Nach seiner Rückkehr aus Sibirien in
Dezember 1890 ließ Cechov sich nie wieder richtig in Moskau nieder. Da die
Familie die Miete nicht bezahlen konnte, hatte sie das Haus an der
Sadovaja-Kudrinskaja verlassen, bald nachdem Cechov im Frühjahr des gleichen
Jahres zu seiner Sibirienreise aufgebrochen war. Als er zurückkam, zog er mit in
die Wohnung, die die Familie inzwischen an der Malaja-Dmitrovka-Straße gemietet
hatte. Die Malaja-Dmitrovka-Straße lag im Herzen der Stadt, und Cechov scherzte,
er sei jetzt ein Aristokrat geworden und deshalb gezwungen, in einer
aristokratischen Straße zu wohnen. Nach der endlosen Weite in Sibirien wirkten
die Wohnverhältnisse äußerst beengt, und schon bald juckte ihn wieder die
Reiselust. Misa arbeitete nunmehr in der Stadt Aleksin und war ausgezogen, aber
dafür war Pavel Egorovic nach dem Eintritt in den Ruhestand wieder bei seiner
Familie eingezogen, und die Bewohnerschaft der Wohnung in der Malaja-Dmitrovka
vergrößerte sich weiter um die Tiere, die Cechov von seinen Reisen mitgebracht
hatte: drei Mungos, von denen einer sich als wilder Palmenroller entpuppte. Wie
vorherzusehen war, verursachten die Tiere in der kleinen Wohnung ein Chaos, in
dem sie auf die Tische sprangen und das Porzellan zerbrachen; das einzige
überlebende wurde ein Jahr später dem Moskauer Zoo vermacht.
Cechov
vermied es, zuviel Zeit in der Wohnung zu verbringen, und unternahm zunächst
zusammen mit Suvorin eine lange Auslandsreise und richtete sich dann während der
Sommermonate in der Familiendatscha ein. Am Ende des Sommers begann er sich
ernsthaft nach einem Haus auf dem Lande, in der Umgebung von Moskau, umzusehen,
und die Familie zog im darauffolgenden Frühling nach Melichovo. In die Gegend um
die Malaja-Dmitrovka-Straße jedenfalls würde er später von seinem Exil in Jalta
aus zurückkehren.
Sobald Cechov nicht mehr in Moskau lebte, befreit von den
Sorgen um die Miete und die Beschaffung von Feuerholz während der langen kalten
Wintermonate, begann er die in der Stadt verbrachte Zeit zu genießen. Während
seiner Jahre in Melichovo wohnte er bei seinen Aufenthalten in Moskau am
liebsten im Grand Hôtel de Moscou, am Ende von Moskaus Hauptstraße Tverskaja und
einen Steinwurf vom Roten Platz entfernt. Besonders genoss er es, in seinem
Lieblingszimmer aufzuwachen, wenn die Kirchenglocken an Feiertagen läuteten. Am
6. Dezember 1895, am Nikolaustag, schrieb er an Suvorin, er sei früh aufgewacht,
habe Kerzen angezündet und zu arbeiten begonnen, und er genieße den, wie er
sagte, "Himbeerklang" der Glocken. In mancher Hinsicht waren die Besuche, die
Cechov während der sechs Jahre machte, als sein Lebensmittelpunkt in Melichovo
lag, die glücklichste Zeit, die er in der Stadt verlebte: Er hatte keine
Bindungen oder Verpflichtungen, da sich sein Heim und sein wichtigster
Arbeitsplatz jetzt anderswo befanden, und so konnte er den Lebensstil eines
Junggesellen genießen, was ihm während der früheren Jahre der Not, als er sich
um seine Eltern kümmern musste, versagt geblieben war. Ohne Zweifel waren viele
Verehrerinnen bereit, sich ihm zu Füßen zu werfen.
