(...) Endlose Monde, düster-schattige Welt, Donnergrollen, Wirbelstürme, Erdbeben. Selten waren die Momente der Ruhe; die Stirn auf den Knien, die Arme um den Kopf gelegt, dachte ich, horchte ich, begehrte ich, nicht zu existieren. Aber da war das Leben, eine durchscheinende Perle, ein Gestirn, das sich langsam um sich selbst drehte. Ich war blind. Meine Augen hingen an dieser anderen Welt, diesem anderen Leben, das Tag für Tag weiter verblaßte. Die Farben waren erloschen, die Bilder wurden undeutlich. Noch blieb mir erstauntes Rufen, leises Weinen. Die machtlose Erinnerung bedrückte mich, die Melancholie versengte mich. Wer bin ich? fragte ich den Tod, der zu meinen Füßen hockte. Er knurrte und gab keine Antwort.
Wo bin ich? Ich hörte Lachen, Stimmen, die sagten: »Bestimmt wird es ein Junge, Hoher Herr. Er bewegt sich. Er trägt den Zorn in sich.«
Es war gleichgültig, wer ich sein würde. Ich war dieser Unermeßlichkeit bereits überdrüssig. Ich war es überdrüssig, zu hoffen, zu warten, ich zu sein, der Nabel der Welt.
Das Rauschen des Windes beruhigte mich. Ich horchte auf das Plätschern des Regens. In meinem Himmel, in dem die Sonne niemals aufging, hörte ich den Gesang eines kleinen Mädchens. Die sanfte, unschuldige Stimme wiegte mich. Meine Schwester, ein großes Unglück befürchtete ich für sie. Eine Hand versuchte mich zu liebkosen. Doch waren wir durch eine Mauer getrennt. Mutter, Schatten auf der Wand meines Denkens, wißt Ihr, daß ich ein Greis bin, verurteilt dazu, das Gefängnis Eures Fleisches zu bewohnen? Am Grunde des Sees, im sepiabraunen Wasser, drehte ich mich, kauerte mich zusammen, streckte mich, kreiste um mich selbst. Tag für Tag schwoll mein Körper an, wurde mir schwer, würgte mich. Ich hätte eine Nadelspitze sein wollen, ein Sandkorn, das Spiegelbild der Sonne in einem Wassertropfen, doch ich wurde ein Stück Fleisch, das explodierte, ein Berg von Falten, von Blut, ein Seeungeheuer. Ein Atemhauch hob mich hoch und wiegte mich. Ich war jähzornig. Ich empörte mich über mich selbst, über die Frau, die meine Kerkermeisterin war, über den Tod, meinen einzigen Freund. Man erwartete mich. Ich hörte raunen, der Junge solle »Licht« heißen. Die Geräusche der Vorbereitungen hielten mich vom Meditieren ab. Man sprach von Kleidern, von Windeln, von Festen, von Ammen, fetten, weißen, drallen. Man verbot, meinen Namen auszusprechen, aus Angst, die Dämonen könnten meine Seele rauben. Man erwartete mich, damit ich dort anfinge, wo ihre Schicksale stehengeblieben waren. Ich hatte Mitleid mit diesen fiebrigen, geschwätzigen, habgierigen Wesen. Sie wußten noch nicht, daß ich ihre Welt zerstören würde, um die meine zu erbauen. Sie wußten nicht, daß ich die Erlösung durch die Flammen bringen würde, durch das Eis.
Eines Nachts schreckte ich hoch. Das Wasser kochte. Tobende Wellen schlugen gegen mich. Zusammengekauert kämpfte ich gegen die Angst, konzentrierte mich auf meinen Atem, auf das Ziehen des Schmerzes. Die sich brechenden Wogen warfen mich in eine enge Mündung. Ich schlitterte zwischen den Felsen hindurch. Mein Leib blutete. Meine Haut zerriß. Mein Kopf implodierte. Ich ballte die Fäuste, um nicht zu schreien.
Jemand zog mich an den Füßen hoch und schlug mir auf den Hintern. Kopfüber erbrach ich mein Weinen. Man hüllte mich in Tücher, die mir Schrammen machten. Ich hörte die ängstliche Stimme eines Mannes: »Junge oder Mädchen?«
Niemand antwortete. Der Mann packte mich und versuchte, mein Leibchen aufzureißen.
Das Jammern einer Frau unterbrach ihn:
»Wieder ein Mädchen, Hoher Herr.«
»Ah!« schrie er auf und brach in Tränen aus.

