Leseprobe:

Mein lieber Cogoi, ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher, obwohl ich es selber geschrieben habe, daß niemand das Leben eines Menschen besser erzählen könne als er selbst. Natürlich hat dieser Satz ein Fragezeichen; ja, wenn ich mich recht erinnere - inzwischen sind so viele Jahre vergangen, ein Jahrhundert, die Welt hier herum war jung, ein taufrischer grüner Morgen, aber sie war schon ein Gefängnis -, habe ich als erstes genau dieses Fragezeichen gesetzt, das alles hinter sich herzieht. Als mich Doktor Ross aufforderte, jene Seiten für das Jahrbuch zu schreiben, hätte ich große Lust gehabt - und das wäre ehrlich gewesen -, ihm einen Stapel Blätter mit nichts als einem Fragezeichen drauf zu schicken, aber ich wollte nicht unhöflich sein, ausgerechnet ihm gegenüber, der im Unterschied zu den anderen so freundlich und wohlwollend ist; außerdem wäre es nicht angebracht gewesen, jemanden zu verärgern, der dich aus einem geschützten Winkel, wie die Redaktion des Almanachs der Strafkolonie, herausholen und in die Hölle von Port Arthur expedieren kann, wo du es mit der neunschwänzigen Katze auf den Buckel kriegst, sobald du dich, erschöpft von den Steinblöcken und dem eiskalten Wasser, auch nur für einen Augenblick auf den Boden setzt.
Also habe ich vor dieses Fragezeichen lediglich den ersten Satz geschrieben und nicht mein ganzes Leben, meines, seines oder wessen auch immer. Das Leben - pflegte unser Grammatiklehrer Pistorius zu sagen, wobei er die lateinischen Ausdrücke mit runden, gemessenen Gesten begleitete, in jenem Raum mit der roten Tapete, die sich am Abend verdüsterte und erlosch: Glut der Kindheit, die im Dunklen verglomm -, das Leben ist keine Proposition oder Assertion, sondern eine Interjektion, eine Interpunktion, eine Konjunktion, im Höchstfall ein Adverb. Jedenfalls nie eine der sogenannten Hauptwortarten - "Sind Sie sicher, daß er das so gesagt hat?" - Ach, Herr Doktor, mag sein, daß gar nicht er diese letzte Behauptung aufgestellt hat, sondern die Lehrerin Perich, nachmalig Perini, in Fiume, aber das war später, sehr viel später.
Übrigens kann diese anfängliche Frage nicht ernst genommen werden, enthält sie doch bereits ihre Antwort, genauso wie die Fragen, die den Gläubigen mit erhobener Stimme in einer Predigt gestellt werden. "Wer kann das Leben eines Menschen besser erzählen als er selbst?" Natürlich niemand, scheint man die Gläubigen als Antwort murmeln zu hören. Wenn ich mir etwas angewöhnt habe, dann sind es die rhetorischen Fragen, seit ich im Gefängnis von Newgate die Predigten für Reverend Blunt schrieb, der mir für jede einen halben Shilling zahlte, inzwischen mit der Wache Karten spielte und darauf wartete, daß ich dazukäme, um mitzuspielen, und so holte er sich oft seinen halben Shilling wieder - das war nichts Verwunderliches, schließlich saß ich auch deswegen ein, weil ich alles beim Glücksspiel verloren hatte.
