Der Tod des Vaters
Kurzgeschichte von Marianne Leersch
Ein Bett - weiße Stäbe - Schläuche, die den letzten Saft herausführen aus dem ausgemergelten Körper, zugedeckt mit einer weißen sterilen Decke. Hände, Arbeitshände, die durch den Hunger der Krankheit klein und hilflos geworden sind, fahren tastend, zitternd unter das Kopfkissen, als suchten sie die Überreste, die noch vom Leben, Wohnen, Daheimfühlen geblieben sind.
Aber da ist nichts mehr. Sie fahren zitternd im Kreis, die Finger gekrümmt, um zuzupacken, einen letzten Halt, der vom Leben geblieben ist, zu erhaschen. Nichts. Es ist vorbei. Das Warten beginnt, das Warten auf den Tod, auf Erlösung, das Warten auf das Ende der Schmerzen, gedämpft aber nicht besiegt durch unzählige Tabletten, die hinuntergewürgt werden, weil auch das Schlucken verlernt wurde.
Die Hände, runzlig klein, schwere Arbeitshände, geschrumpft, Schwielen zu glatter Haut umgekehrt, tasten sich vorwärts, suchen nach der Würde, die mit der Unterhose vom Personal ausgezogen, weggelegt, versperrt wurde.
Ein Häufchen Elend, hilflos, zurückgezerrt in das Säuglingsstadium, zurückgezerrt von der Krankheit, den Schläuchen, der Maschinerie , von Menschen, in weißen Kitteln, die den Fall betrachten, Berechnungen anstellen, wann mit dem Bett zu rechnen ist. Das Krankenhaus ist voll, die Station überbelegt, jedes Bett wird gebraucht.
Sie warten, dass der Fall sich auflöst, dass das Bett geräumt, die letzten Habseligkeiten in einen braunen Sack gesteckt werden. Sie warten, dass der Körper aufgibt, damit der braune Sack dem nächsten Besucher gegen Unterschrift ausgehändigt werden kann. "Es tut uns leid, er ist kurz nach Mitternacht gestorben. Wie hat Sie niemand angerufen ? Eine Unterschrift bitte, hier seine Sachen, nein ihn können Sie nicht mehr sehen, er ist im Keller. Ein letzter Blick ? Nicht hier, vielleicht beim Beerdigungsinstitut."
Fassungslos, unfähig ein Wort zu erwidern, den Sack mit beiden Händen festklammernd, als könnte er einen Halt geben. Im Sack klimpern zwei leere Bierflaschen, zwei Schlafanzüge, die nie angezogen wurden. Ein Hemd vom Krankenhaus ist für das Personal praktischer. Wen stört schon das hochgerutschte Hemd, wenn die Würde mit der Hose weggesperrt wurde, darauf wartend, dass sie vielleicht zurückkehren kann in den toten Körper, wenn aus dem Fall wieder ein Mensch geworden ist, dem Ehre erwiesen wird, dem Tränen nachgeweint werden.
Tränen um ein verpfuschtes Leben, Tränen aus Mitleid, Tränen einer nie gezeigten Liebe, die darauf gewartet hat, sehnsüchtig verborgen, über Jahre versteckt gehegt. Nur am letzten Tag vor dem Tod, vor der Erlösung, hat sie sich vorgewagt, ist vorgebrochen, ohne Worte, übertragen nur durch Hände, Hände, die wieder zu kleinen Mädchenhänden wurden, Hände, die dem Vater gehören.
Hände, die sich halten, langgehegte, nie ausgesprochene Liebe pulsiert durch Fingerspitzen, unausgesprochene Worte werden empfangen, verstanden, Fragen beantwortet, ungläubige Blicke werden wissend. Sie war da, nie konnte sie einer zeigen, sie wartete geduldig, bis der Körper die Sprache verloren hat, um sie zu zerreden. Bis der Körper unfähig sich zu bewegen, sich nicht mehr wegdrehen kann.
Die Augen, die letzten Tage trüb, verhangen, sind klar. Wissen steht darin, das Wissen um das Ende, das Wissen um das Gelebte, um das Versäumte. Die Augen, klar, empfangen die Botschaft: Es ist alles gesagt, es ist alles verstanden, es gibt nichts zu vergeben, du konntest es nicht besser machen. Die Augen, sie schließen Frieden. Die Hände lösen sich, der Friede bleibt.
Schweiß steht auf der Stirn. Vorsichtig, zärtlich wird er abgetrocknet. Der Mund bewegt sich, macht leise schmatzende Geräusche, ausgetrocknetes, ausgedörrtes Schmatzen. Behutsam flößt sie ihm ein wenig Wasser ein, angstvoll wartet sie auf das Husten und Würgen, das nach dem ersten Schlucken einsetzt. So viel Qual für eine kleine Linderung. Die Besuchszeit ist vorbei. Ich komme morgen wieder - ruh dich aus.
Ein letzter Blick, seine Augen folgen ihr, wie sie zur Tür geht, sie leise öffnet. Ein Blick zurück, das Bett umfassend, die Liebe aufnehmend und erwidernd.
Am nächsten Tag ist das Bett leer. Sie macht sich auf die Suche nach der Schwester, findet sie im Schwesternzimmer. Findet sie mit dem braunen Sack. " Ihr Vater - wie hat man Sie nicht angerufen - der ist kurz nach Mitternacht gestorben.