Verläufe
von Doris Krestan
1.
"Gemein. Gemeinsam. Ungemein. Ungemeinsam.
Genug. Ungenug. Spät. Unspät. Sind das die Vorzeichen eines Zweitbewusstseins?
Flutet beständig auch die feinsten Verästelungen der Jetztzeit. Wie auch
immer, immer irgendwie auf jeden Fall. Heute schon im Trottelverzeichnis geblättert?
Sind bestimmt wieder neue dazugekommen. Branchentrottel, im alphabetischen Gänsemarsch
eingefroren. Abmarsch, Richtung Schließmuskel, Tempo. Klimmzüge die Frühstücksunterhaltung
empor."
Nicht "wohin" ist die Frage, sondern
"wo". Nicht "wann" sondern "derzeit" das Problem.
Wie aus der Pistole geschossen. Ralfs Reden ist mehr nach Art eines
Schrotflintenschusses: Breitgestreute
Wortsalven, irgendein Splitter wird schon
treffen. Verständlichkeit als temporäres Kriterium. Biologisch abbaubar
ist ebenso weitläufig. Wäre, könnte, würde, tut nicht. Hat nicht. Will, kann
nicht. Brotberuf, Berufskrankheit, Krankheitsbild, Bildungsbürger. Findelkind,
Kindskopf, Kopftuch, Tuchfühlung. Wie war das mit der "Fühlung"? Wer
fühlt da an wem herum? Gar nichts weiß er heute.
"So also stehen die Dinge, liegen die
Sachen, schmecken Niederlagen. So und nicht anders. Stehsätze, Stehplätze. Ein
Königreich für zehn Minuten Erleichterung!" Gemächlich faschiert sich
Schnupfensekret aus seinen Nasenlöchern. Zugreifen, meine Damen und Herren!
Eine Szene aus einem Traum der Kindertage schnalzt ins Grübeln: Die Mutter, im
weißen Umhang, einen Stern auf dem Kopf, einen Bauchladen umgebunden und ein
Schild "Ohrenschmalz". So stand sie da und bot die zweifelhafte Ware
an. Stumm, den Blick im Boden eingezwickt, der leibgewordene Vorwurf.
"Haben wir gesprochen?" zerschneidet
Ilses Heiserkeit die Endlosschleife der Kindzeit.
"Gesprochen?"
Wiederholung als Vortäuschung von Aufmerksamkeit und Verständnis. Achten!
Sieben! Zahlen wie Imperative gebrauchend entwischt der Gesprächskeim in
staubige Hirnritzen. Kommt sonst noch was vom Gegenüber? Nein, die Zeitung hat
es aufgesogen, Löschblattwirkung. Wortschwall aufgetunkt, im Ansatz eingedämmt.
"Heute wird es später."
Sagt man
(Ralf) halt so. Bedeutet, dass es länger dauern wird, was auch immer. Und später
wird es ohnedies unaufhörlich, ganz ohne irgendein Zutun. Morgen, um dieselbe
Zeit, wird es dennoch später sein. Aber wo befindet er sich denn schon wieder?
Im keimfreien Zustand, die Spurensicherung auf den Fersen. "Fersengeld,
Geldsorgen, Sorgenfalten, Faltenrock", verbeißt sich der Menschenverstand
in die Leere. Maulsperre. "Ich gelobe, ich verlobe". Was, wen? Das
technische Handbuch vom Einsatz der Sinne - Ralf hat es sich zugelegt. Sich
dazugelegt, sich draufgelegt. Situationsblitze mit Frauenkörpern stranden, von
der Brandung in geduldiger Erosion glatt gescheuert. "Ilse, Bilse, keiner
will se; und der Koch nahm se doch." Wie im Kinderbuch.
Da sitzt sie also, hinter der Zeitung; Ilse.
"Bin kein Koch", denkt er, "und nahm se doch."
Diese Ilse also, das Gesicht in Schlagzeilen
verhaftet, kippt den Kaffee hinunter, weidet eine Semmel aus und erdolcht
Butterecken. "Später wird es", übertönt sämtliche Druckbuchstaben
in ihrem Kopf. Unfrüh, geradezu. Morgenstimme aus dem Hals geflohen, Faltental
zwischen den Augen, ein Brennen auf der Zunge. Schon wieder ist der Kaffee zu
heiß! Zorngefuchtel mit der rechten Hand, die Butter kriecht den Bußweg auf
der Semmel entlang.
