Die sieben Leben des James Joyce

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troia Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten und seiner Freund Zurückkunft.

Homer, "Odyssee", 1,1 -5 (Ü: Johann Heinrich Voss)

Die höchste wie die niedrigste Form der Kritik ist eine Art Autobiographie.
Oscar Wilde, "Vorwort" zu "Das Bildnis des Dorian Gray" (1891)

Noch eine Joyce-Biographie? Ist nicht längst alles gesagt? Eine neue Darstellung von James Joyces zähem Ringen um den Ruhm eines Homer, Dante Alighieri oder Henrik Ibsen ist sehr wohl vonnöten. Denn über 60 Jahre nach seinem Tod hängt unser Wissen immer noch stark von den Deutungen ab, die er selbst gefördert hat oder mittels Nachlass posthum verbreiten ließ. Folglich geht es mir statt um Entdeckung unbekannter Quellen eher um eine eigenständige Darlegung und Auswertung der schriftlichen Zeugnisse, die viele Forscher bisher im Sinne der Biographie Richard Ellmanns gelesen haben.

1959 zuerst publiziert, längst kanonisiert, als sie 1982 revidiert wurde, ist Ellmanns "James Joyce" auch im deutschsprachigen Raum als gültige Einführung in Leben und Werk akzeptiert. Ellmann suchte die Lücken im Lebenslauf durch Anleihen bei den fiktiven Texten Joyces zu füllen, was ihm international viel Kritik eingetragen hat. Zugleich stockte die biographische Diskussion, denn außer Ellmann ist im deutschsprachigen Raum seit 1960 nur Jean Paris mit der klugen, doch biographisch sprung- und fehlerhaften Monographie greifbar gewesen. Im Juni 2004 wird sie ersetzt. Hier sei nun erstmals ausführlich Gelegenheit geboten, den Lebenslauf des Schriftstellers aus Sicht deutschsprachiger Kulturen zu verfolgen.

Eine, wenn nicht die ideale Kontrastfigur steht in Person des polyglotten Kaufmannes, Archäologen und Autobiographen Heinrich Schliemann (1822-1890) bereit: ein "Mythomane", ein beinahe besessener Erzähler, ein Lügenbaron gar, jemand mit Neigung "zur Verklärung des eigenen Lebens, das in einen heroischen Kontext gestellt wird und durch den Abglanz des Irrealen oder Mythischen aus ursprünglicher Dunkelheit (durch die Herkunft oder erlittene Kränkungen) in den Glanz der öffentlichen Geltung rückt" (Manfred Flügge).

Mögen Schliemann und Joyce noch so verschieden sein, der eine Pfarrersohn, der andere Jesuiteneleve, im disziplinierten Streben, die nach langer Suche ins Auge gefassten Ziele zu erreichen - Troia für Schliemann und "Ulysses" für Joyce - stimmen sie überein. Wenn Joyce sich mit Dante, Shakespeare, Wagner, Ibsen misst, träumt er mitnichten, vielmehr inszeniert er ein Wunsch-Ich. Dieses findet mit "Ulysses" und seiner Erhebung zum Klassiker just 1922 im Jahr von Schliemanns 100. Geburtstag Widerhall in der Wirklichkeit.
Schliemann, noch weiter gereist als Joyce und mindestens so vielsprachig, kann immer wieder als Kontrast- und Parallelfigur erschlossen werden. Bisher in diesem Zusammenhang nur Klaus Reichert einmal eine Fußnote wert, hat auch Schliemann von Paris aus seinen Weg als Autor begonnen.

James Joyce sieht sein Leben als Odyssee und als Martyrium. Den sieben Stationen seines Kreuzweges stehen sieben Lebensorte gegenüber, wo er mindestens ein halbes Jahr verbrachte: Dublin, Paris, Zürich,Triest,Pula, Rom, London. In der Zahl Sieben sieht Joyce immer wieder Sinn - wie Unglück in der Zahl Dreizehn.

Der Joyce-Kanon von sieben publizierten Büchern ist in einer Biographie weniger inhaltlich als mit Bezug auf die Entstehung und frühe Wirkung zu betrachten. Immerhin sind die Texte heute verfügbar, was zu Lebzeiten kaum und keineswegs überall galt, denn Joyce, kein Kompromissler, gerät in Konflikt mit Zensur und öffentlicher Moral.

