(...) Tornal’a war
menschenverlassen, als hätte die Bevölkerung ihre eigene Stadt geräumt. Schnurgerade
zog die staubige Hauptstraße, die die fünfzehn Kilometer nach Ungarn, vielleicht
aber auch bis in die Steppen der Mongolei führte, durch den Ort, in dem an diesem
Vormittag um zehn alle Geschäfte, Imbißbuden, Ämter geschlossen hatten. Die
zweigeschossigen gelben Häuser, von denen viele aus der k. u. k. Zeit stammten,
standen in rechtwinkelig angeordneten Zeilen, waren schmuck herausgeputzt und
wirkten unbewohnt. Auf meinem Weg begegnete ich keinem einzigen Menschen, bis
ich endlich gedämpfte Stimmen und Geräusche vernahm, die aus dem schwarzen Loch
eines Eckhauses nach draußen drangen. Rasch, um mir keine Ausflucht zu lassen,
schritt ich durch die geöffnete Tür des Cafés Casablanca, in dem ich den Erdmittelpunkt
der Ereignislosigkeit zu entdecken fürchtete.
Das Casablanca war eine Kaschemme und bestand aus einem großen, düsteren Raum,
der mit dem scharfen Geruch von
Urin
gebeizt war. An den zehn massiven Holztischen saßen jeweils zwei, drei Arbeiter
in Overalls, die bereits das Mittagsmenü, Gulasch mit Knödel, verzehrten und
dazu aus klobigen Gläsern, die an die Behälter von Grablichtern erinnerten,
Schnaps tranken. Nur wenige von ihnen unterhielten sich, die meisten mampften
schweigend, den Blick erschöpft auf den Teller gesenkt, von dem sie ihn nur
manchmal hoben, um zum
Fernseher
über der Theke zu schauen, in dem sich ein paar reiche alte Damen aus Amerika
ausgelassen auf slowakisch stritten, was ein imaginäres Publikum im Film fortwährend
zum Lachen reizte, während jenes an den Tischen die Greisenalbernheit völlig
ungerührt ertrug. Ich mußte mich beeilen, dem Kellner, einem rotblonden, vierschrötigen
Mittdreißiger, abzuwinken, daß er nicht, in mechanischer Gewohnheit, auch mir
sogleich Gulasch,
Knödel und Schnaps brachte.
Ein einziger Gast, in meinem Alter, saß mit dem Rücken zum Fernseher. Fast erloschen
waren in seinem Gesicht Charme und Trotz des Filous, mit denen er früher vielleicht
Erfolg, jedenfalls nicht genug davon, gehabt hatte. Jetzt war er ein dürrer,
ausgemergelter Säufer, der alleine Bier aus der Flasche trank und lautlos mit
sich selber sprach. Als er einmal alle Gäste versorgt hatte, stellte sich der
Kellner vor meinen Tisch, pochte sich an die Brust und sagte: »April – Ich –
Budapest«,
was er mit triumphierender Miene so lange wiederholte, bis ich ihm nickend zu
verstehen gab, daß ich verstanden hatte, wie verzweifelt er war.
Wenig später betrat ein Mann den Raum, der sein schweres, staubiges Fahrrad
über die Schwelle hob, es an die Theke schob, dort anlehnte und sorgfältig mit
einem Nummernschloß absperrte. Sein Tun wurde kaum beachtet, er ging, nachdem
sich seine Augen an die Dunkelheit gewohnt hatten, zum Tisch des Säufers, setzte
sich und bekam vom Ober auf einem Tablett eine Flasche
Bier
ohne Glas serviert, die er hastig leerte. Die zwei tranken noch eine Zeitlang
miteinander weiter, dann erhob sich der Mann unversehens, wie er erschienen
war, ging zur Theke, sperrte das Fahrrad auf und schob es grußlos zur Tür hinaus.
Auch jetzt, um elf Uhr, war außerhalb des Casablanca kaum jemand zu sehen. Nur
vor dem Gemeindeamt kehrte eine Zigeunerin mit einem Zimmerbesen den Gehsteig.