Zweimal fünf Finger vergrößern die Flügelspannweite
der Zeitung solange, bis ein schüchterner Riss die Zerrung zum Stillstand
bringt.
"Schau dir das an! Ein Witz ist das!" Kontrollblick ralfwärts.
Ja, ein Witz. Ilse lacht nicht, sie wütet
subkutan. Ralf lacht auch nicht, ist er doch nur als Leerhülle anwesend,
bestenfalls imstande, eine Autopilotunterhaltung zu führen. Koffergriff
umfaustet, Jacke geschultert, Ilse aus der Ferne bebusselt (geschätzte zwei
Meter Luftlinie Zwischenraum).
"Wie gesagt: Heute wird es. Später."
2.
Ralf lehnt an einer Hausmauer, um den Wolkenbruch
zwar hautnah, nicht jedoch hautnass mitzuerleben. Mittagspause hat er, spazieren
geht er. Überall die Schlagzeilen vom Absturz des Überschallfliegers. Krachte
der doch gestern in ein Hotel! Dass so etwas überhaupt, und lauter Deutsche...
"... zwei Minuten für eine
Meinungsumfrage?" tippt ihm eine Hand auf den Unterarm. "Kennen Sie 'Cybertime'?"
Stimme von links. Ralf zwingt den Blick von der Regenfront in die Fragerichtung.
Studentin, geisteswissenschaftlich, schätzt er, in Ethno-Fetzen gefüllt, wirre
Hochsteckfrisur. Ralf zieht einen Zehner aus der Hosentasche:
"Zeit ist
Geld. Regen ist Ruhe." Fünf schwarzlackierte Fingernägel krallen den
Schein. Schweigen. Bleibt die doch glatt neben ihm stehen. Unmut, Mutprobe,
Probealarm, Alarmstart. Aber er startet nicht, lehnt einfach weiter, Hören und
Sehen wieder dem Guss gewidmet. Sie? Ebenso hingestülpt, als wären beide
gemeinsam aus einer Kuchenform geplumpst. Stadtwetter.
"Haben wir gesprochen?"
Wasistdennjetztschonwiederlos? Ralf schielt verstohlen hinüber zu ihr.
"Wir? Gesprochen? Unwahrscheinlich." Geschwätziges Etwas da neben
ihm!
"Margot."
"Aha."
Es blitzt und donnert. Menschen,
klebnasse Textilien am Leib, hasten vorüber, als ob ein tyrannischer Kutscher
Peitschenschläge austeilen würde. Erstaunlich, diese sinnlose Eile.
"Margot also."
"Ja."
Ein Windstoß tauft beide mit
Spritzwasser.
"Na prima, das Kleid war teuer!"
Ralf bemüht sich,
unauffällig genauer hinzuschauen: Grün und Schwarz ineinander schattiert,
Stickerei, Rüschen.
"Wieviel?" fragt er, ohne zu wollen.
"Was?"
"Vergessen Sie's." Dieses Nebeneinanderreden führt
aber auch zu gar nichts.
Das Regenrauschen wird schwächer. Margot zupft
an den Rüschen des Kleides:
"Ich könnte einen Kaffee vertragen."
Könnte,
würde, wäre, tut nicht, wird nicht? Ralf spielt Sprücheroulette: Diverse
Floskeln umkreisen die Möglichkeit, welche wird die Kugel treffen?
"Wohin
könnten Sie einen Kaffee vertragen?"
Ein fragender Antwortblick zerkratzt
seine Belustigung, sodass er rasch: "... da vorne ist ein Lokal" anhängt.
"Cybertime kennt weder Tag noch Nacht", prahlt ein Plakat.
"Sieben Tassen Espresso?"
Der Kellner
befindet sich im Zustand fassungsloser Ungläubigkeit, bohrt die Spitze seines
Kugelschreibers in den Block, starrt gefühlsgemischt in Ralfs nebelgraue Augen.
Margot nickt unterstützend: "Klar doch!"
Unverständliches murmelnd
zieht sich der Kellner hinter die schützende Theke zurück.
"Also?" Margots getrocknete Stimme
bricht aus dem allgemeinen Gemurmel hervor: "Sieben Tassen, das ist ja
wirklich außergewöhnlich. Was tust Du sonst noch, wenn Du nicht gerade Kaffee
trinkst?"
