Kalkutta - ein Modellfall für Megastädte der dritten Welt
Städte, die innerhalb eines einzigen Jahrzehnts von einer Million auf drei, vier, fünf, sechs Millionen Einwohner wachsen ... Nur zögernd, ja ungläubig nehmen wir in Europa solche Fakten zur Kenntnis. Erst recht können wir nur schwer nachvollziehen, daß in naher Zukunft immer mehr Megastädte Asiens, Afrikas und Lateinamerikas die Grenze von 20 oder gar 30 Millionen Einwohnern beträchtlich überschreiten.
Soziale Konflikte sind vorprogrammiert. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts leben in vielen Ballungsräumen der sogenannten Dritten Welt schon mehr als die Hälfte der Menschen in unkontrollierbar wuchernden Slums, ja in manchen Städten verdoppelt sich die Zahl der Bewohner von Elendssiedlungen alle fünf Jahre. Und so drängt sich die Frage auf, ob Megastädte dieser Art nicht irgendwann an ihren Widersprüchen zugrundegehen - mit unabsehbaren Folgen für weite Regionen, denn solche Städte sind zugleich auch wirtschaftliche und kulturelle Zentren. Die Zukunft der Dritten Welt entscheidet sich am Schicksal dieser zu rasch wachsenden Städte.
Ich hatte Städte mit einer derartigen Entwicklung bereits vor drei bis vier Jahrzehnten im islamischen Orient, im indischen Kulturraum und in Ostasien kennengelernt. Die Erfahrungen hatten mich derart irritiert, bedrückt und über Jahre beschäftigt, daß ich sie 1987 in dem Buch Zeitbombe Stadt analytisch aufarbeitete. Damals konzentrierte ich mich auf die "weltweite Krise der Ballungszentren", wie der Untertitel lautete. Ich untersuchte die Ursachen, weshalb in vielen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas seit Mitte des 20. Jahrhunderts massenhaft Bauern ihre Dörfer verlassen, arbeitsuchend in die Städte strömen und dort in den immer größer werdenden Elendssiedlungen oft nur ein Auskommen als Gelegenheitsarbeiter finden. Die Kernfrage war für mich, weshalb die europäischen, nordamerikanischen und auch japanischen Megastädte eine völlig andere Entwicklung durchlaufen. Und damals schon war ich der Auffassung, daß es uns nicht gleichgültig lassen kann, was in den uns so weit entfernt erscheinenden Regionen geschieht. Denn die Ströme von Wirtschaftsflüchtlingen, die sich bisher noch überwiegend in die Industriezentren des eigenen Landes ergießen, bewegen sich, je unlösbarer dort die sozialen Probleme erscheinen, in immer größeren Massen auch auf reiche Großstädte unserer westlichen Welt zu.
Am Anfang
unseres 21. Jahrhunderts lege ich nun zum gleichen Thema ein weiteres
Buch vor, konzentriere mich aber allein auf den indischen Kulturraum -
vor allem auf meine Erfahrungen in Kalkutta.
Warum Indien? Warum Kalkutta?
Indien, mit einer Milliarde Menschen nach China
das bevölkerungsreichste Land der Welt, verfügt über eine besonders
große Anzahl rasch wachsender Millionenstädte. Hatte es in Indien um
1950 überhaupt erst vier Millionenstädte gegeben, so registrierte die
Zählung von 1991 bereits 23, vier davon als Megastädte mit einer
Bevölkerung von über fünf Millionen: Kalkutta, Bombay, Delhi, Madras.
Mitte der neunziger Jahre ist noch Bangalore als fünfte Megastadt
hinzugekommen. Damit ist Indien das Land mit den meisten Megastädten der
Welt - und sie alle zählen zu Beginn des 21. Jahrhunderts schon über 10
Millionen Einwohner, Kalkutta und Bombay gar schon über 15 Millionen.
Indien läßt hier bereits China hinter sich, das trotz seiner noch größeren Bevölkerungsmassen vorerst "nur" drei Städte-Agglomerationen mit solcher Größenordnung aufweist: Shanghai, Beijing (Peking), Tianjin. Indien übertrifft hier aber auch den Kontinent Europa, in dem sich ebenfalls nur drei Megastädte herausgebildet haben: Paris, London, Moskau. Allerdings haben diese europäischen Ballungszentren - im Unterschied zu indischen wie chinesischen - den Höhepunkt ihrer Zuwachsraten längst überschritten und werden kaum jemals mehr als ca. 10 bis 12 Millionen Einwohner haben.
