Spiegelsee

von Doris Krestan


Fragment 1; Erinnerungen:

Fünfzehn schwarze Schritte ergießen sich giftig über splitternde Planken, wo Irrlichter hinter grauen Steinen modern. Sieben rote Tropfenspuren laufen die stürzende Wand entlang. Sie sickern tief in saugende Erde und gerinnen im Kern. Fünfzehn harte Schläge hallen im Gemäuer; durchdringen es. Neben der bluttriefenden Säule türmen sich vertrocknende Blätter, durchtränkt mit bleichen Würmern. Die Spuren enden vor der schwarzen Spiegelfläche, deren kochende Stille von fallenden Lichtpunkten verzehrt wird. Hier schlafen der verbannte Staub und die abgerissene Knospe ohne Zukunft.

Der Weg zurück führt durch die Spiegelfläche; ihr trüber Blick verschweigt die Warnung vor ihrem tödlichen Schleier. Und der Schwall der Finsternis weist die Richtung. Der Blick folgt ihm an blendende Ufer, wo sich klebrige Wellen gegen Splitterfelsen werfen. Weit entfernt stürzt ein schreiender Wasserfall seewärts. Gierige Wasser vermischen sich miteinander, wo sie zusammenstoßen. Fünfzehn Stiche in atmende Sommererde. Die leblosen Felsen grüßen. Die letzte Regenwolke zerbricht am Horizont, die Erinnerung ist um einen Abschied gewachsen.

Die Nacht birgt neue Bilder: Allein auf dem Weg, die Steine unter den Schritten, weisen die Schatten der Laternen den Weg hin zum Morgen. Aber was weiß der Tag, voll von den hastig verwischten Flecken der Nacht von der Vergangenheit, zu der er bald zäh gerinnen wird? Ob du weißt, wer dir ähnlich ist? Schau in den Spiegelsee, dann findest auch du einen Anfang. Nur ein paar Stunden ohnmächtiger Schlaf, bis weit in den grellen Spätsommertag hinein. Farbige Flächen erschüttern die auf Tagesresten lastende Luft. Als sich die Stunden verschieben, kleidet sie sich in düstere Nebel, und langsam verstummt das verblassende Licht. Rückblick: Dem kehrtwendenden Spiegelbild gegenüberstehend, hastig einen Schritt aufeinander zu, stach das zweite Ich auf sich ein.

Ich habe uns immer als Einheit empfunden ... Es regnete weiße Taubenfedern und hochkarätige Säuretropfen benetzten unsere bemalten Gesichter. Dann wanderten die Schatten der selbsttätigen Grenzen, doch ihre Schnelligkeit würde uns nicht unterdrücken. Nie mehr. Aber es könnte sich wiederholen, was bereits erlebt worden ist. Leere Sprache in uns; Gedanken, grau und blass. Du weißt, dass ich uns im Spiegelsee gesehen habe. Jedoch: Suche diesen Anblick nicht, denn er würde dich versenken und du wärest nicht mehr.

Schon verwirren blauviolette Nachtknospen die Sonne und sie vergeht. Die Empfindungen werden abermals in den Strudel einer Gewitternacht gesogen. Peitschende Tropfen, getrieben von wilder Zerstörungswut. Nur nicht noch einmal wach am Untergang teilhaben müssen... Früh strahlt die Helle über den Tümpeln der vergessenen Wasser und du könntest die Umrisse der Wolken im Spiegelsee erahnen. Dann beruhigt dich vielleicht auch die Wärme einer fremden Hand und die Verzweiflung wird weniger beherrschend.

Wieder allein auf einem Weg: Offenstehende Fenster, schlafende Häuser. Ewig ziellos in den zerstörten Gassen umherirren. Unendlich leise ist die Sehnsucht nach dem Ende geworden, aber allgegenwärtig. Der Mond wendet sich bestimmt zur undurchdringlichen Wolkenschicht und vermisst sein Abbild im Meer. Ich werde auch zurückfinden. Es ändert nichts wenn ich sage, wir hätten alle Illusionen beseitigt, alle Ahnungen ausgekostet, alle Ängste verbannt. Dein Bild liegt vor mir, doch es hat an Macht verloren. Ich brauche die Erinnerungen an verborgene Feste in der Dunkelheit, nachdem Stille die Verschwendung überwältigt hat. Wieder sehe ich dich vor mir, wie du die rissigen Wurzeln eines mächtigen Baumes mit deinem Blut verzierst und ich vermute, dass du die Wolkenfetzen angestarrt hast um zu sehen, wohin dich deine Freiheit trägt.

