(...) Ich kehre zu unserer Nordfahrt zurück. Ihr Zweck war die Geographie. Wir haben zwar mit den Eingebornen, den Bewohnern der Sankt-Laurenz-Insel, den Eskimos der amerikanischen Küste, den Tschuktschi der asiatischen, häufig verkehrt; doch haben wir mit und unter ihnen nicht gelebt. Die Karte und der Bericht von Herrn von Kotzebue, das Zeichenbuch des Malers, das er in seinem »Voyage pittoresque« offenhält, werden belehrender sein als mein dürftiges Tagebuch. Übrigens, was ich über diese Völker mongolischer Rasse zu sagen gewußt, habe ich am Schlusse des Aufsatzes, den ich den Nordlanden in meinen »Bemerkungen und Ansichten« gewidmet habe, in wenige Worte zusammengedrängt.
Am 17. Juli 1816 liefen wir aus der Bucht von Awatscha aus und hatten am 20. Ansicht von der Berings-Insel, deren westliches Ende sich mit sanften Hügeln und ruhigen Linien zum Meere senkt. Sie erschien uns im schönen Grün der Alpentriften; nur stellenweise lag Schnee.
Von der Berings-Insel richteten wir mit günstigem Winde unsern Kurs nach der Westspitze der Sankt-Laurenz-Insel. Wir waren in den dichtesten Nebel gehüllt; er zerteilte sich am 26. auf einen Augenblick; ein Berggipfel ward sichtbar; der Vorhang zog sich wieder zu. Wir lavierten in der gefährlichen Nähe des nicht gesehenen Landes.
An diesem Tage war die Erscheinung einer Ratte auf dem Verdeck ein besorgniserregendes Ereignis. Ratten sind auf einem Schiffe gar verderbliche Gäste, und ihrer Vermehrung ist nicht zu steuern. Wir hatten bis jetzt keine Ratten auf dem »Rurik« gehabt; war diese in Kamtschatka an unsern Bord gekommen, konnten auch mehrere schon in den untern Schiffsraum eingedrungen sein. Eine Rattenjagd ward auf dem Verdeck als ein sehr ernstes Geschäft angestellt, und drei Stück wurden erlegt. Es ist von da an keine mehr verspürt worden.
Am 27. steuerten wir auf das Land zu, das uns im heitersten Sonnenschein erschien, sowie wir in seiner Nähe aus der Nebeldecke des Meeres heraustreten. Zwei Boote wurden zu einer Landung ausgerüstet. Indem wir nach dem Ufer ruderten, begegneten wir einer Baidare mit zehn Eingebornen. Wir verkehrten mit ihnen, nicht ohne wechselseitig auf unserer Hut zu sein. »Tabak! Tabak!« war ihr lautes Begehren. Sie erhielten von uns das köstliche Kraut, folgten unsern Booten freundlich, fröhlich, vorsichtig und leisteten uns beim Landen in der Nähe ihrer Zelte hülfreiche Hand. Die hier am Strande aufgerichteten Zelte von Robben- und Walroßhäuten schienen Sommerwohnungen zu sein und die festen Wohnsitze der Menschen hinter dem Vorgebürge im Westen zu liegen. Von daher kam auch eine zweite Baidare herbei. Unser verständiger Aleut, der eine längere Zeit auf der amerikanischen Halbinsel Alaska zugebracht, fand die hiesige Völkerschaft den Sitten und der Sprache nach mit der dortigen verwandt und diente zu einem halben Dolmetscher. Während der Kapitän, der in ein Zelt geladen worden, den Umarmungen und Bestreichungen sowie der Bewirtung der freundlichen tranigen Leute, die er mit Tabak und Messern beschenkte, ausgesetzt blieb, bestieg ich allein und unbefährdet das felsige Hochufer und botanisierte. Selten hat mich eine Herborisation freudiger und wunderlichen angeregt. Es war die heimische Flora, die Flora der Hochalpen unserer Schweiz zunächst der Schneegrenze, mit dem ganzen Reichtum, mit der ganzen Fülle und Pracht ihrer dem Boden angedrückten Zwergpflanzen, denen sich nur wenige eigentümliche harmonisch und verwandt zugesellten. Ich fand auf der Höhe der Insel unter dem zertrümmerten Gesteine, das den Boden ausmacht, einen Menschenschädel, den ich, unter meinen Pflanzen sorgfältig verborgen, mitnahm. Ich habe das Glück gehabt, die reiche Schädelsammlung des Berliner Anatomischen Museums mit dreien, nicht leicht zu beschaffenden Exemplaren zu beschenken: diesem von der Sankt-Laurenz-Insel, einem Aleuten aus einem alten Grabmal auf Unalaschka und einem Eskimo aus den Gräbern der Bucht der Guten Hoffnung in Kotzebues-Sund. Von den dreien war nur der letztere schadhaft. Nur unter kriegerischen Völkern, die, wie die Nukahiwer, Menschenschädel ihren Siegestrophäen beizählen, können solche ein Gegenstand des Handels sein. Die mehrsten Menschen, wie auch unsere Nordländer, bestatten ihre Toten und halten die Gräber heilig. Der Reisende und Sammler kann nur durch einen seltenen glücklichen Zufall zu dem Besitze von Schädeln gelangen, die für die Geschichte der Menschenrassen von der höchsten Wichtigkeit sind.