Daß in Ländern der Dritten Welt Megastädte grundsätzlich viel rascher, viel unkontrollierbarer als in westlichen Industriestaaten wachsen - und daß deshalb dort auch die sozialen Probleme viel größer sind -, belegt am deutlichsten das Beispiel Indien. Was Kalkutta betrifft, prophezeite eine 1992 herausgegebene Studie der Vereinten Nationen für das Jahr 2015 rund 17 bis 18 Millionen Einwohner. Ja, eine bereits 1982 veröffentlichte Studie hatte diesem Ballungsraum für das Jahr 2025 gar bis zu 26 Millionen Menschen vorausgesagt.3 Dabei hatte Kalkutta im Jahr 1901 gerade erst die Grenze zu einer Million überschritten und war 1950 nicht weiter als auf rund drei Millionen Eiwohner gekommen.
Der Begriff Megastadt oder Mega-City, der erst vor wenigen Jahrzehnten international in Umlauf kam, ist vom griechischen Wort "mega", "groß", abgeleitet. Er orientiert sich aber nicht, wie oft angenommen, am Niveau urbaner Modernität und Industrialisierung einer "Groß"stadt, sondern allein an der Höhe der Einwohnerzahl. Fünf Millionen Menschen hatten Experten zunächst als Untergrenze festgelegt, inzwischen neigt man nach den Gepflogenheiten der Vereinten Nationen zu einer Untergrenze von acht Millionen.
So problematisch es auch ist, zuverlässige Prognosen für die kommenden Jahrzehnte zu stellen, ist doch unumstritten: Gerade Indien kann als Modellfall dafür angesehen werden, wie einerseits die rapide Landflucht und andererseits die Bevölkerungsexplosion zahlreiche Städte zu monströsen Gebilden werden läßt. Besonders in Indien sind Reichtum und Armut, Entwicklung und Unterentwicklung extrem ungleich verteilt. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen vom Jahr 2002 lebt in Indien nahezu die Hälfte aller Hungernden der Welt, die größte Armut konzentriert sich hierbei in den Dörfern. Und gerade weil einige wenige Millionenstädte nur Inseln progressiver Entwicklung bilden, überschwemmt eine Masse arbeitsuchender Menschen aus Elendsgebieten die Städte. Eine nachhaltige Umkehr dieses Trends ist bisher nicht zu beobachten, obwohl erste Studien 2002 die bisherigen Prognosen vom monströsen Wachstum der Megastädte vorsichtig nach unten korrigieren.
Bereits heute sind Indiens Ballungszentren völlig überfordert, einem Großteil ihrer Einwohner auch nur das Existenzminimum an Wohnraum, sauberem Wasser, Müllbeseitigung und Verkehrsverbindungen zu schaffen. Wenn aber in vielen dieser Millionenstädte oder Megastädte bald die dreifache Einwohnerzahl der Schweiz, Österreichs, Dänemarks leben wird, dann stellt sich die Frage, ob solche Gebilde noch etwas mit den herkömmlichen Strukturen einer Stadt zu tun haben. Mehr noch: Gehen nicht all diese Städte nahezu zwangsläufig einer unerträglichen Belastung und schließlich ihrem Untergang entgegen?
Was Indiens Ballungsräume betrifft, ist für nicht wenige westliche Beobachter die Frage bereits entschieden: Unabwendbarer Niedergang oder zumindest Stagnation scheint dort unausweichlich. Indiens Megastädte hätten so gesehen keine größeren Entwicklungsmöglichkeiten als viele der ausufernden, an ihren Problemen erstickenden Millionenstädte Schwarzafrikas oder Lateinamerikas. Zukunft innerhalb der Dritten Welt könnten nach unserer landläufigen Meinung nur die rasch wachsenden Millionenstädte in China haben. Es böte sich also an, besonders China mit seinen schroffen Gegensätzen zwischen notleidenden Dörfern und aufstrebenden Industriestädten als ein exemplarisches Laboratorium der Zukunft zu betrachten. Mir aber geht es darum zu zeigen, daß auch im so hoffnungslos erscheinenden Indien genug Voraussetzungen gegeben sind, die unkontrollierbar erscheinenden Probleme von Megastädten auf lange Sicht zu bändigen - und Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen, die Anlaß zur Zuversicht bieten. Indien steht hier für viele andere ebenfalls unterschätzte "Entwicklungsländer". (...)
(aus
"Metropole, Moloch, Mythos – eine Reise durch die Megastädte Indiens"
von Gerhard Schweizer)
Das überwältigende Phänomen indischer Megastädte schildert Gerhard
Schweizer in einem überraschenden Reisesachbuch. Wie im Zeitraffer
gelingt ein facettenreicher Einblick in die Megastädte Kalkutta, Bombay,
Delhi,
Bangalore. Er zeigt, daß solche monströs wuchernden Ballungsräume zu den
Kernproblemen des 21. Jahrhunderts gehören werden. (Klett-Cotta)
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