FRÄULEIN REGENBOGEN

von Rihno Rhinozeros

 

"...Ich ensach die schoenen nie
so dicke, daz ich daz gen ir verbaere,
mirne spilten dougen ie.
der kalte winter was mir gar unmaere.
ander liute duhte er swaere:
mir was die wile als ich enmitten in dem meien waere..."

(Walther von der Vogelweide , bedeutender Minnesänger,13.Jhdt., mittelhochdeutsch)

"Nie erblickte ich die Schöne,
ohne dass mir jedesmal
die Augen gestrahlt hätten.
Auf den kalten Winter hab ich gar nicht geachtet.
Anderen Leuten kam er drückend vor;
mir war die ganze Zeit, als sei ich mitten im Mai!"

 

Einmal vor sehr langer Zeit, als sich die Männer noch in Eisen kleideten und auch Sänger und anderes Künstlervolk ein Schwert umgürten mussten, um zumindest den gesellschaftlich erwünschten Schein zu wahren, hielt es ihn einfach nicht mehr, und so wollte er diesmal über den stillen, aber breiten Strom setzen, um das Fräulein, das der Regenbogen war, zu sehen.
Da stand sie am Ufer und blickte in das ruhige Wasser, um sich selbst darin zu erkennen!

Es war Winter und der Fluß zwar klar aber eiskalt, doch nichts in der Welt konnte ihn mehr daran hindern, sich in die Fluten zu stürzen und diese mit mächtigen Schritten zu durchwaten.
Aber je weiter er sich vorwagte, um so mehr zogen ihn die Wasser zu sich, wollten ihn nicht mehr freigeben. Voller Verzweiflung musste er erkennen, dass ihn seine Kraft zu verlassen drohte, dass die unsichtbaren Arme des Flusses noch viel stärker waren als seine größte Sehnsucht. Sein letzter Gedanke, ehe ihn die endgültige Bewusstlosigkeit übermannte, war, dass er nie die Schöne erblickte, ohne dass ihm jedesmal die Augen gestrahlt hätten.
Auf den kalten Winter hatte er gar nicht geachtet. Anderen Leuten kam er drückend vor; ihm war die ganze Zeit, als sei er mitten im Mai. - Diesen Gedanken im Herzen tragend, überließ er sich nun den Fluten ohne Groll - mochten sie mit ihm treiben, was sie wollten....

Er erwachte vor einer Höhle liegend, die tausend Eingänge und ebensoviele Ausgänge zu haben schien. Hier vermochten niemals die Strahlen einer Sonne durchzudringen. Hier herrschte der ewige Schlaf.
Dunkler Nebel stieg aus dem Boden empor und hüllte alles in Dämmerung. Kein Laut störte die ewige Stille. Irgendwo aus der Ferne, gar nicht mehr wahr, schienen Wasser mit einschläferndem Murmeln zu strömen. Rings um die Höhle sprossen unzählige duftende Kräuter, aus denen die Nacht ihre betäubenden Säfte sammelt. Die Eingänge standen allesamt offen - wie auch die Ausgänge. Er betrachtete sich, war verwundert und konnte sich aber sonst an nahezu nichts mehr erinnern. Der betäubende Duft der Kräuter stieg ihm in die Nase und plötzlich war da doch noch etwas, eine letzte Erinnerung- eine Sehnen, ein Drängen, das ihn vorwärtstrieb und so raffte er sich auf und wollte durch einen Eingang in diese fremde Welt gehen!
Aber welchen sollte er wählen? Diesen oder jenen oder doch einen anderen - alle sahen sie gleich aus und schienen doch wieder voneinander so unterscheidlich zu sein. Verzweifelt schritt er durch einen, als er plötzlich eines Rhinozeros´ gewahr wurde, welches ihm den Weg versperrte. Es stand da vor einem blutroten Hintergrund und starrte den Sänger völlig regungslos mit seinen kleinen Augen an. Entsetzt machte der langsam kehrt und verließ diese Höhle. Dann wählte er einen anderen; er war nicht sehr weit gekommen, als da wieder dieses Tier vor ihm stand. Nur schien es diesmal noch größer, noch mächtiger. Er zückte sein Schwert, doch was konnte schon ein Schwert gegen den Zweifel ausrichten - so warf er die ihm ohnehin verhasste Waffe, von sich.
Wohin er sich auch wandte, nach nur wenigen Schritten war es wieder da, dieses Rhinozeros des Zweifels, und stellte sein gewaltiges Ausmaß fast schon frech zur Schau! Da es offenbar vor diesem Tier kein Entkommen zu geben schien, blieb ihm nur als einziger Ausweg sich ihm zu stellen! Lange blickte er auf die Spitze des Horns, dort wo sich alle Zweifel ins Furchterregende zuspitzten. Dann lief der Sänger geradewegs auf das Tier zu und warf sich auf das Horn. Er meinte schon spüren zu können, wie es ihn nun vollends durchbohren würde.

