wie die aus den Nasenlöchern geprusteten
Wasserfontänen. Den ersten Walfisch habe ich harpuniert, ich,
Jorgen Jorgensen,
König von Island und Galeerensträfling, Erbauer von
Städten und Gefängnissen, meines Gefängnisses, Romulus,
der als Sklave in
Rom endet. Aber alle diese kleinen Windmühlen, die den Staub der
Toten und der Lebenden verstreuen, haben nicht viel Bedeutung.
Entscheidend ist, Doktor Ulcigrai, daß ich Ihre
überflüssigen
Fragen in den wesentlichen Punkten präzise beantworten kann, denn
ich weiß, wer ich bin, wer ich war, wer wir sind.
Was meinen Sie mit diesem: "Das weiß ich besser"? Ja, ich
verstehe, das ist Ihre Überzeugung. Die ganze Wahrheit steht auf der Karteikarte in diesem Zettelkasten
- es war nicht schwierig,
sie unauffällig herauszuziehen, direkt vor Ihrer Nase. Ein
Kinderspiel für einen, der sein Leben damit verbracht hat, ausspioniert,
verfolgt, karteimäßig erfaßt, registriert zu werden, bei der Polizei,
im Lager, im Spital, von der OVRA, der Guardia Civil, der Gestapo, der
Udba, der Strafanstalt, der Klinik für psychische Krankheiten, und
jedesmal muß man die Karten verschwinden lassen. Notfalls sie aufessen,
auf alle Fälle zerkauen, ehe sie dich entdecken. Jetzt ist die
Karteikarte wieder da, herausgenommen und an ihren Platz zurückgesteckt,
ohne daß jemand etwas bemerkt hat. Ihr seht euch diese Karten
sowieso nicht mehr an, seit ihr so modern geworden seid und bloß noch
eine Taste zu drücken braucht, um alles zu wissen. Wie auch immer,
die Karteikarte steckt in Ihrem Kasten und in meinem Kopf, auch wenn Sie sich einbilden, zu wissen, was in meinem Kopf vorgeht.
Klinik für psychische Krankheiten in Barcola, einem Vorort von Triest, Inhaltsangabe der Krankenkarte von Cippico
- auch Cipico,
Cˇipiko - Salvatore, eingeliefert am 27.3.1992, nach einer
vorausgegangenen Noteinweisung im Monat davor. Mag sein. Es ist soviel Zeit verflossen
... Repatriiert aus Australien, vorübergehend
wohnhaft bei Antonio Miletti-Miletich in Triest, Via Molino a Vapore 2.
Hervorragend, ich hab euch reingelegt. Als erstes muß man immer
den Namen ändern und eine falsche Adresse angeben. Diese Leute
haben doch die Manie, dich sofort in eine bestimmte Schublade zu
stecken, schon jetzt mit einer Grabplatte zuzudeckeln: Vorname,
Familienname und Adresse ein für allemal vom
Bestattungsinstitut eingemeißelt, und du bringst die Namen,
Daten, Zahlen wieder durcheinander. Ein paar Angaben läßt
du, wie sie sind, andere verfälschst du ein wenig, so daß
sie überhaupt nicht mehr
wissen, wie sie dran sind und wo sie dich suchen sollen. Mir paßt
es sehr
gut, daß sie glauben, ich sei da droben, mit dem Kopf nach oben,
in Barcola, um mit den Augen jenseits des Triester Golfs Istrien zu
suchen,
den Dom von Pirano und Punta Salvore, so daß hier unten, an den
Antipoden, keiner auf die Idee kommt, bei denen mit dem Kopf
nach unten nach mir zu forschen.