Da ist es schon, das "Du". Ralf ankert in einem
Kurzschluss:
"Ich vertrete Ansichten."
Angriffslustiger Direktblick in
Margots Ausschnitt. Die Rettung naht in Gestalt des Obers, der die sieben Tassen
auf dem Tisch verteilt:
"Wohl bekomm's."
Ralf leert die erste. Während er trinkt, dehnt
er sein Blickfeld im Lokal aus. Nasowas! SitztdaetwaIlse? Unddanebenihr?
DasistdochStefan! Wie die zusammen lachen, so vertraulich, so frischgepflückt
rotwangig. Früher hat ER sie so geerntet. Die kleben so dicht nebeneinander,
dass sie gar nichts dreidimensional wahrnehmen, schon gar nicht ihn, Ralf. Den
Nochfreund. Er taucht beide Daumen in den Kaffee, um irgendetwas zu empfinden.
Schmerz, Zorn, was auch immer. Biegt sein Schauen zwanghaft beiseite. Optischer
Themenwechsel, zurück in Margots Ausschnitt:
"Was machst Du so, wenn Du
nicht gerade im Regen stehst?"
"Ich sammle Einstellungen, verbiege
Aussagen. Und manchmal ergibt sich was. Reich wird man damit nicht, aber."
Das Gespräch findet offenbar nicht wirklich statt, findet Ralf. Margot nippt ständig
an ihrer Tasse, lächelt ihm zwischendurch mitten ins Gesicht. Verunsichert ihn
das womöglich? Ilses Lachhusten fliegt quer durch den Raum, ein Schniefen im
Schlepptau.
"Die Rechnung bitte."
Ralf mag so
nicht. Nicht so sitzen, nicht so reden, nicht so Ilse sich amüsieren sehen.
Gehen mag er, egal wohin. Weg. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben -
eine
alte Frau kocht Rüben, eine alte Frau kocht Speck, schneid't sich's
Fingerspitzel weg. Diese Kinderreimfetzen, die immer im Untergrund lauern!
Untergrund, Grundwasser, Wasserader, Aderlass.
"Das macht vierzehn, bitteschön."
Wiewas? Achsoja, zahlen. Margot gibt dem Ober drei Fünfer:
"Stimmt so."
Hat der jetzt: "Zu freundlich" gesagt?
Und es
wird später.
3.
Wieder an seinen Schreibtisch zurückgekehrt, lässt
sich Ralf zuerst einmal die neuen Verträge vorlegen: Fusionsgefasel.
Transfusionen, Transaktionen, Transdanubien. Anwaltliche Vernunftschübe aus dem
Hinterkopf drücken die Stirn in Falten.
"Frau Kaiser? Frau Kaiser! Wo ist
die Bedarfserhebungsstudie?"
Die Sekretärin dackelt herein:
"Bitteschön,
Herr Doktor. Haben Sie noch einen Wunsch?"
Dieser katholische Tonfall reizt
ihn immer wieder.
"Wünsche sind Teufel, Frau Kaiser. Bitten Sie Herrn
Magister Voland zu mir. Danke."
Besprechungen, Versprechungen, Entsprechungen.
Absprachen, Ansprachen. Endlich Schluss.
"Schönen Abend, Herr
Doktor!", Frau Kaiser schmilzt ein Lächeln auf ihren Lippen.
"Sozusagen", antwortet der Akademikermund.
Es ist später geworden,
und Ralf lässt seine Juristenhülle am Kleiderständer zurück: Einfach nur
Ralf sein, will er, einfach trotzdem Ralf sein, einfach eigentlich Ralf sein.
Wohin jetzt?
Vor dem Spiegel beim Aufzug pudelt sich Frau
Kaiser die Frisur zurecht: Dauerwelle extrem; widerspenstige, unblonde
Minikringel. Sackgasse, Umleitung, Geschwindigkeitsbegrenzung. Was sagt man nach
der vermeintlichen Verabschiedung? Die Sekretärin speichelt:
"Hinaus in
die Ferne, mit Butterbrot und Speck! Das hab' ich so gerne, das nimmt mir
keiner weg - ".
"Frau Kaiser in Fresslaune?! Warum nicht - kann
genausogut mit ihr - ich frag' sie einfach - ", beschließt Ralf,
schrittweise näherkommend.