Aber wenigstens dort in der Zelle, wenn ich vor den schmutzigen Wänden solche nichtigen Fragen niederschrieb, war ich es, der sie formulierte, auch wenn sie dann vom Reverend von der Kanzel herabgedonnert wurden, während man sie anderswo, überall, früher und später, Jahr um Jahr und bis in alle Ewigkeit mir in die Ohren geschrien hat: "Also dieses große Durcheinander in Island hast du ganz allein angerichtet, einfach so, aus Liebe zu diesen armen rachitischen und grindigen Menschen, ohne daß dir jemand dabei geholfen hätte, die Ordnung der Meere Seiner Majestät umzustürzen, nicht wahr, also du hast ausgespuckt, ohne dir klarzumachen, daß du mit den anderen in Reih und Glied stehst, um die Rede des neuen Zuchthauskommandanten anzuhören", und runter mit der neunschwänzigen Katze, "so erkennst du also dieses Kommunistengesicht nicht, hast es nie gesehen, und diese Flugblätter sind durch irgendein Wunder in deine Tasche gelangt", und zu Boden mit Fußtritten und Schlägen, "also dann bist du kein Spion, kein Verräter, keiner, der den Genossen spielt, um das freie sozialistische Jugoslawien der Arbeiter zu sabotieren, womöglich bist du ein italienisches Faschistenschwein, das sich Istrien und Fiume zurückholen möchte", und runter mit dem Kopf in die Abortgrube oder laufen, so schnell du kannst, zwischen den Reihen der Sträflinge hindurch, die mit aller Kraft auf dich einschlagen und dabei brüllen müssen: "Tito Partija, Tito Partija!" - doch woher kommt dieses Geschrei, was für ein Lärm, ich höre nichts mehr, wem gehört dieses taube, benommene, außer Kraft gesetzte Ohr, es muß ein Stockhieb gewesen sein, und wenn einer ihn ausgeteilt hat, muß einer ihn abgekriegt haben, ich oder ein anderer.
Jetzt ist es vorbei, das Getöse wird leiser. Auch das war eine rhetorische Frage; es ist mein Ohr, da Sie, Doktor Ulcigrai, sich zum anderen, dem linken neigen, um mich zu fragen: "Also dein richtiger Name wäre Jorgen, und das hier hättest du geschrieben" und mir dabei diese alte Kladde zeigen, die ich in der Buchhandlung am Salamanca Place gefunden habe. Wenigstens schlagen Sie nicht, im Gegenteil, Sie sind freundlich, nehmen es nicht einmal übel, wenn ich Sie Cogoi nenne, und insistieren auch nicht auf Ihren Fragen. Wenn ich schweige, lassen Sie’s gut sein, indessen haben Sie mich das gefragt, aber es ist überflüssig, denn Sie kennen ja schon die Wahrheit, vielmehr Sie glauben, sie zu kennen, was auf das gleiche herauskommt, jedenfalls kennen Sie bereits meine Antwort, wenn ich Ihnen antworte - andernfalls wird sie mir von Ihnen suggeriert, in den Mund gelegt.
Eine entschlossene, klare Antwort, im wesentlichen; manchmal, das gebe ich zu, in den Einzelheiten ein wenig verworren. Aber was soll man machen bei diesem ständigen Hin und Her, bei all den vielen Dingen, die sich über lagern, Jahre und Länder und Meere und Gefängnisse und Gesichter und Ereignisse und Gedanken und immer wieder Gefängnisse und zerstückelte Abendhimmel, aus denen das Blut strömt, und Wunden und Fluchten und Nieder lagen ... Und das Leben, so viele Leben, man kann sie gar nicht zusammenhalten. Dazu kommt, daß jemand, der von den pausenlosen Verhören erschöpft ist, noch größere Schwierigkeiten hat, die Dinge auf die Reihe zu bringen, oft erkennt er seine Stimme und sein Herz nicht mehr. Warum spulen Sie das Tonband hin und wieder vor und zurück und lassen mich Ihre Fragen wiederholen? Vielleicht, damit ich sie mir besser einpräge, ich verstehe, denn es stimmt, daß ich manchmal den Faden verliere, aber so komme ich noch völlig durcheinander, wenn ich Sie mit meiner Stimme reden höre. Jedenfalls, je mehr man ausgefragt wird, desto weniger weiß man zu antworten - man verstricke sich in Widersprüche, heißt es dann, und sie setzen dich noch mehr unter Druck, im Guten wie im Bösen, je nach ihrem Beruf.