--Doch was war geschehen?! -Nichts! -Nur landete er ziemlich unsanft auf dem Boden! Vom Rhinozeros fehlte - zumindest für den Augenblick - jegliche Spur! Trotz allem - oder gerade deswegen - fühlte er sich innerlich doch einigermaßen gestärkt, und so schritt er weiter und wagte jetzt sogar durch einen Engang zu gehen, über dem drohend und zugleich verführerisch ein anderes eigenartiges Tier schwebte.
Fast schon hatte er es bereut sein Schwert von sich geworfen zu haben, doch hatte er sich zeitlebens mehr mit dem Schmieden von Versen beschäftigt denn mit der Schwertkunst!
Dieses eigenartige Getier schien seine Gedanken erraten zu haben, denn auf einmal sprach es zu ihm:
"Du willst mich doch nicht töten? Denk einmal, wieviel Freude ich euch Sterblichen zu bereiten vermag!
"
Das Tier glich einem Drachen, doch war es - man muss es zugeben - dem ersten Anschein nach viel schöner als ein solcher. Seine Oberseite glänzte matt - lebendiges Leder- dann aber gab es in einem Moment der Unachtsamkeit auch seine Unterseite preis. Sie war über und über mit Borsten übersät, schien klebrig und ekelig zu sein.
Das Untier suchte jede weitere Blöße zu vermeiden und so ließ es sich zu seinen Füßen nieder. Und erst jetzt konnte er seine Mächtigkeit erahnen. Noch im Sitzen überragte es ihn, und er musste den Kopf in den Nacken legen, um in des Drachen glühende, ihn hypnotieserende Augen zu schauen. Ein bedrückendes Schweigen machte sich breit. Plötzlich sagte der Drache, er wolle ihm etwas zeigen, packte den armen Kerl und trug ihn auf seinen Schwingen fort. Als er auf dessen Rücken saß und sich an das Tier klammerte, konnte er die wunderbare und die ihn verführerisch umspielende Beschaffenheit der Haut spüren, ein Gefühl, das ihn einlullte und noch mehr verwirrte und er bedauerte es fast, als ihn das Tier auf einem sehr hohen Berg absetzte. Dann deutete der Drache auf den Horizont:
Der Sänger erblickte prunkvolle Paläste, gefüllt mit allen nur erdenklichen irdischen Lustbarkeiten. Hierauf hatte der Drache plötzlich eine verführerische Frauenstimme angenommen und den Sänger zweideutig anlächelnd meinte er:
"Dies alles will ich dir geben, wenn du dich mir unterwirfst!"
Der Sänger, der etwas Derartiges geahnt hatte und plötzlich Lust hatte, sich mit diesem doch alles in allem würdigen Gegner auf ein Spiel einzulassen, fragte scheinbar einfältig:
"Wer bist du eigentlich, der Teufel?!"
Das Tier lachte schaurig und in diesem Lachen lag nichts mehr von jenem verführerischen Unterton, sondern eher war es eine gewisse Gereiztheit, die spürbar wurde, als er antwortete:
" Teufel, was für ein Teufel? Der ist doch höchst unoriginell, die Lust bin ich, -mein Freund,- die die Welt regiert!"

"Nun gut!", entgegnete ihm der Sänger. "Sei es drum! Wenn ich dich also richtig verstanden habe, dann soll ich an all des Gezeigten teilhaftig werden - vorausgesetzt natürlich, ich bete dich an!"
"Sic est!", antwortete das Tier!
Der Sänger ließ sich etwas abseits auf einen Felsen nieder und schien zu grübeln. Da saß er nun auf einem Stein und schlug Bein zu Bein, darauf stützte er den Ellenbogen und hatte in seine Hand geschmiegt das Kinn und seine Wange. Er blickte in Richtung der Paläste und sein Gesicht schien Wohlgefallen - wie auch eine gewisse Vorfreude - auszudrücken, dann blickte er wieder das Untier an und seine Miene verfinsterte sich zusehends. Dann wurden seine Blicke wieder von den fernen Palästen der Lust angezogen. Er zeichnete gedankenverloren einige scheinbar wirre Figuren in den Sand, als er plötzlich aufsprang und sich eine seiner Zeichnugen genauer ansah.
Er kniff die Augen zusammen und plötzlich war sie wieder da - zumindest seine letzte Erinnerung, die sich förmlich in sein Hirn eingebrannt zu hatte. Frohen Mutes stand er auf und ging zu dem Drachen, um ihm seine Entscheidung mitzuteilen.

