(...) Langer Rede, kurzer Sinn, sagte Miltão, laß die Finger von den Drogen, Kleiner. Ein für allemal. Wenn du ein richtiger Dealer werden willst, Hände weg von Crack, Gras, Schnee und all den leckeren Sachen, die wir hier verkaufen.

Es war völlig ohne Bedeutung, ob jemand, der den Hügel hochging, weiß war oder schwarz, süchtig, Journalist, barmherzig von Berufs wegen oder Abenteurer und schwer in Ordnung, die Anweisung war einfach und klar: Die Dealer mußten alles über die Leute wissen, die die Favela betraten. Mißtraut jedem, sagte Miltão, sogar den Touristen, die hordenweise in gemieteten Jeeps kommen und dafür bezahlen, Kloaken und Armut anschauen zu dürfen. Wer drin ist, muß kontrolliert werden. Und wenn das, was er sagt, nicht astrein ist, warnte er, dann kriegt er mit mir Ärger. Es gab einen Bewegungscode für die Drachen am Himmel. Wenn Kinder wie Reizinho plötzlich ihre Beobachtungspunkte verließen und die Drachen am Horizont verschwanden, wußten die Dealer genau, was zu tun war.

An diesem Morgen machte Reizinho es sich auf dem Aussichtspunkt bequem, und nach zwei langweiligen Stunden Arbeit, während derer er den Eingang zur Favela im Auge behielt, das Treiben, die Gassen, die Antennen, die Dächer, die Leute, Vintão vom Anwohnerverein, Rosa Maria, die Nutte, Dedé und Preta, die Waschfrauen, die Konsumenten, Negão, der an der Tür seiner Hütte saß und Koks verkaufte, die Milizionäre, Suzanas Mutter, die nach Hause kam, Suzana, die hinausging, Suzana, Suzana, Suzana, von Tag zu Tag wurde sie schöner, die herumtollenden Kinder, Suzana und ihr köstliches Lachen, Reizinho verspürte eine abgrundtiefe Müdigkeit, Suzana, Gelächter, gegen seinen Willen fielen dem Jungen die Augen zu. Um nicht einzuschlafen, holte er einen Zettel aus der Tasche, zerteilte ihn in zwei gleichgroße Stücke, malte Karos darauf, numerierte die Linien und Spalten und zeichnete Zerstörer, U-Boote und Jagdboote hinein. Mit verteilten Rollen spielte er Schiffeversenken, einmal war er er selbst, einmal sein Vater. Und sogar wenn er gegen diesen Mann spielte, den er so sehr liebte, obwohl er ihn gar nicht kannte, trotz der schrecklichen Dinge, die seine Mutter über ihn sagte, Säufer, Herumtreiber, Schuft, Schürzenjäger, konnte er nicht anders, als ihn abzuzocken, indem er blitzschnell eins nach dem anderen alle feindlichen Kriegsschiffe untergehen ließ. Er bemühte sich, für sein anderes Ich, das Vater-Ich, Beute zu machen, doch entdeckte er schon bald, daß es ein gebieterisches Ich unter unseren Ichs gibt, eines, das sich nur für unsere eigenen Belange interessiert, das bequem ist, ein Ich, das klaut, siegt und die Ankunft der Polizei in der Favela glatt verpaßt.