Ich weiß zwar nicht genau, was die Widersprüche sein sollen, aber man verstrickt sich darin, soviel steht fest. Und man verschwindet wie Schnipsel, aufgesogen vom Wasserstrudel im Abfluß. Hier, auf der südlichen Halbkugel, kreist das Badewannenwasser gegen den Uhrzeigersinn um das Abflußloch, bei uns im Norden dagegen andersherum, im Uhrzeigersinn. Das ist ein physikalisches Gesetz, habe ich gelesen, man nennt es Coriolis-Kräfte - bewundernswerte Symmetrien der Natur, wie eine Quadrille, bei der ein Paar vortritt, während das andere zurückweicht, sich beide, wenn sie an der Reihe sind, verneigen, und der Tanz nicht aus dem Takt kommt. Einer wird geboren, ein anderer stirbt, auf einem Hügel wird eine Schlachtenreihe Infanteristen von Kanonenkugeln niedergemäht, kurz darauf stehen andere Uniformen und Fahnen oben auf der Kuppe, und eine Salve rafft sie ihrerseits dahin. "Also, die Rechnungen gehen auf ..." Ja, Geben und Nehmen, Sieg und Niederlage, das Straflager auf der Insel Goli Otok, und später badet man an denselben wunderbaren Adriastränden, der Kommunismus, der uns aus dem KZ befreit hat und in einen Gulag steckte, wo wir durchgehalten haben im Namen des Genossen Stalin, der inzwischen andere von unseren Genossen in seine Gulags geschickt hat.
"Die Rechnungen gehen auf, und selbst wenn das Blut die Hauptbücher befleckt, löscht es doch nicht die Ziffern aus, auch nicht die Null am Ende, den Ausgleich zwischen Soll und Haben." Wenn einer das sagen kann, dann bin ich es, der so viele Jahre im Gefängnis verbracht hat, in ebender Stadt, die ich selbst gegründet hatte, mit all ihren Häusern, ihrer Kirche und auch ihrem Gefängnis, vor so vielen Jahren, als in diesem riesigen Mündungstrichter des Derwent, bei dem man nicht begreift, wo der Fluß aufhört und das Meer beginnt, als in dieser großen Leere, in der es nichts gibt bis hin zum Nichts der Antarktis und des Südpols, nichts zu finden war außer schwarzen Schwänen und Walfischen, die nie gespürt hatten, wie sich eine Harpune in ihren Rücken bohrt und das Blut so hoch aufspritzen läßt wie die aus den Nasenlöchern geprusteten Wasserfontänen. Den ersten Walfisch habe ich harpuniert, ich, Jorgen Jorgensen, König von Island und Galeerensträfling, Erbauer von Städten und Gefängnissen, meines Gefängnisses, Romulus, der als Sklave in Rom endet. Aber alle diese kleinen Windmühlen, die den Staub der Toten und der Lebenden verstreuen, haben nicht viel Bedeutung. Entscheidend ist, Doktor Ulcigrai, daß ich Ihre überflüssigen Fragen in den wesentlichen Punkten präzise beantworten kann, denn ich weiß, wer ich bin, wer ich war, wer wir sind.
Was meinen Sie mit diesem: "Das weiß ich besser"? Ja, ich verstehe, das ist Ihre Überzeugung. Die ganze Wahrheit steht auf der Karteikarte in diesem Zettelkasten - es war nicht schwierig, sie unauffällig herauszuziehen, direkt vor Ihrer Nase. Ein Kinderspiel für einen, der sein Leben damit verbracht hat, ausspioniert, verfolgt, karteimäßig erfaßt, registriert zu werden, bei der Polizei, im Lager, im Spital, von der OVRA, der Guardia Civil, der Gestapo, der Udba, der Strafanstalt, der Klinik für psychische Krankheiten, und jedesmal muß man die Karten verschwinden lassen. Notfalls sie aufessen, auf alle Fälle zerkauen, ehe sie dich entdecken. Jetzt ist die Karteikarte wieder da, herausgenommen und an ihren Platz zurückgesteckt, ohne daß jemand etwas bemerkt hat. Ihr seht euch diese Karten sowieso nicht mehr an, seit ihr so modern geworden seid und bloß noch eine Taste zu drücken braucht, um alles zu wissen. Wie auch immer, die Karteikarte steckt in Ihrem Kasten und in meinem Kopf, auch wenn Sie sich einbilden, zu wissen, was in meinem Kopf vorgeht. Klinik für psychische Krankheiten in Barcola, einem Vorort von Triest, Inhaltsangabe der Krankenkarte von Cippico - auch Cipico, Cˇipiko - Salvatore, eingeliefert am 27.3.1992, nach einer vorausgegangenen Noteinweisung im Monat davor. Mag sein. Es ist soviel Zeit verflossen ... Repatriiert aus Australien, vorübergehend wohnhaft bei Antonio Miletti-Miletich in Triest, Via Molino a Vapore 2.