"Deine Oberseite, die schöne, angenehme, lüsterne, lasse ich mir noch einreden, gut! Aber letztlich kann ich mich dir nicht unterwerfen, um dich anzubeten, denn dazu graut mir viel zu sehr vor deiner ekeligen Unterseite, die ich mir in der Unterwerfung ansehen müsste! Deswegen keine Unterwerfung!", sagte er und blickte dann doch ein wenig wehmütig in Richtung der Paläste, um sich dann aber mit viel größerem Interesse wiederum seiner Zeichnung zu widmen. Lange stierte er sie an, besonders die eine, die sehr einem weiblichen Körper zu gleichen schien, und dann murmelte er vor sich hin:
"Nie erblickte ich die Schöne, ohne dass mir jedesmal die Augen gestrahlt hätten!"
"Ja, ja denk´nur an Deine Schöne, du Narr!", schnaubte das Untier höchst gereizt und der Sänger wich vor seinem feurigen Atem zurück!
"Die einzigen, die sich an deinem Fleisch erfreuen werden, werden die Geier sein!", sprachs und schnaubte ihm noch einmal seinen jetzt doch sehr faulig riechenden Atem entgegen und war davongeflogen!

Der Sänger musste feststellen, dass ihm, da ihm sein Fluggerät abhanden gekommen war, ein langwieriger Abstieg bevorstand. Er machte sich auf den Weg und je länger er bergab ging, umso bleierner fühlte er sich. War es die Reise auf dem Drachen mit seiner eigenartigen Oberseite, die ihn so mitgenommen hatte, fühlte er doch, dass ihm von einem Augenblick zum anderen die Umgebung so verändert vorkam.
All diese Fänomene wurden von einem eigenartigen nicht mehr zu stillenden Durst begleitet . Mit einem Mal stellten sich bei ihm die wirrsten erotischen Fantasien ein. Innerlich kochend, die wirren Bilder vor Augen, stürzte er zu Boden, drehte sich in seiner geradezu grenzenlosen Müdigkeit auf den Rücken und sah im gleißend blauen Himmel Geier kreisen!
Als er sich trotz allem immer noch an ihrem Flug erfreuen konnte, schien er fast schon beruhigt zu sein. Die Bilder,welche die Geier in ihrem Kreisen in den Himmel malten, erinnerten ihn an seine Sandzeichnungen auf dem Gipfel, besonders an die eine, die...

- - Vier höfliche aber kräftige Hände halfen dem Sänger auf die Beine. Die beiden Männer waren westlich gekleidet, hatten aber orientalisches Gehabe und obendrein auch noch Schlitzaugen. Sie sprachen den Sänger an, doch er konnte sie nicht einmal hören, geschweige denn nur ein einziges Wort davon verstehen.
Sie brachten ihn dann in die Stadt, die, wie es schien, ebenfalls ein Teil dieser eigenartigen Welt war, mit ihren tausenden von Ein- und Ausgängen, eine Stadt, die ebenso hypermodern, wie gleichzeitig auch uralt war. Diese Stadt war ein einziger lebender Gegensatz. Einerseits schien es sich hierbei um eine, rein technisch betrachtet, höchstentwickelte Zivilisation zu handeln, andererseits waren ihre Bewohner bisweilen nicht gerade zimperlich: Menschenopfer!

Was hätte er tun können, er musste auch dieses neue Abenteuer bestehen! Weg konnte er noch nicht - wohin denn auch?
- Er wusste nämlich -noch- nicht wohin er zu gehen habe! Und mittlerweilen hatte er auch mitbekommen, dass diejenigen, welche die für sie falschen Ausgänge aus der Stadt gewählt hatten, ihre Herzen verloren und geopfert wurden!
Zwar konnte er diese Menschen nicht einmal hören, und so lebte er in seiner eigenen Stille, wenn ihm seine eigenen Gedanken einmal nicht Gesellschaft leisteten. Nach und nach aber begann er diese Zivilisation zu begreifen und nach recht kurzer Zeit schien er sich auch in dieser einen Platz gesichert zu haben:
Als Geschichtenerzähler und vor allem als Geschichtendarsteller. Seine Darbietungen erfreuten sich großer Beliebtheit, zumal diese Wesen wohl schon von Hypernet, Hypertelevision und Hypertelepathie genug hatten und sich dafür lieber an seinen Fratzen und seinen Ausbrüchen weideten! Er selbst erzählte die unglaublichsten Geschichte, die er am Schluss dann durchaus auch schon selber glaubte!
Vor allem die Geschichte vom Ritter, der sich unsterblich verliebt hatte und in seiner Liebe ertrunken war, war eine der beliebtesten Nummern, die diese Menschen aber zu Lachstürmen hinriss!