Kling! Tür auf, Frau Kaiser rein. Kling! Tür
zu, Frau Kaiser weg, Aufzug weg. Ralfverspätung, Ralfärger, Ralfwut. Ralf auf
der Kaiserjagd im Stiegenhaus, Treppen runter, springt, rennt, schneller,
schneller, schneller. Frau Kaiser als Oase in der Abendwüste schönfantasierend.
Er stolpert, rutscht, fällt. Liegt. Schreit, zerbrüllt die Leere. Plötzlich
Stille. Und es wird später.
4.
"Weh. Unweh. Heil. Unheil."
Ralf
sortiert seine Körperteile, keine Ahnung, wie lange er schon auf den Stufen
liegt. Kühl sind die Steinplatten, trostspendend wie früher die Mutterhand auf
der fiebrigen Ralfkindstirn. Das Gebläse der Klimaanlage summt, von draußen
sickert bleichgelbes Straßenlicht herein. Blut an den Fingern, Blut auf dem
Hemd. Aufstehen? Vorsichtig zieht sich Ralf am Geländer hoch.
"Not to
touch the earth, not to see the sun, nothing left to do but run, run, run
-" er krächzt, als er der Melodie Leben einzuhauchen versucht. Rennen, das
kann er jetzt nicht. Hinken bestenfalls. Und genau das tut er, zurück in sein Büro,
wo er sich auf die Ledercouch fallen lässt.
Frau Kaiser ist längst entwischt, verschwunden,
aus den Augen. Nicht jedoch aus dem Sinn. Sinnkrise. Was hat Ralf da neulich im
technischen Handbuch vom Einsatz der Sinne gelesen? "Man darf aus dem
Experiment keineswegs schließen, dass das Resultat vollständig unbegründet
ist. Kapitel: Die Widerlegung der Liebe im unbeweisbaren Bekenntnis." Aber:
Wer fühlt sich unter Laborbedingungen schon betroffen, in simulierten
Kommunikationsketten? Ralf jedenfalls nicht. Und diese Kopfschmerzen!
Automatisierter Griff zum Telefon, Ilse anrufen.
"Hallo, ich bin derzeit nicht zu Hause. Bitte sprechen Sie eine Nachricht
auf Band, ich rufe zurück!"
Die Sprachkonserve also. Ralfzweifel (nicht zu
Hause? Wo denn sonst?) Egal, jetzt sprechen:
"Hallo, bin derzeit auch nicht
zu Hause ..." Auflegen. Wozu soll er mehr sagen, wenn ohnedies niemand zuhört?
ObsiemitStefan ...?
Ralf sucht Aspirin, durchwühlt die
Schreibtischladen.
"Frau Kaiser!?"
Achsoja, die ist ja nicht mehr da.
Ein Ilsefoto (kein Ildefonso) hat sich zwischen Notizzetteln verfangen, Ilse vor
irgendeiner Kirche, in irgendeinem schwarzen Mantel, ohne irgendein Lächeln im
Gesicht. Kein Aspirin zu finden! Ralf gräbt in seinen Hosentaschen. Wasistdas?
Ein knitterfaltiges Stück Papier mit einer Telefonnummer drauf, und einem
"M". M? Das Privatgehirn durchsucht sich nach Namen -
"Margot", zischt es ihm zu. Mittagsregen, Meinungsumfrage, Margot.
Jetzt anrufen? Jetzt gleich? Könnte, würde, möchte, wählt schon. Präparierte
Schrebergartendialoge entschrauben sich selbsttätig, einsatzbereites Gewäsch
eben. Läuten lassen. Einmal, zweimal, dreimal.
"Ja, hallo?"
Geht die
doch tatsächlich mitten in der Nacht zum Telefon! Wie spät? Weg sind die
aufgetauten Dialogmuster. Pause.
Nochmals: "Hallo? Wer spricht?"
Gute
Frage. Im Moment spricht Margot. Soll er das etwa sagen? Ralf schluckt den Reiz
hinunter und kratzt:
"Ralf spricht jetzt" aus seiner Kehle.
Pause.
"Und was spricht Ralf jetzt?", fischt Margot nach mehr.
Auch das noch,
simulierte Kommunikationsketten auffädeln.
"Ich blute. Und ich habe
Hunger."
"Krisensituation?"
"Sozusagen."
Margot gähnt
hörbar.
Pause.
"Ich weiß nicht, wo ich sein könnte", stückelt Ralf
Absicht und Frage aneinander.
"Du könntest hier sein", wünscht er
sich zu hören. Akustischer Placebo-Effekt. Pause. Blockabfertigung, Wort für
Wort.