Hervorragend, ich hab euch reingelegt. Als erstes muß man immer den Namen ändern und eine falsche Adresse angeben. Diese Leute haben doch die Manie, dich sofort in eine bestimmte Schublade zu stecken, schon jetzt mit einer Grabplatte zuzudeckeln: Vorname, Familienname und Adresse ein für allemal vom Bestattungsinstitut eingemeißelt, und du bringst die Namen, Daten, Zahlen wieder durcheinander. Ein paar Angaben läßt du, wie sie sind, andere verfälschst du ein wenig, so daß sie überhaupt nicht mehr wissen, wie sie dran sind und wo sie dich suchen sollen. Mir paßt es sehr gut, daß sie glauben, ich sei da droben, mit dem Kopf nach oben, in Barcola, um mit den Augen jenseits des Triester Golfs Istrien zu suchen, den Dom von Pirano und Punta Salvore, so daß hier unten, an den Antipoden, keiner auf die Idee kommt, bei denen mit dem Kopf nach unten nach mir zu forschen.
Geboren in Hobart Town, in Tasmanien, am 10.4.1910. Ja, wenn ihr das sagt. Witwer - kolossaler Irrtum. Verheiratet. Die Ehe ist unauflöslich, sie pfeift auf den Tod, auf den Ihren wie auf den meinen. Fester Beruf, keinen - doch, einen, nämlich Sträfling. Und Verhörter. In der Vergangenheit hat er verschiedene Tätigkeiten ausgeübt. Erwiesenermaßen hat er in Australien als Drechsler gearbeitet, später als Schriftsetzer in der Druckerei der Kommunistischen Partei in Annandale (Sydney) und als Journalist beim Risveglio und bei der Riscossa in derselben Stadt. Seit 1928 Mitglied der Antifaschistischen Liga von Sydney und des Circolo Matteotti in Melbourne, militanter Aktivist, verwickelt in die Straßenkämpfe auf der Russell Street in Melbourne 1929 und in Townsville 1931. 1932 aus Australien ausgewiesen und nach Italien zurückgekehrt, wo er bereits als Kind vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zum Aufkommen des Faschismus mit seinem Vater gelebt hat. Mit welcher zufriedenen Miene Sie das lesen, Herr Doktor, als ginge es dabei um Ihre Angelegenheiten, und Sie bemerken nicht einmal, daß da etwas ausradiert und ausgebessert ist.

[...]

Seit gestern regnet es, ein unaufhörlicher Regen, der das Laub der Eukalyptusbäume und die hellen, glänzenden Farne schüttelt in der vor Feuchtigkeit dunklen Luft, eine undurchdringliche Wassermauer, hinter der alles liegt: die Gesichter, die Stimmen und die Jahre ... auch Istrien da droben liegt auf der anderen Seite, in einer anderen Welt; seltsam, wie ich von hier aus das Gefühl habe, es so deutlich, so nah zu sehen, wie wenn man es vom Ufer in Barcola aus betrachtet, aber dann verschwindet es, löst sich auf ... Es gab so viele schwarze Schwäne damals, an dem Tag, an dem wir mit der Lady Nelson die Mündung des Derwent River hinauffuhren, vor hundert, vielleicht zweihundert Jahren, Schwärme von Trauerschwänen am Himmel, und hin und wieder schoß ich einen herunter. Das Fleisch schmeckte herb, nach Wild; ein paar Bissen davon warf ich den in Ketten liegenden Sträflingen zu, die wir zum Ausschiffen geholt hatten und die ihren Schiffszwieback kauten. Die Ufer des Derwent River waren bedeckt mit nassen, glänzenden Grasbüscheln, Wasserfälle und Stromschnellen stürzten sich mit ihrem schneeweißen Wasser in einer von der Sonne durchglitzerten Sprühwolke in den Fluß, faulige Baumstämme verfingen sich in der Strömung, die braune Wasserschleifen bildete, ein paar Känguruhs verschwanden im Gebüsch. Dort, wo sich heute Hobart Town befindet, stand der Wald in seinem überbordenden Durcheinander, das Licht drang hinein und verschwand darin wie die Vögel im Gewirr der Zweige, Pilze und Flechten klammerten sich an tausendjährige Riesenbäume.
