Flut und Ebbe
In einem fernen, umbrandeten Land
Spielen die Mädchen ein Spiel an dem Strand
Schreiten
im Reigen, heiter gesinnt,
Wann zu steigen die Flut beginnt
Weichen zurück in gemessner Flucht
Aus der schwellenden Meeresbucht.
In den Gewässern ruhigklar
Werden sie krause Gestalten gewahr,
Rollt eine Woge, sie sehen ein Ross,
Sehn einen
Reiter,
bis er zerfloss.
"Schauet den Meermann! Garstig Gesicht!
Grinsende Larve, du haschest mich nicht!"
Aber das Meer es wächst und naht -
"Fliehet, ihr
Schwestern! Sonst wirds zu spät!"
Alle sie stürzen in hastigem Lauf,
Gleiten und reissen die Strauchelnden auf
Bis zu der Bank, wo die
Ebbe
beginnt
Wo, wie sie wissen, das Wasser zerrinnt.
Dort ist gelagert der flüchtige Chor,
Zieht an dem Felsen die Füsse empor
Fleht in den
Himmel mit brünstigem Schein:
"Götter! ihr lasset die Unschuld allein?"
Aber die Flut, da den Raub sie berührt
Hat das Verhängnis des Ebbens gespürt,
Und, wie erschreckt durch das maidliche Ach
Gleitet sie nieder und fällt gemach! -
Gegen die Ziehnde mit drohendem Arm
Hebt sich verfolgend der blühende Schwarm:
"Höhnet die Feigen! Sie fliehn aus dem Krieg!
Kränzet die Locken und feiert den Sieg!"
Also vergnügt sich das sterbliche
Heer
Mit dem gelassnen, dem ewigen
Meer.
(von C.F. Meyer)