Wir erreichten gegen zwei Uhr nachmittags das Schiff und verbrachten, in den tiefen Nebel wieder untergetaucht, noch den 28. und den Vormittag des 29. in der Nähe der Insel, um deren westliches Ende wir unsern Kurs nahmen. Am Abend des 28. hob sich die Nebeldecke, das Land ward sichtbar, und wir erhielten auf drei Baidaren einen zahlreichen Besuch der Eingebornen, in deren Führer der Kapitän seinen freundlichen Wirt vom vorigen Tage erkannte. Nach vorgegangener Umarmung und Reiben der Nasen aneinander wurden Geschenke und Gegengeschenke gewechselt, und ein lebhafter Tauschhandel begann. In kurzer Zeit waren wir alle und unsere Matrosen reichlich mit Kamlaiken versehen. Die Kamlaika ist das gegen Regen und Übergießen der Wellen schützende Oberkleid dieser Nordländer, ein Hemde mit Haube oder Kapuze, aus der feinen Darmhaut verschiedener Robben und Seetiere verfertigt; die Streifen, ring- oder spiralförmig, wasserdicht mit einem Faden von Flechsen von Seetieren aneinandergenäht; die Nähte zuweilen mit Federn von Seevögeln oder anderem verziert. Die gröbste Kamlaika muß für die geübteste Nähterin die Arbeit von mehreren, von vielen Tagen sein – sie wurden ohne Unterschied für wenige Blätter Tabak, soviel wie etwa ein Raucher in einem Vormittag aufrauchen könnte, freudig hingegeben.
Die sonderbare Sitte des Tabakrauchens, deren Ursprung zweifelhaft bleibt, ist aus Amerika zu uns herübergekommen, wo sie erst seit beiläufig anderthalb Jahrhunderten Anerkennung zu finden beginnt. Von uns verbreitet, ist sie unversehens zu der allgemeinsten Sitte der Menschen geworden. Gegen zwei, die von Brot sich ernähren, könnte man fünf zählen, welche diesem magischen Rauche Trost und Lust des Lebens verdanken. Alle Völker der Welt haben sich gleich begierig erwiesen, diesen Brauch sich anzueignen; die zierlichen, reinlichen Lotophagen der Südsee und die schmutzigen Ichthyophagen des Eismeeres. Wer den ihm einwohnenden Zauber nicht ahnet, möge den Eskimo seinen kleinen steinernen Pfeifenkopf mit dem kostbaren Kraut anfüllen sehen, das er sparsam halb mit Holzspänen vermischt hat; möge sehen, wie er ihn behutsam anzündet, begierig dann mit zugemachten Augen und langem, tiefem Zuge den Rauch in die Lungen einatmet und wieder gegen den Himmel ausbläst, während aller Augen auf ihm haften und der nächste schon die Hand ausstreckt, das Instrument zu empfangen, um auch einen Freudenzug auf gleiche Weise daraus zu schöpfen. Der Tabak ist bei uns hauptsächlich und in manchen Ländern Europas ausschließlich Genuß des gemeinen Volkes. – Ich habe immer nur mit Wehmut sehen können, daß grade der kleine Anteil von Glückseligkeit, welchen die dürftigere Klasse vor den begünstigteren vorausnimmt, mit der drückendsten Steuer belastet werde, und empörend ist es mir vorgekommen, daß, wie zum Beispiel in Frankreich, für das schwer erpreßte Geld die schlechteste Ware geliefert werde, die nur gedacht werden kann.