Pa pa ra pa pa. Als Reizinho die Schüsse hörte, war es bereits zu spät. Es half nichts mehr, noch Zeichen zu geben. Verdammt. Er holte den Drachen ein, unentschlossen, sollte er zurück nach Hause gehen? Sich in das Labyrinth hineinbegeben und Gefahr laufen, ins Kreuzfeuer zu geraten? Schließlich kroch er in eine Zisterne. Er tauchte mit dem Kopf unter Wasser und kam wieder an die Oberfläche. Pa ra pa pa pa ra. Verdammt. Reizinho hatte gehört, daß manche Kundschafter das Kampfgerät allein an seinen Schußgeräuschen erkannten, AR-15, Uzi, M-16, HK-47, Waffen, die fünfzehn Schuß pro Sekunde abfeuern konnten und für die man bis zu siebentausend Dollar auf den Tisch legen mußte und die den Feind nicht nur töteten, sondern in Fetzen rissen. Aber Reizinho verstand nichts von Waffen. Jedenfalls damals nicht. Er tauchte wieder unter, Dunkelheit. Hoch, pa pa pa ra ra, Dunkelheit, pa pa ra pa pa pa, all das ging rasend schnell, der Hubschrauber flog davon, das Schlimmste kam danach, eine lange Stille, ein Nichts/ Leere, nicht mal die Hunde bellten. Wasser bis unter die Nase. Das ist der übelste Teil, sagte Miltão, es gibt nichts Schlimmeres im Krieg als die Stille. Sie kann Waffenruhe bedeuten, es gibt eine reelle Chance, daß es ein Waffenstillstand ist, sagte der Dealer, aber genauso ist es möglich, daß du eine Kugel in den Kopf kriegst, aus dem Nichts, peng, und stirbst. Untertauchen. Verdammt. Stille, Stille, Stille. Es passierte nichts mehr. Reizinho war nicht imstande, aus der Zisterne zu klettern, nicht mal, als er sich sicher war, daß die Polizei abgezogen war. Was sollte er Miltão sagen? Wieso hatte er die Polizisten nicht gesehen? Und seiner Mutter? Warum bist du völlig durchnäßt, José Luís? Die kalte Stimme der Mutter, ihr gleichgültiger Blick, wo bist du gewesen, José Luís? Und baff, baff, rede, du Schwachkopf, seiner Mutter machte es Spaß, ihm ins Gesicht zu schlagen, ihn zu ohrfeigen, rede, Junge, auf der Stelle, bevor ich dich windelweich prügele, und baff, und baff, du blöder Bengel, dich werde ich Mores lehren, baff, Reizinho wußte, daß seine Mutter sich nach einem ausgiebigen Ohrfeigenprogramm immer beruhigte und sich vor dem Fernseher niederließ, nur deshalb verprügelte sie ihn, um Frieden zu finden und in Ruhe ihre Serien sehen zu können. Was bedeutete es schon, daß er das Schuljahr wiederholen mußte? Wem machte das was aus? Konnte er nicht bereits lesen? Schreiben? Wozu also noch weiter zur Schule gehen? Die Prügel hatten nichts damit zu tun, auch nicht mit Miltão, obwohl sie jeden Tag den gleichen Rosenkranz herunterbetete, wenn du dich mit Miltão einläßt, bringe ich dich um, sie hatte diesen Satz so oft wiederholt, ich tu´s wirklich, mit solchem Nachdruck, daß sie ihn schließlich erst auf die Idee brachte, und Reizinho ging zu Miltão, um ihn um Arbeit zu bitten. Noch heute kann er sich genau erinnern, wie es dazu kam. Es war unmittelbar nach einer Tracht Prügel. Er schnappte sich den Drachen eines Freundes und wartete, bis Miltão bei Suzana im Haus erschien. Und während die beiden sich am Tor küßten, lief Reizinho mit seinem Drachen in der Hand hin und her. Miltão würdigte ihn nicht eines Blickes. Suzana ebenfalls nicht. Da hatte Reizinho eine bessere Idee. Er blieb vor dem Pärchen stehen und brüllte los und zerriß seinen Drachen, er fetzte das Quadrat in Stücke, zerbrach die Verstrebungen, warf alles zu Boden und schrie dabei ohne Unterlaß. Das gefiel Miltão. Er lachte. Verrückter Bengel. Willst du für mich arbeiten? So war es gewesen. Letztlich war es die Idee seiner Mutter. Der Prügel seiner Mutter, ich bring dich um, ich schlag dich tot, wenn du dich mit diesen Verbrechern einläßt. Paff. Nach den Schlägen fühlte Reizinho sich, als hätte er ein Ei aus Traurigkeit verschluckt, ein Ei, das ihm in der Speiseröhre festsaß, zwischen der Kehle und seiner Brust, taff, schlag nur, dachte er, schlag zu, du kannst ruhig schlagen; mit der Zeit brach das Ei entzwei, tapp, und von da fühlte Reizinho an gar nichts mehr, nie mehr, tapp, er war nur noch Fleisch, das verdroschen wurde, schlag doch, dachte er, du kannst mich schlagen, es tut sowieso nicht weh, verdammt.

Der Drachen ist hier, sagte jemand. Eine vertraute Stimme. Reizinho tauchte den Kopf unter Wasser und wurde unverzüglich an den Haaren herausgezogen. Hallo, du Glückspilz, sagte Bem Bolado, wollen wir schwimmen? Bem Bolado hatte diesen Spitznamen, „raffiniert gemacht“, weil er ständig in Verzückung geriet über irgendwelche elektronischen Geräte, jeder Mist, der piepte oder blinkte war „raffiniert gemacht“, ein raffinierter Mixer, eine raffinierte Uhr, ein raffinierter Revolver, und Miltão hatte ihn sofort „raffiniert gemacht“ getauft. Bem Bolado tauchte Reizinho so oft unter, bis der Junge ohnmächtig wurde.