Geboren in Hobart Town, in Tasmanien, am 10.4.1910. Ja, wenn ihr das
sagt. Witwer
- kolossaler Irrtum. Verheiratet. Die Ehe ist unauflöslich, sie
pfeift auf den Tod, auf den Ihren wie auf den meinen. Fester Beruf,
keinen - doch, einen, nämlich
Sträfling. Und Verhörter. In der Vergangenheit hat er
verschiedene
Tätigkeiten ausgeübt. Erwiesenermaßen hat er in
Australien als Drechsler gearbeitet, später als Schriftsetzer in
der Druckerei der Kommunistischen Partei in Annandale (Sydney) und als
Journalist beim Risveglio und bei der Riscossa in derselben Stadt. Seit
1928 Mitglied der Antifaschistischen Liga von Sydney und des Circolo
Matteotti in Melbourne, militanter Aktivist, verwickelt in die
Straßenkämpfe auf der Russell Street in Melbourne 1929 und
in Townsville 1931. 1932 aus Australien ausgewiesen und nach
Italien zurückgekehrt, wo er bereits als Kind vom Ende des Ersten
Weltkriegs bis zum Aufkommen des Faschismus mit seinem Vater gelebt
hat. Mit welcher zufriedenen Miene Sie das lesen, Herr Doktor, als
ginge es dabei um Ihre Angelegenheiten, und Sie bemerken nicht einmal,
daß da etwas ausradiert und ausgebessert ist.
[...]
Seit gestern regnet es, ein unaufhörlicher Regen, der das Laub
der Eukalyptusbäume und die hellen, glänzenden Farne
schüttelt in
der vor Feuchtigkeit dunklen Luft, eine undurchdringliche
Wassermauer, hinter der alles liegt: die Gesichter, die Stimmen und die
Jahre ... auch Istrien da droben liegt auf der anderen Seite, in einer
anderen Welt; seltsam, wie ich von hier aus das Gefühl habe, es so
deutlich, so nah zu sehen, wie wenn man es vom Ufer in Barcola aus
betrachtet, aber dann verschwindet es, löst sich auf ... Es gab
so viele schwarze Schwäne damals, an dem Tag, an dem wir mit der
Lady Nelson die Mündung des Derwent River hinauffuhren, vor
hundert, vielleicht zweihundert Jahren, Schwärme von
Trauerschwänen am Himmel, und hin und wieder schoß ich einen
herunter. Das
Fleisch schmeckte herb, nach Wild; ein paar Bissen davon warf ich den
in Ketten liegenden Sträflingen zu, die wir zum Ausschiffen geholt
hatten und die ihren Schiffszwieback kauten. Die Ufer des
Derwent River waren bedeckt mit nassen, glänzenden
Grasbüscheln, Wasserfälle und Stromschnellen stürzten
sich mit ihrem schneeweißen Wasser in einer von der Sonne
durchglitzerten Sprühwolke in den Fluß, faulige
Baumstämme verfingen sich in
der Strömung, die braune Wasserschleifen bildete, ein paar
Känguruhs verschwanden im Gebüsch. Dort, wo sich heute Hobart
Town befindet, stand der Wald in seinem überbordenden
Durcheinander, das Licht drang hinein und verschwand darin wie die
Vögel im Gewirr der Zweige,
Pilze und Flechten klammerten sich an
tausendjährige Riesenbäume.
Hier, in dieser Bucht, in Risdon Cove haben wir angelegt, haben
wir die Sträflinge ausgeladen; und so ist Hobart Town entstanden.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, es war der 9. September
1803. Ich habe in meiner Autobiographie nachgesehen, und es freut
mich, daß dieses Datum exakt vermerkt wurde, ein Beweis für
die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit des Autors. Hobart Town, die
erste Zivil-, Militär- und Strafkolonie in Van Diemen's Land.
Vor allem Strafkolonie. Jede Stadt wird aus Blut geboren; nicht von
ungefähr ist es wenig später zu dem Massaker von Risdon Creek
gekommen, und vielleicht war unter diesen massakrierten
Aborigines auch der eine oder andere, der an jenem ersten Tag nackt auf
die Lady Nelson geklettert war, um bei uns seine Lanze gegen
einen gebratenen Schwan einzutauschen.