Ein Dutzend Frauen überwachten mein Wachstum. Drei Ammen wechselten sich ab, um meinen Durst zu stillen. Mein Appetit war furchterregend. Schon lachte ich. Meine Augen, dicke schwarze Perlen, rollten in ihren Höhlen. Tag und Nacht besah ich mir die Welt und wollte nicht einschlafen. Meine Betriebsamkeit beunruhigte meine Mutter, die des Exorzismus kundige Mönche zu Hilfe rief. Aber niemand vermochte mir den Dämonen auszutreiben, der in mir wohnte.
Ich wurde ihrer Befürchtungen schließlich überdrüssig. Unter meinem feinmaschigen Fliegennetz gab ich Schläfrigkeit vor, um meinen Frieden zu haben, eine Frau sang und bewegte dazu meine Wiege. Eine andere schwenkte einen Fächer, um die wenigen fliegenden Insekten zu vertreiben, die in diese parfümierte Welt eingedrungen waren. Bei geschlossenen Lidern ließ ich meine Gedanken zum Fenster hinausfliegen.
Das Reich, in dem Vater als absoluter Herrscher regierte, bestand aus zwei Teilen. Das Vordere Viertel war den Männern vorbehalten. Aufseher, Sekretäre, Buchhalter, Köche, Pagen, Diener, Stallburschen, Wachen, Lakaien machten sich vom Morgengrauen an zu schaffen. Beamte und Offiziere exerzierten Befehle und ritten davon. Truppen von Soldaten trainierten den ganzen Tag in einem Seitenhof. Diese männliche Welt endete vor einem purpurfarbenen Portal, an dem der Frauenhof begann. Hinter der hohen, schneeweißen Mauer lebten Hunderte von Frauen, alte, junge, Mädchen. In ihren Haarknoten trugen sie aufgesteckte Blumen, Jaderinge waren in ihre seidenen Gürtel geknüpft. In diesem achten Jahr der Kriegerischen Tugend bevorzugte die Mode die bleichen Töne des knospenden Frühlings, und die Kleider waren im Gelb des Krokus gehalten, im Grün der Narzissenblätter, im freundlichen Rosa der Kirschblüten, im Karmesinrot der Sonne, die sich in den Seen spiegelte. Besenmädchen, Dienerinnen, Schneiderinnen, Stickerinnen, Trägerinnen, Ammen, Köchinnen, Gouvernanten, Aufseherinnen, Kammerfrauen, Sängerinnen, Tänzerinnen, alle bewegten sie sich gemessenen Schrittes und sprachen leise. Sie standen im Morgenrot auf, badeten in der Dämmerung. Blumen im Garten meines Vaters, erblühten sie, um zur Schönheit eines einzigen Menschen beizutragen.
Mutter kleidete sich schlicht. Ihr Hüsteln kommandierte, ihr Blick befahl. Sie war von natürlicher Eleganz. Die Moden kamen und gingen, ein flatternder Schmetterling, Mutter behielt den ewigen Frühling. Ihr Klan, die Yang aus der Region Hong Nong, gehörte zu den dreißig vornehmsten Familien des Kaiserreichs. Als Tochter, Nichte, Schwester der Großminister, Cousine der Kaiserlichen Gemahlinnen, nahe Verwandte des Kaisers und der Prinzessinnen, trug Mutter die Würde wie ein Juwel, einen Mantel, einen Glorienschein. Sie gab Almosen für die Klöster und verteilte Essen an die Bettler. Sie war glühende Buddhistin, aß vegetarische Kost und interessierte sich nicht für den Tumult der diesseitigen Welt. In ihrer gepflegten Schrift kopierte sie die Sutras und träumte davon, ins Land der Äußersten Freude des Buddha Amida zu gelangen, Dessen, der die zahllosen Sonnenstrahlen aussandte.
Mutter war kühl, behutsam, beruhigend. Ihre eindringliche, düstere Sanftheit erinnerte mich an die Jadescheibe, die man über meiner Wiege aufhängte. Ich sehnte mich nach ihr. Das Warten machte mich nervös. Von Zeit zu Zeit erschien sie, nach mehreren Tagen des Wegbleibens. Wenn sie kam, brachten ihre lange Seidenschleppe und ihr endloser Musselinschal die Vorhänge in meinem Zimmer zum Zittern. Unter der Liebkosung ihrer Pantoffeln schnurrte der Boden vor Vergnügen. Ihr Duft ging ihr voran. Sie roch nach Sonne, nach Schnee, dem Ostwind, Blütenkronen voller Glück. Sie nahm mich nie auf den Arm und begnügte sich damit, mich von ferne zu betrachten. Ich verschlang sie mit den Augen. Ihre Lippen waren zwei purpurrote Blütenblätter. Ihr vollkommen gezupftes Gesicht war glatt wie ein Spiegel. Die Augen unter ihren Brauen, die rasiert und in der Form von Grillenflügeln nachgezeichnet waren, verrieten ihre Enttäuschung. Sie hätte einen Jungen haben wollen.