"Haben wir gesprochen?", argwöhnt sein Zweitbewusstsein.
Margots Stimme schnörkelt sich in sein linkes Ohr: "Kannst ja herkommen.
Wenn Du kannst. Umschlagplatz 74, fünfter Stock, Tür 45. Ja?"
Einfach
"ja" sagen. Einfach so. Einfach gleich. Und er sagt es:
"Ja."
Mit Ebbe im Mund.
Ralf stellt sich vor, wie noch ein Hörer
aufgelegt wird. Ob Margots Gesicht die Färbung irgendeines Lampenschirms übernimmt
, der vielleicht vor ihren Augen baumelt; morgenrot? Ob sie sich fragt, was sie
sich da antut? Ihn einzuladen. Erwartet sie sich etwas davon, und wenn ja, was?
Ansichten vertritt er, hat er ihr gesagt und zehn Euro für Ruhe
gezahlt. Er umkrustet sich mit Antiantworten. Wird sie sich gerade hastig kämmen,
etwas anziehen? Nicht irgendetwas. Aber auch nichts Besonderes, nicht dass er
womöglich glaubt ... Ob sie seine mimische Einzementierung im Café bemerkt
hat? Das krampfhafte Wegstarren, das erstarrte Verkrampfen ... Es beginnt wieder
zu regnen. Nachtregentropfen, lauschwarz, zerbersten, zerprallen, zersprühen,
lecken das Blut von seinen Fingern. So wird das Ralfbewusstsein aufgeweicht,
pflegeleicht vorgekaut, bei Margot ankommen.
5.
Zeigefingerkuppe sticht Klingelknopf, Resultat:
Schnarren. Ein Krachen staubt aus der Gegensprechanlage. Gegensprechen? Keine
Margotstimme, ein Summen erklingt. Ralf rempelt sich vorwärts ins Hausinnere.
Licht!? Ein Schalter glotzt ihn mit einem glutroten Auge an, Ralf sticht
abermals zu. Schwaches Licht macht den Aufzug sichtbar. Aufzug, Luftzug, Umzug.
Aufsteigen, luftsteigen, umsteigen. Fünfter Stock, aussteigen. Türnummer 45?
Miethausmief, Hundegebell. Schuhe bevölkern die Gänge. Die Wahrheit ist
irgendwo da drinnen.
"Wirklichkeit ist Licht", füttert er seine
Denkblasen mit Schlagschaum. Türnummer 45 ? Ralf, schlicht und einfach.
Schlicht, geschlichtet, innerlich umgeschichtet. Angezogen, ungezogen,
eingezogen. Zu Margot hingezogen? Das Ganglicht versickert hinter den sieben
Bergen, bei den sieben Zwergen. Ralf setzt sich neben einen abgestellten
Kinderwagen, greift hinein, zieht etwas heraus. Schon wieder so ein
undefinierbares Stofftier, geschlechtslos, schlaffweich, riecht säuerlich. Er
knetet den Wanst des wehrlosen Kinderspielzeugs und denkt an seinen
Stoffelefanten, den er vor vielen Jahren auf große Fahrt schicken wollte, und
ihn daher in der Klomuschel versenkt hat. In der Finsternis sind alle Stofftiere
gleich. Gleich egal.
Von irgendwoher ein Ticken im Sekundentakt, das
Ralf gewaltig auf die Nerven geht. Die Evolution der Uhren hat er seit seiner
Kindheit mit Argwohn verfolgt, sich stets geweigert, eine Armbanduhr zu tragen.
Im Büro lässt er sich von einer Sanduhr berieseln, die respektiert zumindest
seine innerliche Distanz zur Umweltzeit. Tick, tick, tick. Woher kommt dieses
elende Störgeräusch? Weg will er, schnell weg. Tick, tick, tick. Dann ein
leises Zischen und aus dem Stofftier entweicht stechender Qualm, beißt sich mit
Ralfs letztem Atemzug in die Lunge hinunter, treibt seinen Herzschlag durch den
ganzen Körper vor sich her, sickert in sein Denken ein. Solange, bis die
Dunkelheit ihn ganz ausfüllt.
Eine Wohnungstür öffnet sich, Türnummer 45.
Margot schiebt den Kinderwagen ins Vorzimmer hinein, Ilse schließt die Tür.
Ende
(von Doris
Krestan)