Eines Tages wurde er von hoher Stelle abgeholt. Mittlerweile verstand er diese Menschen durch ihre Gestik und Mimik schon so gut, dass er ungefähr wusste, was sie von ihm wollten. Nur die Frage nach dem richtigen Ausgang aus der Stadt konnte er ihnen nicht begreiflich machen, oder aber wollten sie die Frage nicht verstehen! -Noch nicht!
Man holte ihn also ab und hohe Herren gaben ihm sehr eindeutig zu verstehen, dass man ihn für seine Kunst , vor allem aber für die Geschichte mit dem Ritter, belohnen wolle, und so hießen sie ihn ihnen zu folgen.
In einem gigantischen tempelartigen Gebäude aus Vollglas also wurden diese Menschenopfer durchgeführt! Sogenannte Medizinmänner und auch -Frauen vollkommen auf den Herzschnitt spezialisiert, schnitten -zugegebenermaßen gekonnt- den lebenden Opfern ihre Herzen aus ihrer leiblichen Hülle. Er spürte, dass er mit diesen Ritualen in irgendeiner Form zu tun haben würde, und der Gedanke beruhigte ihn nicht sonderlich. Man machte ihm überdies auch klar, dass das Folgende nur das sogenannte Kleine Ritual wäre, und zwang ihn auf einem thronartigen Hochsitz Platz zu nehmen. Dann schnallte man ihn so fest, dass er seinen Blick nicht abwenden konnte! Man brachte drei- wie es schien - eigentümlicherweise geradezu freudig erregte Menschen- in den Saal und nach einigen Zeremonien, die wirklich nicht allzu lange dauerten, schnitt man ihnen kunstvoll die Herzen aus der Brust. Die Schmerzen dieser übervollen Herzen ließen seine tauben Ohren von einem Augenblick zum anderen unendlich hörend werden, und jetzt auch verstand er sie klar und deutlich!
Das war also ihre Belohnung! Die einzige Furcht, die ihm jetzt noch verblieb, war, ob sie ihm vielleicht auch noch ein Herz servieren wollten. Seine Befürchtung stellte sich- wie üblich- als grundlos heraus, (und einen Augenblick schien ihn wieder der Rhinozeros anzustarren!?) zumal das Verspeisen von Herzen nur beim sogenannten "Großen Ritual" vollzogen wurde.
Diese Ehrung war ihnen seine Kunst offenbar doch nicht wert! Da war dann noch eine allerletzte Frage, die in seinem Herzen und auf seinen Lippen brannte.
Welcher Ausgang aus der Stadt war der einzig mögliche?
Als er also da so grübelte, standen plötzlich die beiden Männer, die ihn vor den Geiern gerettet hatten, vor ihm und sagten ihm bloß:
" Wo kein Eingang, da kein Ausgang! Wo ein Eingang, da auch ein Ausgang!", verneigten sich und gingen in tiefes Schweigen versunken von dannen.
Er blickte ihnen noch lange versonnen nach; dabei dachte er abermals, dass er nie erblickte die Schöne, ohne dass ihm jedesmal die Augen gestrahlt hätten, und dann trug es ihn fort, hinaus aus der Stadt, und zwar durch den Ausgang, der gerade vor ihm lag.
Ein Tosen hub auf einmal an, und er sah, wie aus der Ferne tobende Wassermassen auf die Stadt zuschossen und sie zu überfluten begannen. Zunächst war es nur ein stiller, aber breiter Strom, der sich aber zusehends zu einer reißenden Naturgewalt auswuchs und dabei auch den Unrat aller Zeiten vor sich herschwemmte:
Von ägyptische Streitwagen aus dem biblischen Meer bis hin zu geklonten menschlichen Wesen.
In diesem Strudel der Zeiten riss es ihn hinweg und er wurde durch alle nur erdenklichen Zeiten geschleudert, um dann endlich an ihr Ufer geworfen zu werden.
Und da lag er nun, etwas längst Vergangenes, Zukünftiges, und dabei doch so Gegenwärtiges mit sich führend.
Er blickte auf und sah einen Regenbogen mitten im kalten Winterregen, und fast schien er sich zu erinnern!

Cumberland zwischen 6.02. und 26.02.2001

hier eine Waltherseite

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