Hier, in dieser Bucht, in Risdon Cove haben wir angelegt, haben wir die Sträflinge ausgeladen; und so ist Hobart Town entstanden. Ich erinnere mich noch genau an den Tag, es war der 9. September 1803. Ich habe in meiner Autobiographie nachgesehen, und es freut mich, daß dieses Datum exakt vermerkt wurde, ein Beweis für die Gewissenhaftigkeit und Genauigkeit des Autors. Hobart Town, die erste Zivil-, Militär- und Strafkolonie in Van Diemen's Land. Vor allem Strafkolonie. Jede Stadt wird aus Blut geboren; nicht von ungefähr ist es wenig später zu dem Massaker von Risdon Creek gekommen, und vielleicht war unter diesen massakrierten Aborigines auch der eine oder andere, der an jenem ersten Tag nackt auf die Lady Nelson geklettert war, um bei uns seine Lanze gegen einen gebratenen Schwan einzutauschen.
Ich sage das nur so, denn später hat sich niemand dafür interessiert, was wirklich vorgefallen ist; selbst unser Reverend Knopwood hat ein Auge zugedrückt. Bei solchen Dingen, ich meine bei Massakern, drücken alle immer ein Auge zu. Auch Nelson hat eines zugedrückt, als er stundenlang mein Kopenhagen weiter bombardieren ließ, nachdem die in der Meeresenge blockierte dänische Flotte versenkt worden war. Die zerstörte, brennende Stadt hatte die weiße Fahne gehißt, und sogar Admiral Parker, der englische Kommandant, hatte das Signal zur Einstellung des Feuers gegeben. Aber Nelson setzt das Fernrohr an das verbundene Auge, betrachtet die Verheerung mit dem falschen, geschlossenen Auge, sieht nur schwarz, keine weiße Fahne, I'm damned if I see it, und die Kugeln fallen weiter auf Menschen, die sich nicht mehr verteidigen; später folgen dann die ganzen Zeremonien der Kapitulation: Admiräle und Würdenträger in Galauniform, übergebene und großherzig zurückerstattete Schwerter; die Binde ist praktisch, sie hilft, ein Auge zuzudrücken angesichts des großen Schlachtens.
Gemetzel hier unten und dort oben, die nördliche und die südliche Morgenröte künden die gleiche blutige Sonne an, und alle preisen den heraufkommenden Tag, nur schade für die, für die sie nicht mehr aufgehen wird. Die Sonne der Zukunft ... Die Geschichte, lehrte uns die Partei, genauer gesagt, die blutige Vorgeschichte, in der wir leben und leben werden, solange die Welt nicht durch die Revolution am Ende erlöst sein wird, hat ihre tragischen Notwendigkeiten, die Barbarei mit barbarischen Mitteln zu bekämpfen. Und so versteht man nicht mehr, wer der Barbar ist, Tito oder Stalin, wir oder sie, Nelson oder Bonaparte. Letzterer ist zum Schluß auf Sankt Helena gelandet - ich habe mehr als einmal dort einen Zwischenstopp gemacht -, und ich, König von Island, bin hier gelandet, wo, weiß ich nicht genau. "Nur ruhig bleiben, Hauptsache, daß einer es weiß, wer, spielt keine Rolle, einer, der von der Reise und der verheerenden Heimkehr erfahren hat."
Wer hätte das damals, als wir hier die Sträflinge ausluden, gedacht, daß viele Jahre später auch ich wie sie hier in Ketten ankommen würde - sozusagen in Ketten, denn mir haben sie nicht einmal auf dem Schiff, das all die armen Schlucker von London bis hier herunter transportierte, welche angelegt; ich war auf der Woodmann zwar Gefangener, aber sie ließen mich als Chirurg arbeiten und mit den Offizieren essen. Doch nie hätte ich geglaubt, daß ich ei nes Tages auf solche Weise, als Zuchthäusler, nach Hobart Town zurückkehren würde, ich, der in der Bucht den ersten Walfisch harpuniert hatte, der seit dem Schöpfungstag in dieser Gegend gejagt und erlegt worden war. Diese Bucht war ein Lieblingsplatz der Walfische; sie kamen hierher, um zu Spielen und ihre Fontänen zu sprühen in dem Glauben, die Welt befinde sich immer noch in der seligen Zeit ihres Anfangs, in der es keine Harpune zu fürchten gab, und dabei geschieht es seit undenklicher Zeit, daß Harpunen durchbohren und zerfetzen und Blut strömen lassen. Die Welt ist alt, alles ist alt; auch diese immer weniger zahlreichen Ureinwohner sind hinfällig, eine Rasse, die bereits zur Zeit der Sintflut hätte verschwinden müssen. Die Natur war zerstreut, aber wir sind gekommen, um ihre Zerstreutheit zu korrigieren.
