Der Nicht-so-schnell-Bus
Dies ist der Raum, der in den Iran führt. Er ist lang gestreckt, an beiden Schmalseiten
befindet sich eine Tür. Die Wände sind kahl bis auf zwei Porträts, eines über
jeder Tür. An der westlichen Tür wacht General
Kemal
Atatürk über die Grenze seines Landes. An der östlichen Ayatollah Ruhollah
Khomeini. Ich gehe in die Mitte und stehe wie ein Flamingo auf einem Bein, ein
Balanceakt zwischen den beiden Ländern.
Ich lande wieder auf beiden Beinen, als eine Gruppe
Frauen durch Atatürks Tür hereingeweht kommt. Sie sind alt und verhutzelt, alle
winzig und in weiße Schleier gehüllt. Sie flattern umeinander herum und hocken
sich dann auf den Boden, wobei sie den Stoff unterm Kinn zusammenraffen. Die
Zähne benutzen sie wie Zusatzfinger, sie zupfen und ziehen an ihrer Kleidung
herum, als könnten sie sich den ganzen Tag damit abmühen, ohne es jemals richtig
hinzubekommen. Sie sind so schreckhaft, dass schon eine Winzigkeit - eine Tür,
die sich öffnet, jemand, der zu dicht an ihnen vorübergeht, eine an sie
gerichtete Frage - sie in alle Richtungen auseinander stieben lässt. Wie
aufgeschreckte Hühner. Sie flattern füßescharrend und mit wehenden Schleiern
auseinander; dann kommen sie allmählich wieder zusammen, die Stimmen werden
tiefer, die Bewegungen ruhiger, und sie kehren zu leisem Geplauder und der
Aufgabe zurück, sich bedeckt zu halten.
Beim Kauf unserer Busfahrscheine
in Istanbul teilte man uns mit, die Fahrt nach Teheran - ungefähr zweitausend
Kilometer in südöstlicher Richtung - koste umgerechnet fünfundzwanzig US-Dollar
und dauere vierundzwanzig Stunden. Wir wollten schon früher aussteigen, in
Tabriz, direkt hinter der iranischen Grenze. Grob gerechnet also nach etwa
achtzehn Stunden Fahrtzeit. Wir aßen uns in der nächstgelegenen Garküche
nochmals richtig satt und kauften uns vom Rest unseres türkischen Geldes ein
bisschen Brot und Obst für die Reise.
Irgendwann nach etwa dreißig
Stunden fragten wir unseren Mitreisenden auf dem Sitz hinter uns, wie es käme,
dass wir uns noch immer auf der anatolischen Ebene befänden. Er lächelte und
erklärte, vierundzwanzig Stunden sei die "poetische" Zeit, die Zeit, die man zum
Beispiel mit einem guten Wagen benötigen würde, wenn man ohne Pause führe.
Vielleicht mit einem deutschen Auto. Aber verstehen Sie, das hier ist ein
iranischer Bus mit vielen alten Teilen, der ist nicht so schnell, und wir machen
Pausen, um zur Toilette zu gehen und zum
Beten, und dann ist da auch noch die
Grenze, wo es manchmal sehr lange dauert. Also wird es in Wirklichkeit eher zwei
oder drei Nächte dauern.
Khosro hatte sich gleich beim Einsteigen in Istanbul mit uns angefreundet. "Entschuldigen
Sie", sagte er, als er uns englisch sprechen hörte. "Reisen Sie
in
den Iran?" Wir nickten. Er lehnte sich wieder zurück und übersetzte für
seinen Freund Hussein. Ein paar Sekunden später streckt Khosro erneut den Kopf
über unsere Rücklehne vor. "Entschuldigung, fahren Sie freiwillig?"
Wir hatten die Stadtgrenze Istanbuls
noch nicht hinter uns, da ging schon der erste Mitreisende mit einer Schachtel
Kekse durch den Bus und bot jedem Passagier einen an. Ein paar Stunden später
reichte jemand Datteln
herum, dann Sonnenblumenkerne, dann etwas, das an Zuckerwatte
erinnerte. Khosro und Hussein gaben uns in regelmäßigen Abständen Brot und
Gemüse nach vorn. Als ich mich für den Auberginen-Kaviar bedankte, der ganz
köstlich war, bestanden sie darauf dass wir gleich drei Dosen nahmen. Nein,
vier. Hier ist noch eine. Die alten Frauen vor uns streckten von Zeit zu
Zeit die Hände zwischen den Sitzen durch, griffen nach meinen Händen und füllten
sie mit Nüssen. Das Paar auf der anderen Seite des Mittelgangs reichte uns jedes
Mal eine Flasche Orangenlimonade, wenn wir in seine Richtung sahen.
Und
wir hatten die Stadtgrenze Istanbuls noch nicht hinter uns, da hatte der Bus
schon die erste von ich weiß nicht wie vielen Pannen. Mehr als fünf. Bei jedem
Kollaps stieg ein Teil der Männer aus dem Bus und gruppierte sich mit ernstem
Blick, die Hand ans Kinn gelegt, um den Motor. Manche beteten am Straßenrand.
