(...) Luis Sebastián Rosado, Party bei den Moores, mehr als zwanzig Personen, Garten mit angestrahltem Rasen, Stadtteil Las Lomas, Mexico DF, Juli 1976. Entgegen sämtlichen Möglichkeiten, die die Logik und das Spiel des Zufalls bereithalten, traf ich Piel Divina noch einmal. Ich weiß nicht, wie er meine Telefonnummer herausbekommen hatte. Seiner Version zufolge rief er zuerst in der Redaktion von Linea de Salida an, wo sie sie ihm gaben. Entgegen sämtlichen Vorsichtsmaßregeln, die mir der gesunde Menschenverstand diktierte (aber, verflucht noch mal, so sind wir Dichter eben, ist doch wahr!), vereinbarten wir noch für den gleichen Abend ein Treffen in einer Cafeteria im Süden der Avenida de Insurgentes, wohin ich manchmal ging. Allerdings erwog ich die Möglichkeit, daß er nicht allein zu der Verabredung erschien, aber als ich (mit einer halben Stunde Verspätung) hinkam, entschlossen, auf dem Fuße kehrtzumachen, sollte ich ihn in Begleitung erblicken, sorgte allein schon der Anblick von Piel Divina, wie er da schreibend über den Tisch gebeugt saß, dafür, daß ich in meiner Brust, die sich bis dahin taub, vereist angefühlt hatte, Hitze aufsteigen fühlte.
Ich bestellte einen Kaffee. Ich sagte, er solle sich auch etwas bestellen. Er blickte mir in die Augen und lächelte verschämt. Er sagte, er habe kein Geld. Spielt keine Rolle, sagte ich, bestell, was du willst, du bist eingeladen. Daraufhin sagte er, er habe Hunger, und bestellte sich ein paar enchiladas. Hier machen sie keine enchiladas, sagte ich daraufhin. Aber sie bringen dir ein Sandwich, wenn du willst. Er schien einen Augenblick lang zu überlegen und sagte dann, einverstanden, ein Schinkensandwich. Insgesamt aß er drei Sandwichs. Wir saßen bis zwölf Uhr nachts und redeten. Eigentlich hätte ich diverse Leute anrufen und sie vielleicht treffen sollen, aber ich rief niemanden an, oder doch, ich rief meine Mutter von dort, von der Cafeteria aus an, um ihr zu sagen, ich käme später, die anderen Verabredungen schlug ich in den Wind. Worüber wir redeten? Über viele Dinge. Seine Familie, sein Heimatdorf, seine ersten Tage in der Hauptstadt, seine Schwierigkeiten, sich an das Leben in der Stadt zu gewöhnen, seine Träume. Er wollte Dichter, Tänzer und Sänger werden, fünf Kinder haben (so viele wie Finger an einer Hand, sagte er, streckte mir die Handfläche entgegen und hätte fast mein Gesicht gestreift), er wollte sein Glück in den Filmstudios von Churubusco versuchen, er sagte, Oceanski habe ihn schon mal zu einer Probe für ein Stück bestellt, er wollte malen (bis in die entferntesten Einzelheiten erzählte er mir von seinen Ideen für diverse Gemälde), also, ich jedenfalls war an einem bestimmten Punkt unserer Unterhaltung versucht, ihm mitzuteilen, daß ich absolut keine Vorstellung davon hätte, was er denn nun in Wirklichkeit vorhatte, blieb aber lieber still.
Dann lud er mich ein, mit zu ihm nach Hause zu gehen. Ich wohne allein, sagte er. Ich fragte bebend, wo. In Roma Sur, sagte er, in einer Dachkammer, den Sternen nahe. Ich antwortete, eigentlich sei es ja schon ziemlich spät, nach zwölf, und ich müßte zu Bett, denn am nächsten Tag komme der französische Romancier J.M.G. Arcimboldi nach Mexiko, mit ein paar Freunden, und ich sei damit beauftragt, eine Führung zu den interessantesten Plätzen unserer chaotischen Hauptstadt zu organisieren. Wer ist dieser Arcimboldi? fragte Piel Divina. Herrgott, was für Ignoranten, diese Realviszeralisten! Einer der bedeutendsten französischen Romanciers, sagte ich, obwohl von seinen Werken bis jetzt kaum etwas ins Spanische übersetzt worden ist, das heißt bis auf ein, zwei Romane, die in Argentinien erschienen sind, tja, ich habe ihn natürlich auf französisch gelesen. Der Name sage ihm überhaupt nichts, meinte er, und dann fing er wieder an, mich zu bedrängen, ich solle zu ihm nach Hause zu kommen. Warum soll ich mit dir gehen? sagte ich und sah ihm in die Augen. Gewöhnlich bin ich nicht so furchtlos. Ich muß dir etwas anvertrauen, sagte er, etwas, was dich interessieren wird. Wieviel davon wird mich interessieren? fragte ich.