Obwohl Cechovs
literarische Karriere ihren Ausgang in St. Petersburg genommen hatte, schwang in
den 1890er Jahren das Pendel zurück nach Moskau. Mit "Krankenzimmer Nr. 6"
begann Cechov, viele seiner bedeutendstenErzählungen
in "Russkaja mysl" ("Russisches Denken") zu veröffentlichen, während kürzere
Geschichten an die größte Moskauer Zeitung "Russkie vedomosti" ("Russische
Nachrichten") gingen. Beide hatten den Ruf, ausdrücklich liberale Einstellungen
zu vertreten. Dass Cechov in der Lage war, sich mit diesen Zeitungen zu
verbinden, während er gleichzeitig eine enge Beziehung zu Suvorin, dem Besitzer
von Russlands am weitesten rechts stehender Zeitung, aufrechterhielt, macht zwar
seiner Fähigkeit, in einer Welt kleiner Gruppierungen seine Unabhängigkeit und
Freiheit zu bewahren, alle Ehre, kam aber bei "Novoe vremja" nicht gut an. Die
1863 gegründete "Russkie vedomosti" verkaufte in den 1890er Jahren mindestens
ebenso viele Exemplare wie "Novoe vremja" und Cechov freute sich an seiner
lockeren Freundschaft mit Vasilij Sobolevskij, dem Redakteur; er mochte die
Zeitung sehr. Als "Krankenzimmer Nr. 6" in "Russkaja mysl" veröffentlicht wurde,
hatte Cechov seine Differenzen mit dem wohlhabenden Besitzer dieser Zeitung,
Vukol Lavrov, beigelegt. (Auf die Behauptung der Zeitung, ihm mangele es an
Prinzipien, hatte Cechov eine leidenschaftliche Entgegnung geschrieben.) Zu dem
Herausgeber der Zeitung, Viktor Golcev, verband ihn gegen Ende seines Lebens
eine besondere Freundschaft. Die Beziehungen sollten sich dann sogar so herzlich
gestalten, dass Cechov später in das Redaktionsteam aufgenommen wurde. Seine
Sehnsucht nach Moskau und dem russischen Winter wurde besonders heftig, als er
während der letzten Exiljahre von dem immergrünen Laub von Jalta umgeben war,
und schließlich publizierte Cechov 1899 seine berühmteste Erzählung, "Die Dame
mit dem Hündchen", im "Russkaja mysl". (...)
Wenn Cechov sich, vor allem
während seiner Aufenthalte in Jalta, nach Moskau sehnte, dann, weil er nur in
Moskau voll aufblühte. Hier hatte er seine Familie, und hier lebten die meisten
seiner Freunde, hier erhielt er seine medizinische Ausbildung und praktizierte
später, hier begann seine literarische Laufbahn, die zunehmend hier auch ihren
Dreh- und Angelpunkt hatte, und hier unterhielt er enge Beziehungen zum Theater.
Seit 1898, als das Moskauer Künstlertheater Die Möwe uraufführte, hatte Cechov
sogar ein Theater, das mehr oder weniger begriff, was er als Dramatiker
erreichen wollte. Bezeichnenderweise war dies genau der Augenblick, als er um
seiner Gesundheit willen Moskau verlassen und auf die Krim übersiedeln musste.
Cechov sah eine Sondervorstellung von "Die Möwe", die am 1. Mai für ihn
persönlich gegeben wurde, als er im Sommer 1899 zum ersten Mal wieder von Jalta
nach Moskau kam. Eine Woche später hielt ein Fotograf für die Nachwelt im Bild
fest, wie Cechov den versammelten Mitwirkenden vor Beginn der Proben Onkel Vanja
vorlas. Neben dem Autor saß Olga Knipper, mit der er gerade eine Romanze
anfing.
(Aus "Anton Cechov. Eine Biographie" von
Rosamund Bartlett.
Aus dem Englischen von Anna Blum.)
Diese große Biografie umfasst alle Aspekte
von Cechovs Leben und Werk. Rosamund Bartlett beleuchtet die Stationen des großen
Erneuerers des Theaters, von seiner Geburt in einer russischen Provinzstadt
bis zu einer für ihn enorm prägenden Fahrt durch die sibirische Strafkolonie
auf der Insel Sachalin.
Wie vielleicht kein anderer
Schriftsteller des 19. Jahrhunderts hat Cechov Generationen nach ihm beeinflusst
- unter ihnen Größen wie Virginia
Woolf, Ernest Hemingway oderRaymond
Carver. (Zsolnay)
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