Ich sage das nur so, denn später hat sich niemand dafür
interessiert, was wirklich vorgefallen ist; selbst unser Reverend
Knopwood hat ein Auge zugedrückt. Bei solchen Dingen, ich meine
bei
Massakern, drücken alle immer ein Auge zu. Auch Nelson hat eines
zugedrückt, als er stundenlang mein Kopenhagen weiter bombardieren
ließ, nachdem die in der Meeresenge blockierte dänische
Flotte
versenkt worden war. Die zerstörte, brennende Stadt hatte die
weiße
Fahne gehißt, und sogar Admiral Parker, der englische Kommandant,
hatte das Signal zur Einstellung des Feuers gegeben. Aber Nelson setzt
das Fernrohr an das verbundene Auge, betrachtet die Verheerung mit dem
falschen, geschlossenen Auge, sieht nur schwarz, keine weiße
Fahne, I'm damned if I see it, und die Kugeln fallen weiter
auf Menschen, die sich nicht mehr verteidigen; später folgen dann
die ganzen Zeremonien der Kapitulation: Admiräle und
Würdenträger
in Galauniform, übergebene und großherzig
zurückerstattete
Schwerter; die Binde ist praktisch, sie hilft, ein Auge
zuzudrücken
angesichts des großen Schlachtens.
Gemetzel hier unten und dort oben, die nördliche und die
südliche Morgenröte künden die gleiche blutige Sonne an,
und alle
preisen den heraufkommenden Tag, nur schade für die, für die
sie nicht
mehr aufgehen wird. Die Sonne der Zukunft ... Die Geschichte, lehrte
uns die Partei, genauer gesagt, die blutige Vorgeschichte, in der
wir leben und leben werden, solange die Welt nicht durch die Revolution
am Ende erlöst sein wird, hat ihre tragischen Notwendigkeiten, die
Barbarei mit barbarischen Mitteln zu bekämpfen. Und so versteht
man nicht mehr, wer der Barbar ist, Tito oder Stalin, wir oder
sie, Nelson oder
Bonaparte.
Letzterer ist zum Schluß auf Sankt
Helena gelandet - ich habe mehr als einmal dort einen Zwischenstopp
gemacht -, und ich, König von Island, bin hier gelandet, wo,
weiß ich nicht genau. "Nur ruhig bleiben, Hauptsache, daß
einer es
weiß, wer, spielt keine Rolle, einer, der von der Reise und der
verheerenden Heimkehr erfahren hat."
Wer hätte das damals, als wir hier die Sträflinge ausluden,
gedacht, daß viele Jahre später auch ich wie sie hier in
Ketten
ankommen würde - sozusagen in Ketten, denn mir haben sie nicht
einmal
auf dem Schiff, das all die armen Schlucker von London bis hier
herunter transportierte, welche angelegt; ich war auf der Woodmann zwar
Gefangener, aber sie ließen mich als Chirurg arbeiten und mit
den Offizieren essen. Doch nie hätte ich geglaubt, daß ich
ei nes
Tages auf solche Weise, als Zuchthäusler, nach Hobart Town
zurückkehren würde, ich, der in der Bucht den ersten Walfisch
harpuniert
hatte, der seit dem Schöpfungstag in dieser Gegend gejagt und
erlegt
worden war. Diese Bucht war ein Lieblingsplatz der Walfische; sie kamen
hierher, um zu Spielen und ihre Fontänen zu sprühen in dem
Glauben, die Welt befinde sich immer noch in der seligen Zeit
ihres Anfangs, in der es keine Harpune zu fürchten gab, und dabei
geschieht es seit undenklicher Zeit, daß Harpunen durchbohren und
zerfetzen und Blut strömen lassen. Die Welt ist alt, alles ist
alt; auch diese immer weniger zahlreichen Ureinwohner sind
hinfällig,
eine Rasse, die bereits zur Zeit der Sintflut hätte verschwinden
müssen. Die Natur war zerstreut, aber wir sind gekommen, um ihre
Zerstreutheit zu korrigieren.