Außer den Busfahrern sah ich nie irgendeinen aus der Versammlung etwas anderes
tun als den Motor anstarren.
Wir anderen standen inzwischen am
Straßenrand herum und machten uns bekannt.
Khosro war in Istanbul
gewesen, um ein Touristenvisum für die Vereinigten Staaten zu beantragen. Er
nahm den Bus von Teheran (poetische Zeit vierundzwanzig Stunden, reale Zeit
fünfundsiebzig), verbrachte zwei Tage mit seinem Visumgesuch in der
amerikanischen Botschaft in Istanbul und befand sich nun auf dem Rückweg nach
Teheran. Sein Antrag war abgelehnt worden, doch er hatte vor, es nächstes Jahr
wieder zu versuchen. Hussein war zur Gesellschaft mitgekommen. Ob ihm Istanbul
gefallen hatte? Ja, sehr schön, auch wenn er nur die Blaue Moschee und die
amerikanische Botschaft gesehen hatte.
Auch die meisten anderen Passagiere waren
in
Istanbul gewesen, um ein Visum nach Emrika zu beantragen. Keiner
hatte Erfolg gehabt, aber die meisten hatten vor, es nächstes Jahr wieder zu
versuchen. Jeder hatte mindestens einen Freund oder ein Familienmitglied zur
Gesellschaft mitgenommen; ein Mann sogar sechs seiner Vettern. Eine Familie
machte Urlaub, mehrere Leute befanden sich auf religiöser Pilgerfahrt, und ein
junges Paar kehrte von den Flitterwochen zurück.
Sie
waren stolz und nervös, diese beiden, befangen miteinander, schwindlig beim
Gedanken, nun zusammenzugehören. Er war älter, viel älter, und bemühte sich,
zuversichtlich dreinzuschauen. Sie war jung - vielleicht vierzehn - und voll
Ehrfurcht vor der Welt. Sie hielten sich von den anderen abgesondert, lächelten
einander oft an und unterhielten sich flüsternd, befangen. Gelegentlich
berührten sich ihre Hände in der Öffentlichkeit. Sie beteten bei jeder
Gelegenheit. Sie war die einzige Frau im Bus, die das komplette Hedschab trug,
die vom Islam vorgeschriebene Bedeckung zum Schutz der weiblichen Sittsamkeit:
ein schwarzer, bodenlanger Mantel, ein Kopftuch, eng ums Gesicht gebunden, und
das Ganze vom Tschador bedeckt, dessen schwarze Stoffbahnen sich über Kopf und
Arme legten. Die älteren Frauen trugen weiße Schleier, die Farbe der Trauer. Die
jüngeren Frauen hatten Bluse und Hose an, manche ein Kleid, eine Jeans. Nur eine
Hand voll von ihnen trug Kopftücher.
Als wir uns jedoch der Grenze
näherten, wurden Mäntel und Tücher aus den Taschen gezogen, und die Kostümierung
begann. Meine Nachbarin von gegenüber zerrte einen blauen Trenchcoat heraus,
verdrehte die Augen und zog den Mantel im Mittelgang an. Sie warf sich lose ein
purpurrotes Kopftuch über; das toupierte Haar sorgte für mehrere Zentimeter Luft
zwischen Kopf und Tuch.
Die letzten Kilometer in der Türkei legten wir im
Schneckentempo zurück. Soldaten, die gegen die aufständischen
Kurden im
Ostzipfel des Landes postiert waren, hatten eine Folge von Straßensperren
errichtet. Dies sei Kriegsgebiet, erklärte man uns. Daher seien die
Sicherheitsvorschriften streng. Das waren sie tatsächlich. So streng, dass die
einzige Möglichkeit, sich zwischen den Panzern auf der Straße durchzuschlängeln,
darin bestand, dem Soldaten, der unsere Pässe überprüfte, ein paar
Geldscheine in die Hand zu drücken. Und dann auch noch dem anderen Soldaten und
seinem Freund und dem, der drohte, uns alle aussteigen zu lassen und jede Tasche
und jeden Koffer einzeln zu filzen. Für den ein paar Extra-Scheinchen. Innerhalb
einer Stunde passierten wir acht solcher "Sicherheitssperren". Manche Soldaten
nahmen den Passagieren bei der Kontrolle Zigaretten ab; manche schacherten
direkt mit dem Fahrer. Ein Trupp von Soldaten verzichtete ganz auf die Sitte,
die Pässe anzuschauen, stieg einfach ein und sagte, sie brauchten Geld für
Tee.
Vierzig unpoetische Stunden nach der Abfahrt in Istanbul erreichten
wir die türkische Grenze.
Und da befinden wir uns jetzt. Und
warten.
(Aus "Meine iranische Reise" von
Alison Wearing.
Deutsch von Barbara Ostrop.)