Der Mond war zu bleich, um sich in Farben festhalten zu lassen und ich traf eine Königin auf ihrer Reise durch die Zeit. Ihr Haar brannte und ihre Augen verrieten die Qualen des Gefangenseins in einer verlebten Hülle. Weiße Nebelfäden wuchsen aus dem Bild. Leere Sprache in mir. Über tausend Jahre lang stürzte vor diesen Augen Wasser aus der Luft, und das Leben breitete sich geschwulstartig aus. Der Wolkenvorhang zerriss und es tagte erbarmungslos.

Das Loch in der Mauer lässt meine Blicke in die lodernde Helligkeit fliehen und der Tag formt andere Gedanken. Wem gleichst du? Ob du es nicht doch ahnst? Hinter deinen Augen lebt er, schau in den Spiegelsee! Die Wirklichkeit erfahren, ohne Zögern. Ohne Hindernisse! Höre auf die blaue Tiefe des eisigen Wassers, denn sie geleitet den furchtsamen Blick gefahrlos hinab zum Grund. Sanfte Hänge abwärts gleitend schweift er über glatte Steine und schattiges Pflanzendickicht, auf dessen Lichtungen schillernde Fischblitze verweilen. Noch ist die Luft warm, und wieder regnet es pechschwarze Nachttropfen. Der Tag zieht sich zurück und nimmt seine laute Helligkeit mit sich. Er überlässt die Welt der Finsternis. Blut, Abgrund, Erinnerung.

Ich warte auf dich, mit geschlossenen Augen. Wissend, was ich gesehen habe. Ich werde entkommen, auch wenn du mich findest. Der Spiegelsee, ich sehe ihn wieder deutlich vor mir. Die undurchsichtige Nacht ringsherum schluckt alles. Kein Laut, kein Funke entsteigt den wachsamen Fluten zu dieser Stunde. Der Blick kettet sich an eine verurteilte Luftblase und wird gegen das schwindende Licht am Horizont geworfen. Dann habe ich verloren. Ich wusste nie, dass unsere Zeit so knapp bemessen war; wehrte mich auf eine Weise, die wohl zu unvollständig gewesen sein muss. Auch dich hatte jemand getäuscht. Zu wirr schien der Umgebung, was sie von uns zu sehen bekam. Zu leise waren deine Vorahnungen. Mich in deinen Augen zu versenken war ein Gefühl, wie von heißen Fangarmen gepackt und langsam ausgesaugt zu werden. Nur du überträgst diese vielfarbige Wärme, die ich jetzt so vermisse.

In der Tiefe des Spiegelsees erscheint ein verschwommenes Gesicht, dessen Gesichtszüge Erstaunen erkennen lassen. Es zieht mich fort... Ich habe den Spiegelsee verloren, ebenso wie dich. Meine Zeit läuft noch schneller ab, scheinbar ist kein Fluchtweg übriggeblieben. Nur einsame Wortruinen, die mir so nichtssagend erscheinen, als gehörten sie einer erloschenen Antike an. Die Zaubersprüche zu ihrer Entschlüsselung sind längst ungehört verhallt. Ich weine mich in den Schlaf und meine letzte Träne zerrinnt im Spiegelsee.

Fragment 4; Nachtrag:

Fünfzehn Jahre später verschlägt es mich zurück an jenen Ort, wo damals alles begonnen hatte. Trübe sind die Wasser geworden, fast blind. Ich konnte dich niemals vergessen, wenngleich auch überwiegend Gefühlsumrisse geblieben sind. Für immer eingebrannt in mein Dasein. Fünfzehn Jahre lang war ich bemüht, Abstand zu halten, mich nicht wieder diesem Sog aus Bedrohung, Gewalt und Lust hinzugeben. Dennoch. Das Verlangen, neuerlich in deine Welt einzutauchen, ist heimlich gewachsen. Noch immer kann ich mit niemandem das Wissen um jene Ereignisse teilen. Einmal aber werden wir einander wiederfinden und ich werde wissen, warum du damals nicht mit zurückgekommen bist.


(Doris Krestan)