Auch auf der Alexander, die von Hobart Town
nach London
zurückkehrte, habe ich Walfische harpuniert. Wir haben fast
zwanzig Monate gebraucht, denn am Kap Hoorn stießen wir auf einen
fürchterlichen Wind, der uns vom Kurs abbrachte und uns zwang,
dreitausend Meilen mehr als vorgesehen zurückzulegen und
Otaheiti, Sankt Helena und die brasilianischen Küsten zu
passieren, in
einem nicht enden wollenden Ozean. Jetzt verbirgt der Regen alles.
Lanzen aus Wasser, dicht wie ein Bretterzaun, und lange,
herabhängende Eukalyptusblätter verdunkeln den Durchgang mit
der Sicht aufs Meer, und doch liegt das Meer dort dahinter, grenzenlos,
wie ein unermeßlicher Abend, der sich auf die Dinge senkt.
Dagegen erschienen mir als Kind in Kopenhagen, wenn ich nach Nyhavn
ging, um die Schiffe anzusehen, der Wind im Takelwerk, der die Flaggen
zum Flattern brachte, der Salzgeruch und jenes helle, leuchtende
Blau wie ein luftiger, frischer Morgen, der dazu verlockte, von zu
Hause auszureißen.
Ich weiß, Herr Doktor, ich weiß, was der junge Hooker
gesagt
hat, der rührend versucht, seinem illustren Erzeuger auf den
Pfaden
der Wissenschaft nachzufolgen, vor allem auf dem der Botanik: daß
ich dummes Zeug daherrede und wahnsinnig angebe, zu viele
Känguruhs und zu viele Walfische erlegt und auch Kap Hoorn zu oft
umsegelt habe, und dann das Plagiat. Aber wen soll ich denn plagiiert
haben? Das Buch seines Vaters über Island?
Abgesehen davon, daß höchstens er, wenn überhaupt, sich
meines unveröffentlichten
und glücklicherweise verschollenen Tagebuchs bedient hat,
weiß
keiner besser als ich, der zu Unrecht darunter leiden mußte, wie
unhaltbar der Plagiatsvorwurf ist. Gibt es vielleicht etwas, was kein
Plagiat ist? Wie auch immer, wenn ich mich damals entschlossen habe,
meine Geschichte aufzuschreiben, dann deswegen, weil es mir nicht
recht erschien, wie ich gleich zu Anfang beteuere, indem ich mich
demütig Gottes Erbarmen und der Nachsicht meiner Leser anheimgebe,
daß - hier steht es
- "daß die traurigen, aber lehrreichen
Wechselfälle meines Geschickes unbeweint und unerinnert in der
Finsternis
einer langen, schweigenden Nacht versinken ...". (...)
Aus dem Roman "Blindlings"
von
Claudio Magris
Claudio Magris erzählt vom Untergang der Illusionen: Da ist zum einen der
Abenteurer Jorgensen, der am königlichen Hof in Dänemark aufwächst und Jahre
später in jene Stadt deportiert wird, die er selber gegründet hat - Hobart
Town in Tasmanien. Und zum anderen der Italiener Cippico: Er hat den politischen
Kampf in Australien und den spanischen Bürgerkrieg mitgemacht, hat Dachau überlebt
und wurde schließlich unter
Tito eingesperrt auf der Todesinsel Goli Otoko.
Beide Helden, obwohl in unterschiedlichen Jahrhunderten geboren, haben für ihre
Ideale gekämpft, beide sind von den Ideologen ihrer Zeit betrogen worden. Ein
großartiger Roman - Biografie, Geschichtswerk, Chronik, Fantasiegebilde und
Mythos in einem. (Hanser, 2007. Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria
Gschwend.)
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