Verständnislos sah er mich an und sagte dann, plötzlich ziemlich aggressiv, wieviel von was? Wieviel Kohle? Nein, nein, sagte ich schnell, wieviel mich von dem interessieren wird, was du mir zu sagen hast. Ich mußte mich zusammenreißen, um ihm nicht den Kopf zu waschen und zu sagen, komm, du kleiner Trottel, raus mit der Sprache. Es ist etwas über die Realviszeralisten, sagte er. Pfff, interessiert mich nicht, sagte ich. Tut mir leid, nimm's mir nicht übel, aber die Realviszeralisten (mein Gott, allein schon dieser Name!) sind mir vollkommen gleichgültig. Aber das, was ich dir erzählen will, wird dich interessieren, ganz bestimmt, sie drehen ein Ding, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen, sagte er.
Für einen Moment, ich leugne es nicht, fuhr mir der Gedanke an einen Terroranschlag durch den Kopf, ich sah die Realviszeralisten, wie sie die Entführung von Octavio Paz planten, wie sie sein Haus überfielen (arme Marie-José, was für eine Katastrophe, das ganze Porzellan kaputt), ich sah, wie sie Octavio Paz in fliegender Hast aus dem Haus zerrten, an Händen und Füßen gefesselt oder eingerollt in einen Teppich, ich sah sie vor mir, wie sie in einem schwarzen, verrosteten Cadillac in Richtung Netzahuacóyotl verschwanden, mit Octavio Paz im Kofferraum, der sein Gefängnis mit Fußtritten traktierte, aber dann nahm ich mich zusammen, es waren wohl die Nerven, die Windstöße, die immer mal wieder durch die Avenida de Insurgentes fegen (wir sprachen auf dem Gehsteig miteinander) und die Passanten und Autofahrer für die krausesten Ideen empfänglich machen. Also schlug ich seine Einladung aus, aber er ließ nicht locker. Was ich dir zu sagen habe, wird die mexikanische Dichtung in ihren Grundfesten erschüttern, ich würde sogar behaupten, die lateinamerikanische, nicht die der ganzen Welt, das nicht, seine Fieberphantasien beschränkten sich auf die Grenzen der spanischen Sprache. Was er mir zu sagen habe, werde die gesamte Dichtung spanischer Sprache auf den Kopf stellen. Donnerwetter, sagte ich. Irgendein unbekanntes Manuskript von Sor Juana de la Cruz? Ein prophetischer Text von Sor Juana über das Schicksal von Mexiko? Aber nein, natürlich nicht, es sei irgend etwas, was die Realviszeralisten gefunden hätten, und die Realviszeralisten seien nicht imstande, ihre Nasen in die verschollenen Bibliotheken des siebzehnten Jahrhunderts zu stecken. Ja, also was denn dann? fragte ich. Das werde ich dir erzählen, wenn wir bei mir zu Hause sind, sagte Piel Divina und legte mir eine Hand auf die Schulter, als wolle er über mich herfallen, als wolle er mich noch einmal zum Tanz hinaus auf die gräßliche Tanzfläche im Priapo zerren.
Ich fing an zu zittern, und er merkte es. Warum sind es immer die Allerschlimmsten, auf die ich hereinfallen muß, dachte ich, warum nur fühle ich mich stets angezogen von den finstersten, ungebildetsten, hoffnungslosesten Gestalten? Diese Frage stelle ich mir für gewöhnlich zweimal im Jahr. Eine Antwort habe ich nicht. Ich sagte, ich hätte die Schlüssel zum Atelier eines befreundeten Malers. Ich sagte, wir sollten doch dorthin gehen, es sei gleich in der Nähe, so daß wir zu Fuß dorthin spazieren könnten, und unterwegs könnte er mir erzählen, was er wolle. Ich dachte, er würde nein sagen, aber er war einverstanden. Plötzlich wurde die Nacht wunderschön, der Wind hörte auf, nur eine sanfte Brise begleitete uns auf unserem Weg. Er fing an zu reden, aber, offen gestanden, ich habe alles wieder vergessen. In meinem Kopf war nur Platz für eine einzige Sorge, einen einzigen Wunsch, daß nämlich Emilio nicht im Atelier sein möge (Emilito Laguna, der jetzt in Boston Architektur studiert, seine Eltern hatten die Nase voll von der mexikanischen Boheme und schickten ihn dorthin: Entweder Boston und ein Architekturdiplom, oder du fängst an zu arbeiten) und auch keiner seiner Freunde, und daß, hilf Himmel, für den Rest der Nacht kein Mensch in die Nähe des Ateliers kommen möge. Und meine Stoßgebete fanden Gehör. Nicht nur, daß niemand im Atelier war, es war außerdem sauber und aufgeräumt, so als sei Lagunas Putzfrau soeben zur Tür hinaus. Und er, was für ein tolles Atelier, hier bekommt man richtig Lust zu malen. Ich wußte nicht, was ich machen