Die Granatbäume explodierten in ihrer Blütenpracht, und der Sommer kam. Mein hundertster Lebenstag gab Anlaß zu einer Feier. Mutter hatte den Pavillon auf dem See öffnen lassen und ihre adeligen Freundinnen und Verwandten zu einem prächtigen Festmahl geladen.
In dem vom glänzenden Wasser umflossenen Saal ging ich von Hand zu Hand. Man liebkoste mich, man schmeichelte mir. Die Dienerinnen kamen die Stufen herauf und legten Geschenke nieder. Eine Dame schenkte mir ein Paar smaragdene Armreifen. Sie war überzeugt, daß meine schwarz glänzenden Augen von Intelligenz zeugten. Eine andere ließ auf einem Silbertablett neun Goldbarren bringen, und sie sagte, meine breite Stirn künde von einer Zukunft im Zeichen einer reichen, glücklichen Ehe. Eine andere überhäufte mich mit neun Rollen Brokat. Sie sagte, meine gerade Nase, meine vollen Wangen, mein runder Mund versprächen außerordentliche Fruchtbarkeit: Ich würde zahlreiche Jungen gebären.
Mutter war zufrieden. Auf ihr Kopfnicken hin entrollte man nach der ersten Hälfte des Festmahls einen seidenen Teppich, befreite mich von meinen Binden und setzte mich darauf. Die Dienerinnen verstreuten ein Dutzend Gegenstände. Ich vergaß diese Versammlung blasser, reich geschmückter Frauen, griff nach einem Spielzeug und versuchte es hochzuheben. Ein Raunen ging durch die Reihen, und eine Frau kommentierte:
»Sie erwählt nicht die Puderdose, das Zeichen der Schönheit, nicht die Jade des Adels, nicht die Flöte der Musik, nicht das Buch der Weisheit, nicht den Abakus des Handels, nicht die Gebetskette der Spiritualität. Meine liebe Cousine, die Zukunft Eurer Tochter wird ganz einzigartig sein. Es ist wirklich schade, daß sie kein Junge ist.«
»In der Tat, Hoheit, äußerst schade«, wiederholte eine andere.
»Nun, darüber darf man nicht verzagen«, ließ sich eine sonore, stolze Stimme vernehmen. »In unseren Zeiten sind Frauen zu tausend Heldentaten in der Lage. Einst kämpfte die Große Prinzessin Sonne von Ping für ihren Vater, den Erhabenen Herrscher. Bei ihrem Begräbnis ließ Ihre Majestät Trompeten und Trommeln spielen, obgleich diese Ehre den Männern vorbehalten ist. Deine Tochter hat die gewölbte Stirn, um den himmlischen Atem zu empfangen, hat lichtvolle Augen, einen festen Kiefer, großzügige Lippen, und sie hat das Schwert ihres Vaters berührt. Wunderbar! Meine Liebe, kleide sie fortan wie einen Jungen. Gib ihr eine Erziehung, die ihrer Bestimmung würdig ist. Die Tochter eines Generals liebt das Befehlen. Ich sehe die Herrin eines edlen Hauses von Kriegern!«
Bald schon verspürte ich das Verlangen, auf die Welt zuzugehen, statt sie in meiner Wiege zu empfangen. Da ich mich nicht auf den Füßen halten konnte, kroch ich. Ein Schritt in Richtung des Unbekannten erforderte das Zusammenspiel aller Muskeln. Die Augen fest auf einen Gegenstand gerichtet, die Ohren gespitzt, den Mund geöffnet zu stummem Gebrüll, hob ich einen Arm, ein Bein, spaltete ich den Kosmos.
Ein bärtiger Mann beugte sich über mich. Er war in einen mit Zobel gefütterten Seidenmantel gehüllt, offenbar kam er von weit, weit her. Als ich ihn sah, hörte ich den Galopp der Pferde, das Klirren der Waffen, das hemmungslose Stöhnen der Kurtisanen. Sein bestialischer Gestank ließ mich erschaudern. Seine rohen Küsse verschrammten meine Wange.
Ein kleines Mädchen beobachtete mich. Ich war fasziniert von ihrem rosigen Teint, den reinen Zügen, den kräftigen Beinen, den dunklen Augen, der Holzente, die sie hinter sich herzog. Nachdem sie sich nach allen Seiten hin umgesehen hatte, legte sie einen Finger in meine Hand, und ich drückte zu, bis das Mädchen errötete und zu weinen begann. »Tut Eurer Schwester nicht weh«, sagte mir Amme. Sie wußte nicht, daß Große Schwester mich später, wie in diesen Tagen der Unschuld, anflehen würde, zu ihrem Peiniger zu werden. Im neunten Jahr der Kriegerischen Tugend dankte der Kaiser zugunsten seines Sohnes ab. Zwölf Monde später berief der neue Herrscher Vater aus der vornehmen Provinz Yang ab, in die er entsendet worden war, und delegierte ihn als Gouverneur in die Provinz Li, wo gerade der Aufstand des Prinzen Li Xiao Chang niedergeschlagen worden war.