Katzengleich, zäh, als habe er sieben Leben, listig, ein moderner Odysseus, der wie Schliemann mitunter als Gentleman mit den Mächtigen Kontakt aufnimmt, wenn sie ihm nützen können, überlebt Joyce zahllose Krisen - auch harte Kritik abfedernd.
Der Kontinent Europa ohne Grenzkontrollen und ohne Passzwang, wie ihn Schliemann im 19. Jahrhundert und auch Joyce bis 1915 kennt, ist nach 1939 gut fünfzig Jahre geteilt. In dieser Zeit sind die deutschsprachigen Kulturen Deutschlands und Österreichs, aber auch die multikulturellen Verhältnisse in Triest aus der internationalen Wahrnehmung herausgefallen. Der lange ungesicherte Nachruhm eines Italo Svevo oder Ford Madox Ford, beide Wegbegleiter von James Joyce, ist so zu erklären. Folglich sind die ersten Arbeiten zu James Joyce viel stärker an den Interessen amerikanischer Wissenschaftler und an seinem Ruhm jenseits des Atlantik orientiert als an den Anfängen in Dublin und Triest oder gar an den aus historischen Gründen verpönten deutschsprachigen Quellen und Hintergründen von Joyces Werk - von anglo-deutschen Freunden wie Ford ganz zu schweigen.

Diesem Manko abzuhelfen ist Ziel dieser Darstellung, nicht zuletzt weil Joyce, hier wiederholt kontrastiert mit Schliemann, über literarische Projekte Irland der Landkarte Europas einschreiben will - mittels sprachlicher Ausgrabungen, analog zu den archäologischen, linguistischen, psychologischen Kartierungen, die neben dem deutschen Archäologen etwa Ferdinand de Saussure und Sigmund Freud auf ihrem jeweiligen Gebiet vorgenommen haben.

Europa wächst zusammen, und Irland liegt im Jahr 2004 näher als je zuvor an den Zentren Europas. Anders als Schliemann kennt Joyce Amerika und Afrika, Spanien und das in "Ulysses" erwähnte Gibraltar nur aus Büchern, dafür als Eisenbahnreisender Frankreich, Italien, die Schweiz, Österreich, Deutschland, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Dänemark, England, Wales, Schottland und Irland um so besser. Ansonsten hat er Europa im Kopf: Sprache, Orte, Geschichte und Geschichten: sieben Stationen lang. Wer Joyces Werk liest, kann ihm besser folgen.


(Aus "James Joyce" Jörg W. Rademacher.
Mit Stammbaum, Zeittafel und Fotocollagen von Stephan Frede.)

James Augustine Aloysius Joyce, geboren 1882 in Dublin und Zögling mehrerer Jesuitenkollegs, hat die Literatur des 20. Jahrhunderts  revolutioniert, die Tabus seiner Zeit gebrochen und sieben Meisterwerke hinterlassen, wie ein bekannter Kritiker schrieb. Sein Roman "Ulysses" dürfte mit das berühmteste ungelesene Werk der Weltliteratur sein, auch wenn Ort und Zeit klar umrissen sind: der 16. Juni 1904 in Dublin. Wer Joyces Biografie kennt, findet Zugang zum Bewusstseinsstrom der Protagonisten des "Ulysses" und zum Werk eines in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Autors.
Mit 22 Jahren verließ James Joyce, der aus einer ehemals vermögenden katholischen Familie stammte, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Nora Barnacle, einer Hotelangestellten,  Irland und ging freiwillig ins Exil. Geheiratet hat er Nora erst 1931. Vorher wussten nicht einmal die eigenen Kinder, dass die beiden nicht verheiratet waren. Von Anfang an hat Joyce die Zensur und alle Konventionen mit Lust und List bekämpft.
Als moderner Odysseus lebte er in Paris, Rom, Triest und Zürich und schlug sich als Sprachlehrer, Bankangestellter und Journalist durch. Er war sein Leben lang ein Gentleman ohne Geld, das ihm nämlich durch die Finger rann. Besessen von seinem Werk und unbeirrbar auch in Zeiten des quälenden Misserfolgs, blieb Joyce abhängig von der Hilfe der Familie, guter Freunde und weiblicher Mäzene. Als chronisch Augenleidender brauchte er schließlich sogar Vorleser und Sekretäre. Der Ire mit britischem Pass starb 1941 in Zürich. (dtv)
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