Sie freute sich, daß ich sah, wie sie kehrte, und hob, als ich vorbeischlenderte,
den Besen in die Höhe, als wollte sie mir Fremden erlauben, auch ein Stückchen
zu kehren und, indem ich mich an der Verschönerung der Stadt beteiligte, ein
wenig heimisch in ihr zu werden. In Tornal’a stellten nicht die Roma, sondern
die Ungarn die größte nationale Minderheit. In seiner Geschichte hatte der Ort
mehrfach den Namen wechseln müssen, zwischen 1945 und 1990 hieß er Safárikova,
eine Huldigung an den slowakischen Gelehrten Pavol Jozef Safárik, der vor 200
Jahren von der humanistischen Vereinigung aller Slawen träumte, aber nie in
Tornal’a und der Region des slowakischen Karsts war, an dessen südwestlichen
Ausläufern der Ort lag. Die Hauptstadt des Bezirks war das zwanzig Kilometer
entfernte Revúca, das vor zwei Jahren durch einen Fall staatlicher Folter berühmt
wurde. Ein Polizist namens Ondrej Hudák junior hatte auf der Wachstube den 51jährigen
Rom Karol Sendrej so schwer verprügelt, daß dieser, begleitet von seinen weinenden
Kindern, zum Haus des Bürgermeisters zog, um sich zu beschweren. Nachdem er
seine Beschwerde vorgebracht hatte, schlug und trat der Bürgermeister namens
Ondrej Hudák senior gemeinsam mit seinem vom Dienst schlecht gelaunt nach Hause
zurückgekehrten Sohn so lange auf ihn ein, bis er tot war. Weil sich ein slowakisches
Menschenrechts-Komitee des Falles annahm, wurde er ruchbar, obwohl das
Krankenhaus
von Revúca im amtlichen Totenschein bereits bestätigt hatte, daß Karol Sendrej
mit seinem Leberriß, den Schädelverletzungen, Knochenbrüchen und inneren Blutungen
eines natürlichen Todes gestorben war.
An der Tafel des Busbahnhofes stand, daß jede zweite Stunde ein Bus nach Revúca
fahre, aber die vielen schmutzigen Fahrzeuge waren eng aneinander geparkt und
offenbar schon vor langer Zeit abgestellt und vergessen worden. Und dann, in
dem kleinen Park hinter dem Busbahnhof, hörte ich es doch noch, das Lachen von
Tornal’a. Ein paar Jugendliche, die ihre Schultaschen abgeworfen hatten, saßen
sich gelangweilt auf zwei Bänken gegenüber, und kurz bevor sie vor Langeweile
tot zur Seite kippten, veranstalteten sie sitzend lieber einen Wettbewerb im
Weit- und Zielspucken. Als zwei gute Auswürfe in der Mitte zwischen den beiden
Bänken aufeinander landeten, jubelten sie auf; als wäre der Bann gebrochen,
der über diesen Vormittag verhängt war, wurde im selben Augenblick von Geisterhand
ein Motor angeworfen, zischend schloß sich die hydraulische Tür eines Busses,
und der Linienwagen nach Revúca fuhr mir, offenbar fahrerlos und ohne jeden
Fahrgast, auf die Minute pünktlich davon. (...)
(aus "Die Hundeesser
von Svinia" von Karl-Markus Gauß)
Svinia, ein Ort im Osten der Slowakei, in der Erweiterungszone der Europäischen
Union; und ein Ort, wie aus der Zeit und der Welt gefallen. Dort leben die Ausgestoßenen
unter den ärmsten der Europäer, Roma, die so lange umgesiedelt, verfolgt, missachtet
wurden, bis sie ihre eigene Geschichte vergaßen. Die 700 in Svinia lebenden
Menschen werden selbst von den anderen Roma verachtet, weil sie als Degesi,
als "Hundeesser", gelten und eine Kaste der Unberührbaren bilden. Von dieser
fremden, nahen Welt berichtet dieses Buch, mit dem uns Karl-Markus Gauß aufs
Neue das Staunen über Europa lehrt. "Dort, wo das größte Elend herrscht, stieß
ich immer wieder auch auf eine rätselhafte Lebenskraft." (Karl-Markus Gauß)
(Zsolnay)
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