Auch auf der Alexander, die von Hobart Town nach London zurückkehrte, habe ich Walfische harpuniert. Wir haben fast zwanzig Monate gebraucht, denn am Kap Hoorn stießen wir auf einen fürchterlichen Wind, der uns vom Kurs abbrachte und uns zwang, dreitausend Meilen mehr als vorgesehen zurückzulegen und Otaheiti, Sankt Helena und die brasilianischen Küsten zu passieren, in einem nicht enden wollenden Ozean. Jetzt verbirgt der Regen alles. Lanzen aus Wasser, dicht wie ein Bretterzaun, und lange, herabhängende Eukalyptusblätter verdunkeln den Durchgang mit der Sicht aufs Meer, und doch liegt das Meer dort dahinter, grenzenlos, wie ein unermeßlicher Abend, der sich auf die Dinge senkt. Dagegen erschienen mir als Kind in Kopenhagen, wenn ich nach Nyhavn ging, um die Schiffe anzusehen, der Wind im Takelwerk, der die Flaggen zum Flattern brachte, der Salzgeruch und jenes helle, leuchtende Blau wie ein luftiger, frischer Morgen, der dazu verlockte, von zu Hause auszureißen.
Ich weiß, Herr Doktor, ich weiß, was der junge Hooker gesagt hat, der rührend versucht, seinem illustren Erzeuger auf den Pfaden der Wissenschaft nachzufolgen, vor allem auf dem der Botanik: daß ich dummes Zeug daherrede und wahnsinnig angebe, zu viele Känguruhs und zu viele Walfische erlegt und auch Kap Hoorn zu oft umsegelt habe, und dann das Plagiat. Aber wen soll ich denn plagiiert haben? Das Buch seines Vaters über Island? Abgesehen davon, daß höchstens er, wenn überhaupt, sich meines unveröffentlichten und glücklicherweise verschollenen Tagebuchs bedient hat, weiß keiner besser als ich, der zu Unrecht darunter leiden mußte, wie unhaltbar der Plagiatsvorwurf ist. Gibt es vielleicht etwas, was kein Plagiat ist? Wie auch immer, wenn ich mich damals entschlossen habe, meine Geschichte aufzuschreiben, dann deswegen, weil es mir nicht recht erschien, wie ich gleich zu Anfang beteuere, indem ich mich demütig Gottes Erbarmen und der Nachsicht meiner Leser anheimgebe, daß - hier steht es - "daß die traurigen, aber lehrreichen Wechselfälle meines Geschickes unbeweint und unerinnert in der Finsternis einer langen, schweigenden Nacht versinken ...". (...)


Aus dem Roman "Blindlings" von Claudio Magris
Claudio Magris erzählt vom Untergang der Illusionen: Da ist zum einen der Abenteurer Jorgensen, der am königlichen Hof in Dänemark aufwächst und Jahre später in jene Stadt deportiert wird, die er selber gegründet hat - Hobart Town in Tasmanien. Und zum anderen der Italiener Cippico: Er hat den politischen Kampf in Australien und den spanischen Bürgerkrieg mitgemacht, hat Dachau überlebt und wurde schließlich unter Tito eingesperrt auf der Todesinsel Goli Otoko. Beide Helden, obwohl in unterschiedlichen Jahrhunderten geboren, haben für ihre Ideale gekämpft, beide sind von den Ideologen ihrer Zeit betrogen worden. Ein großartiger Roman - Biografie, Geschichtswerk, Chronik, Fantasiegebilde und Mythos in einem. (Hanser, 2007. Übersetzt aus dem Italienischen von Ragni Maria Gschwend.)
Buch bei amazon.de bestellen