Ich war zwei Jahre alt. Ich stolperte zwischen den Holzkisten, den mit Ölzeug bespannten Planwagen umher, nichts wußte ich vom Schmerz eines Vaters, der fern vom Hofe leben muß. Die Pferde und die Ochsen folgten der endlosen Straße, die dem Horizont zustrebte. Durch den Schlitz in der Wagentür hindurch verschlang ich die Welt. Draußen legten sich die durchgeschüttelten Farben in Falten, breiteten sich aus, verschlangen sich ineinander. Wir werden uns wiedersehen, Ewiger Frieden, die Stadt meiner Geburt!
Der steinige Weg hielt mich wach. Wir durchquerten eine weite Ebene, deren karge Erde in der Sonne rissig geworden war. Horden von Kindern in Lumpen kamen und verneigten sich, als wir vorüberfuhren. Ich staunte, daß es so magere, so schmutzige Wesen gab. Mutter ließ Fladen verteilen, Brot, Reisbrei, den sie noch heiß hinunterschlangen.
Fragen über Fragen quälten mich. Den ganzen Tag löcherte ich die Erwachsenen:
»Was ist Hunger? Warum muß man die Felder bebauen? Was ist Weizen? Wie macht man Brot? ...«
Nach einem Monat der Reise gelangte die Karawane in die dunstverhangenen Berge. Den Weg hatte man in die Bergwand gehauen, und weiter unten tobte der Fluß Jia Ling und schlug gegen die zerklüfteten Felsen. Festungen erhoben sich auf den Gipfeln, Militärposten öffneten uns ihre Schranken. Die kaiserlichen Soldaten, bäuerliche Männer, tranken aus angeschlagenen Schalen und aßen mit den Fingern Ochsenschenkel. Abends sangen sie am Feuer und schlugen die Trommeln. Mit nacktem Oberkörper tanzten sie und kämpften mit hölzernen Säbeln. Der Mond ging auf. Ich schlief unter dem Brüllen der Tiger ein. Das Morgenrot erhob sich. Die Vögel schwangen sich empor, auf der Suche nach der Sonne. Von Liane zu Liane schwingend, flohen Affen vor dem Licht und stießen spitze Schreie aus. Warum errötet der Himmel? Warum erstarren die Bäume? Warum ritzen sich die Flußschiffer die Gesichter auf? Blutüberströmt hoben sie den Anker und warfen sich ins tosende Wasser. (...)


aus "Kaiserin" von Shan Sa
Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke
Ihr Name wurde geschmäht, ihre Geschichte gefälscht, ihr Gedächtnis gelöscht. Es ist die Rache an der Frau, die es wagte, Kaiserin zu sein. Nun öffnet sie erstmalig die Tore ihrer Verbotenen Stadt.
Eigentlich sollte sie ein Junge werden, als sie im siebten Jahrhundert zu Zeiten der sagenhaften Tang-Dynastie geboren wurde. Denn sie sollte die Schmach ihres Vaters rächen, den ein Staatsstreich in die Verbannung trieb. Doch das Schicksal will es anders, und mit zwölf Jahren gelangt sie als eine von zehntausend Frauen in die Verbotene Stadt, um dem Kaiser zu dienen. Als das mutige Mädchen dem Sohn des Kaisers ins Auge fällt, ist sie nicht länger eine von vielen. Sie gerät in die Kreise der Macht und damit in einen Strudel von Mißgunst, Intrige und Mord, dem sie ihr Leben lang nicht mehr entkommen wird. Als Herrscherin über das größte Reich unter dem Himmel droht ihr der Verrat – selbst von den eigenen Kindern. Ein eindrucksvolles literarisches Fresko als Bestätigung eines außergewöhnlichen schriftstellerischen Talents: Shan Sa und die mächtige Kaiserin.
Shan Sa, geboren 1972 in Peking, veröffentlichte mit 8 Jahren ihren ersten Gedichtband und wurde zum »Aufsteigenden Stern Pekings« gekürt. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz. 1989 emigrierte sie nach Paris, wo sie sich mit der Tochter des Malers Balthus anfreundete und dessen Haus kalligraphierte. Heute zählt sie zu den begehrtesten auf fanzösisch schreibenden Autoren. Nach ihrem Welterfolg »Die Go-Spielerin« demonstriert sie in dem historischen Roman »Kaiserin« eindrucksvoll ihr Talent als große Erzählerin. (Piper)
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