Wir hatten am 29. Ansicht vom Nordkap der Insel, einer steilen Felsklippe, an welcher sich eine Niederung anschließt, worauf Jurten der Eingebornen gleich Maulwurfshaufen erschienen, von den Hängeböden umstellt, auf denen, was aus dem Bereich der Hunde gehalten werden soll, verwahrt wird. Es stießen sogleich drei Baidaren vom Lande ab, jegliche mit beiläufig zehn Insulanern bemannt, die, bevor sie an das Schiff heranruderten, religiöse Bräuche vollbrachten. Sie sangen eine Zeitlang eine langsame Melodie; dann opferte einer aus ihrer Mitte einen schwarzen Hund, den er emporhielt, mit einem Messerstich schlachtete und in das Meer warf. Sie näherten sich erst nach dieser feierlichen Handlung, und etliche stiegen auf das Verdeck.
Am 30. erhellte sich das Wetter; wir sahen am Morgen die Kings-Insel; bald darauf das Kap Wales, die Gwozdews-Inseln – welche vier vereinzelt stehende Felsensäulen in der Mitte der Straße sind – und selbst die asiatische Küste. Cook hatte nur drei der vorerwähnten Felsen gesehen; der vierte, die Ratmanow-Insel von Kotzebue, ist eine neue Entdeckung von diesem. Wir fuhren durch die Straße, auf der amerikanischen Seite in einer Entfernung von beiläufig drei Meilen vom Ufer, nachmittag gegen die zweite Stunde. Ich habe hier eine Frage zu beantworten, die in den Gedanken der Wissenschaft den unaufhaltsamen Fortschritt der Zeit und der Geschichte bezeichnet. – Ihr Starren, die ihr die Bewegung leugnet und unterschlagen wollt, seht, ihr selber, ihr schreitet vor. Eröffnet ihr nicht das Herz Europas nach allen Richtungen der Dampfschiffahrt, den Eisenbahnen, den telegraphischen Linien und verleihet dem sonst kriechenden Gedanken Flügel? Das ist der Geist der Zeit, der, mächtiger als ihr selbst, euch ergreift. – Gauß aus Göttingen zuerst fragte mich im Herbst 1828 zu Berlin, und die Frage ist seither wiederholt an mich gerichtet worden: ob es möglich sein werde oder nicht, die geodätischen Arbeiten und die Triangulierung von der asiatischen nach der amerikanischen Küste über die Straße hinaus fortzusetzen. Diese Frage muß ich einfach bejahend beantworten. Beide Pfeiler des Wassertores sind hohe Berge, die in Sicht voneinander liegen, steil vom Meer ansteigend auf der asiatischen Seite und auf der amerikanischen den Fuß von einer angeschlemmten Niederung umsäumt. Auf der asiatischen Seite hat das Meer die größere Tiefe und der Strom, der von Süden in die Straße mit einer Schnelligkeit von zwei bis drei Knoten hineinsetzt, die größere Gewalt. Wir sahen nur auf der asiatischen Seite häufige Walfische und unzählbare Herden von Walrossen. Die Berghäupter mögen wohl die Nebeldecke überragen, die im Sommer über dem Meere zu ruhen pflegt; aber es wird auch Tage geben, wie der 30. Juli 1816 einer war.
Als die Niederung der amerikanischen Küste sich über unsern Gesichtskreis zu erheben begann, schien ein Zauberer sie mit seinem Stabe berührt zu haben. Stark bewohnt, ist sie von Jurten übersäet, die von Gerüsten und Hängeböden umringt sind, deren Pfeiler, Walfischknochen oder angeschlemmte Baumstämme, die Böden, die sie tragen, überragen. Diese Gerüste nun erschienen zuerst am Horizonte im Spiele der Kimming (Mirage) durch ihr Spiegelbild verlängert und verändert. Wir hatten die Ansicht von einer unzählbaren Flotte, von einem Walde von Masten. (...)


(aus der "Reise um die Welt in den Jahren 1815 - 1818" von Adelbert von Chamisso)
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