Als er zu sich kam, befand er sich in einem stickigen Raum ohne Fenster, mit einem Poster der Mannschaft von Vasco da Gama an der Wand. Die anderen Kundschafter waren ebenfalls dort, Vavá, Loriva, Bisnaga Velha und Luizão, alle saßen sie am Boden in zerschlissenen Klamotten und mit riesigen erschrockenen Augen. Vasco da Gama. Wenn er eines Tages seinen Vater in Wirklichkeit kennenlernte, dann würde er ihn zu einem Spiel von Vasco da Gama gegen Flamengo mitnehmen. Der Fernseher lief. Jaú und Bem Bolado starrten auf die Mattscheibe. Die Serie. Gabi ist eine Verbrecherin, sagten die Schauspieler, die ist zu allem fähig. Wie hat Gabi die Geheimzahl vom Tresor herausgefunden? Sie ist ein gemeines Luder. Ich habe Angst vor Gabi, Ângela. Eine ganze Folge lang sagten sie, Gabi ist eine Verbrecherin. Verdammt. Reizinho schloß die Augen, seine Mutter schaute vermutlich ebenfalls die Serie an. Überall in der Favela lief der Fernseher, die Stimmen der Schauspielerinnen, sentimentale Melodien, und dann die Werbung, kaufen Sie dies, kaufen Sie jenes, die Lieder, die Popos, die Biermarken, die Sonderangebote, die Nachrichtensendungen, die Katastrophen, Reizinho verspürte eine gewisse Erleichterung bei diesen vertrauten Geräuschen, der Ton des Fernsehens gab ihm immer ein Gefühl von Frieden und Familie. Ist unser Baby aufgewacht?, fragte Bem Bolado ihn. Miltão kam während der Werbung herein. Mach die Kiste aus, sagte er zu Jaú. Ihr Knalltüten, sagte er und schaute die Jungs an. Feige Knalltüten. Melão ist uns durch die Lappen gegangen wegen fünf blöder, feiger, kleiner Knalltüten. Ich habe fünf feige, hirnlose Hosenscheißer, die für mich arbeiten. Fünf blinde Knalltüten. Schwachköpfe. Komm her, du Einfaltspinsel. Idiot. Da hilft nur umbringen. Angsthase. Du zuerst, Reizinho. Die anderen stellen sich in einer Reihe auf. Und ich hab immer gedacht, du hättest eine Zukunft, ja du, Reizinho, ich dachte, du könntest zwei und zwei zusammenzählen. Das sagte Miltão immer. Zwei und zwei zusammenzählen. Knalltüten. Komm her, du Knalltüte. Reizinho trat näher. Miltão zog einen Revolver aus dem Gürtel, hielt den Lauf der Waffe an die Handfläche des Jungen und drückte ab. (...)


(aus "Inferno" von Patrícia Melo)
Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita
Der Kinderheld José, der sich der Kleine König nennt, lebt in den Favelas von Rio de Janeiro: ein emotionaler Krüppel, im Innern tief verletzt durch die Prügel seiner Mutter; ein unfertiger Mann; ein Pragmatiker, der in die Welt hinausdrängt. Er möchte irgendwo dazugehören, wo er Halt und Anerkennung bekommt, und so gerät er in eine Welt der Gewalt. Denn in den brutalen und armen Favelas gibt es nichts anderes …
Der Titel erinnert an Dante, und Patrícia Melo beschreibt die Stadt als einen Kreis der Hölle, in dem Mord, Vergewaltigung und Folter zum Alltag gehören, wo das Entsetzliche normal ist. Wie in der brutalen Eingangsszene: Gewalt geschieht nebenbei, mit einem Achselzucken. Josés Boß schießt ihm, um ihn wegen seiner Unaufmerksamkeit zu strafen, durch die Hand.
In diesem Roman gibt es keine Moral. Ein Verbrecher zu werden ist die logische Antwort auf das Pech, in diese Welt hineingeboren zu sein.
Patrícia Melo, der mit diesem Roman der endgültige Durchbruch gelang, zeigt hier ihre literarische Meisterschaft: einen kalkulierten Stil, der auch das kleinste, scheinbar unbedeutendste Detail sichtbar macht. (Klett-Cotta)
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