sollte (bedauerlicherweise bin ich in solchen Situationen leider ziemlich schüchtern) und fing an, ihm Emilios Gemälde zu zeigen, was Besseres fiel mir nicht ein, ich reihte eines nach dem anderen die Wand entlang auf und hörte mir seine gemurmelte Zustimmung oder die hinter meinem Rücken gemachten kritischen Kommentare an (von Malerei hatte er keine Ahnung), während die Reihe der Gemälde einfach kein Ende nehmen wollte, und ich dachte, mein lieber Mann, Emilio hat aber reichlich gearbeitet in letzter Zeit, wer hätte das gedacht, es sei denn, es handelte sich um die Bilder eines Freundes, eine im übrigen ziemlich unwahrscheinliche Möglichkeit, denn ich bin imstande, aus dem Augenwinkel die verschiedensten Stile zu erkennen, vor allem, wenn es sich, wie auf diesen roten Leinwänden, bei denen Paalen etwas allzu deutlich Pate gestanden hatte, um einen klar umrissenen Stil handelt, na gut, was soll's, in Wahrheit interessierten mich die Bilder einen Dreck, aber ich war unfähig, die Initiative zu ergreifen, und als schließlich im gesamten Atelier lauter Lagunas an den Wänden standen, drehte ich mich schweißüberströmt um und fragte, wie sie ihm gefielen, woraufhin er sagte, ich hätte mir nicht soviel Mühe zu geben brauchen. Stimmt, dachte ich, lächerlich hab ich mich gemacht, und jetzt stehe ich da, staubbedeckt und nach Schweiß stinkend. Und er, als hätte er meine Gedanken gelesen, ich sei ja völlig verschwitzt, und ob es hier im Atelier ein Badezimmer gäbe, damit ich eine Dusche nehmen könnte. Das brauchst du jetzt, meinte er. Ich sagte, vermutlich mit kaum hörbarer Stimme, ja, hier gibt es eine Dusche, aber nur kaltes Wasser, glaube ich. Und er, um so besser, kaltes Wasser ist viel besser, ich dusche immer kalt, bei mir auf dem Dach gibt es kein warmes Wasser. Ich ließ mich von ihm zum Badezimmer ziehen, zog mich aus, drehte die Dusche auf, und der Kaltwasserstrahl raubte mir fast die Sinne, das Fleisch zog sich zusammen, bis ich jeden einzelnen meiner Knochen spürte, ich schloß die Augen, wahrscheinlich fing ich an zu schreien, da trat er zu mir unter die Dusche und umarmte mich. Die restlichen Einzelheiten möchte ich lieber für mich behalten, obwohl ich durchaus romantisch veranlagt bin. Einige Stunden später, in der Dunkelheit, während wir ausruhten, fragte ich, wer ihm und seinem Körper einen so göttlichen, treffenden Namen gegeben habe, Piel Divina. So heiße ich eben, sagte er. Ja, einverstanden, es ist dein Name, aber wer hat ihn dir gegeben, ich möchte gern alles von dir wissen, all diese leicht tyrannischen, etwas törichten Dinge, die man sich erzählt, nachdem man sich geliebt hat. Und er: María Font, und schwieg, als hätte ihn mit einemmal die Erinnerung überwältigt. Sein Gesichtsausdruck erschien mir traurig in der Dunkelheit, nachdenklich und traurig. Ich fragte ihn, mit leise ironischem Ton (wahrscheinlich hatte sich Traurigkeit und Eifersucht auch meiner bemächtigt), ob María Font die sei, die den Premio Laura Damián gewonnen habe. Nein, sagte er, das ist Angélica, María ist ihre ältere Schwester. Dann kam noch irgendeine Beobachtung über Angélica, die ich vergessen habe. Mir rutschte, fast von allein, könnte man sagen, die Frage heraus: Hast du mit María geschlafen? Seine Antwort (was hatte Piel Divina nur für ein wundervolles, tieftrauriges Profil) war niederschmetternd. Er sagte: Ich habe mit allen Dichtern Mexikos geschlafen. Es wäre der Moment zum Schweigen, zum Zärtlichsein gewesen, ich aber schwieg nicht, und streicheln tat ich ihn auch nicht, statt dessen fragte ich ihn weiter aus, und jede Frage war blöder als die vorige, und mit jeder sank ich tiefer und tiefer. Um fünf Uhr morgens trennten wir uns. Ich nahm in der Avenida de Insurgentes ein Taxi, er verschwand zu Fuß in Richtung Norden. (...)


aus "Die wilden Detektive" von Roberto Bolaño
Roman. Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg.
Liebesgeschichten und Todesfälle, Morde und Fluchten,Irrenhäuser und Universitäten, Figuren, die verschwinden, und solche, die mirakulöserweise stets von neuem auftauchen: Alles kommt in diesem Roman des Chilenen Bolano vor, der eine der größten Entdeckungen der lateinamerikanischen Literatur ist. (Hanser)
Buch bei amazon.de bestellen