(...)
"In archaischen Zeiten waren die Städteeroberer oft Nomaden,
die niemals zuvor hinten Stadtmauern gelebt hatten. Es ist nicht schwer, sich
die ambivalente Seele eines ausgehungerten Steppenjägers oder Nomaden vorzustellen,
der um die bunten, wasserreichen, vermögenden und üppigen, stark befestigten
und versperrten Städte herumzieht. Er lechzt nach ihr, oder er haßt sie. Das,
was ihm vor Augen steht, erscheint ihm wie ein Trugbild, das er ergreifen und
in Besitz nehmen möchte. Später, beim Übertritt ins urbane Leben, als er das
bunte Spielzeug dann in Händen hielt, brachte er die Freunde des unwirklichen,
unerwarteten Eintritts des Kindes
in
die Welt der Märchen mit. Wenn wir von der Theorie ausgehen, daß unmittelbar
am Anfang eines jeden mythologischen Gewebes ein bestimmter Anreiz steht, der
sowohl Neugier als auch Angst weckt, dann war die Stadt selbst eine hinreichend
komplexe und verwirrende Erscheinung für einen nichturbanen Menschen, der in
sie eindrang und sich in ihr einrichtete. Das Erlebnis des neuen Milieus und
die elementarsten Erkenntnisse seines Wesens könnten unter gewissen Bedingungen
jener insolitus gewesen sein, der den mythologischen Mechanismus in Gang setzte
und die notwendige mehr oder weniger sinnvolle Einordnung der wahrgenommenen
Phänomene in ein ganzheitliches System verlangte, und sei dies auch ein System
von Bildern. Bekanntlich läßt sich auf vielerlei Art über die Stadt in der Mythologie
diskutieren. Es gibt natürlich Unterschiede darin, wie die Stadt in den vorklassischen,
genauer, vorgriechischen Mythologien und wie sie in den
griechischen
Mythologien und wie sie in den griechischen Legenden gesehen wurde. Während
bei den Griechen in der Regel sowohl Polis als auch Unterstadt auf Anregung
aus Delphi, dem panhellenischen Informationszentrum, errichtete Schöpfungen
waren, göttlich inspirierte Gebilde also, und doch ein Werk von Menschenhand,
war in den vorgriechischen Mythologien fast jede stark befestigte Stadt eine
ursprüngliche und übermenschliche Schöpfung. Die griechische Städte wurden von
Gründerheroen gegründet, von Wesen aus Fleisch und Blut, die ihre Stammbäume
hatten, ihre Familie und ihre Nachkommen. Von vielen dieser Heroen sind die
Gewohnheiten und Neigungen im Gedächtnis geblieben, ..."
(...)
(aus "Architektur
der Erinnerung" Essays von Bogdan Bogdanovic)
Aus dem Serbischen von Klaus Detlef Olof; Wieser Verlag 1994)
Vier Jahrhunderte hielt sie: Am 9. November 1993 stürzte die Alte Brücke von
Mostar in die Fluten der Neretva. Das steinerne Symbol für einen lebendigen
Kulturbogen war, durch Granatenbeschuß, zerstört. Es ist ein Krieg gegen die
Erinnerung. Ihrer Architektur, ihrer städtischen Innen- und Außenansicht, spürt
Bogdan Bogdanovic nach. Seinen vielbeachteten Aufsätzen Die Stadt und der Tod,
Plädoyer für die offene Stadt und ihre Verteidiger, folgen neue Essays, ein
Aufruf zur pax urbana, wider die Barbarei von »Blut und Boden«, für ein neues,
europäisches
Alexandrien
des Zusammenlebens von Kulturen, Religionen, Sprachen - wie (bis wann?) in Sarajevo.
In luziden Nachforschungen zum Unterbewußtsein eines Landes ohne Wiederkehr,
im Rückblick auf antike Polis, vor dem Szenario einer Megalopolis dechiffriert
Bogdanovic die Semiologie der Zerstörung und Zeichen der Hoffnung. (Alb-)Traumpfade
eines Phantasten der Wirklichkeit? Baudenkmale? Phantasie ist produktive Erinnerung
- Leben, Werk und Essays von Bogdan Bogdanovic zeichnet sie aus.
Bogdan Bogdanovic, geboren 1922, lebte in Belgrad und Wien.
Architekturstudium, 1973 Professor an der Universität Belgrad,
1981 Austritt aus der Serbischen Akademie der Wissenschaften, 1982-1986
Bürgermeister von Belgrad, 1987 Rückzug in
Dissidenz. Bedeutender Architekt und Autor zahlreicher,
international beachteter Werke zur Architektur der Stadt. (Wieser)
Der serbische Architekt, Bildhauer und Autor ist am 18. Juni
2010 87-jährig in einem Wiener Spital gestorben
Weitere Bücher von Bogdan Bogdanovic:
"Der verdammte
Baumeister"
Erinnerungen. Mit 33 Skizzen
des Autors.
Bogdan Bogdanovic ist heute eine der wichtigsten Stimmen des anderen Serbien,
dessen Zeit nach der nationalistischen Diktatur von Slobodan Miloševic kommen
wird. Im Wiener Exil steigt der berühmte Architekt und ehemalige Bürgermeister
von Belgrad zurück in die "Rumpelkammer der Vergangenheit". Bogdanovic, Grenzgänger
zwischen Theorie und Praxis, berichtet von den Hoffnungen und den Tragödien
seines Lebens bis zu dem Zeitpunkt, da ihn der ehemals servile Funktionär Miloševic
aus seiner Heimat vertrieb. Übersetzt wurde dieses Selbstzeugnis eines kosmopolitischen
Intellektuellen von seinem Freund seit Belgrader Jugendtagen und Weggefährten
Milo Dor. (Zsolnay)
"Vom Glück
in den Städten"
Bogdan Bogdanovic, Architekt
und ehemaliger Bürgermeister seiner Heimatstadt Belgrad, nimmt den Leser mit
auf eine Reise rund um die Welt, auf eine Zeitreise durch ein halbes Jahrhundert.
Er zeigt ihm, was es bedeutet, eine Stadt zu lesen, sie sinnlich-poetisch zu
erfahren. In den Nachkriegsjahren streift er zu Fuß durch die Ruinen westeuropäischer
Städte, besucht Jahre später in Georgien das Geburtshaus
Stalins, hält sich
Ende der sechziger Jahre, während der Studentenunruhen, in amerikanischen Universitätsstädten
auf, reist nach Pjöngjang und Peking. Mit feiner Ironie und Sinn fürs Groteske
zeigt er, wie sich ihm die "Archäologie der Zukunft" darstellt. (Zsolnay)
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einer Leseprobe