Literarisches Streiflicht

Alban Nikolai Herbst

Harry Potter’s Nabokov
oder
Immer auf der Seite der Sieger

Wir gewinnen gerne Kriege, selbst wenn die dadurch verloren gehen: Das Gesetz des schnellen Geldes läßt noch den Untergang im voraus vermarkten, und Standards, die die Literaturgeschichte nicht nur der Moderne schrieb, fallen leichter als jede Münze, die einer in ColaAutomaten steckt. Machen wir also so recht nach Herzen sauber und Schluß mit jedem Zweifel, jeder Ambivalenz – vor allem und also mit jeder erotischen Spannung, die große Dichtung ausgezeichnet hat: daß wir nämlich nie wissen, weshalb wir lieben und/oder begehren, daß unsere Lüste dem Wohlverstand so sehr zuwiderlaufen, uns aber eben deshalb am Erstarren hindern.

Wenn sich in den Romanen die problematische Stellung eines oder mehrerer Einzelner ausdrücken konnte, wenn Randunschärfe und Fraglichkeit, ja Fragwürdigkeit der Existenz die Themen waren, die uns bis in die Eingeweide um- und umgerührt haben, tun wir nunmehr so, als gäbe es diese Eingeweide nicht – die so schrecklich schleimig, organisch und behaftet mit Gerüchen sind, welche einerseits Ekel, aber im selben Maß auch Lust erregen. Überhaupt: Mit Sexualität und Erotik, den Fixpunkten jedes poetischen Denkens und Traums, ist es – parallel zu einem neuen Krieg – endlich vorbei.

Nun wird das alles weggeglättet und rundweg die VorPubertät zu dem literarischen Topos erklärt: Harry Potter hat nicht einmal Pickel. Was häßlich ist, gehört direkt zum Bösen, das als Begriff ja neuerdings auch wieder beinah unbestrittene Würde erlangt. Was aber Geister ausgezeichnet hat, alle Geister – man lese nur einmal Grimms Deutsche Mythologie, man lese 1001 Nacht oder die Sagen des Klassischen Altertums -, wird kurzerhand auf ein gesäubertes Niveau gebracht, das sich sogar weit unter Walt Disneys Biedermeierträumen auf das Gesittetste fläzen darf. Weiße Magie gegen Schwarze, blonde Frauen sind gut und dunkelhaarige böse, es gibt eine Erlösung, die mehr als nur Happy End ist, die sozusagen Endlösung ist, und die Leute heiraten wieder. Auch und gerade kirchlich: Was physiologisch mit Aids begann, die WiederDomestizierung des Sexus, hat allgemein begrüßten Eingang in die Seelen gefunden.

Dabei ist Harry Potter selbst kein Problem, er wäre als Kinderbuch eines unter vielen; aber daß er bei Erwachsenen so greift und griffig gemacht wird, zeigt einen Regreß von erschreckendem Ausmaß: Man möchte die Welt wieder so klar und rein, wie sie niemals gewesen ist. Und die, die dran verdienen, wollen das erst recht, denn die Definition von Ziel- und Absatzgruppen fällt nun viel leichter, ja, einmal zugerichtet, muß da keiner mehr definieren. Die Säuberungsaktionen sind längst von den Rezipienten internalisiert. Hatte jemand Widerspruch erhoben, als die Saubermänner in den USA dem armen Lukas seine geliebte Pfeife wegzensierten und die Deutschen den gesundheitspolitisch nunmehr korrekten, am amerikanischen Wesen genesenen Lokomotivführer in sein Heimatland zurückimportierten? Was wird man mit Frau Marzahn tun, der bitterbösen Drachin, die später zur goldenen Hoffnungsträgerin mutiert? Die also als Böse das Gute repräsentiert? "Ich bin ein Teil von jener Kraft..." – ich schlage vor, auch Goethe auf den Prüfstand der eineindeutigen Moral zu stellen. Wir werden bald vielerlei Abschied nehmen.

Was an alledem so furchtbar ist, daß einem eigentlich nur das höhnischste Gelächter bleibt, ist ja nicht die Kinderbuchserie als solche. Der armen Sozialhilfeempfängerin, über die nun Reichtum hereinbrach, ist dieser Reichtum von mehr als nur Herzen zu gönnen. Daß aber Intellektuelle gefühlig sich anbieten, dem ohnedies schon Knebelmarkt um die HarryPotterProdukte auch da noch Steigbügel zu halten, wo das Pferd längst beritten ist, das ist ein Skandal. Und daß – in einer Ankündigung des Berlin Verlags – ein Essayist wie Michael Maar ebenso geschickt wie zeitgeistig korrupt die kinderbelletristische Erfolgsserie nicht nur philologisch nobilitiert, sondern zugleich jemanden als Zeugen herbeiruft, der sich nicht mehr wehren kann, ist ein für den Geist derart peinlicher Akt, daß man ihn terroristisch nennen muß: "Warum Nabokov Harry Potter geliebt hätte" wird das Buch heißen und ganz sicher eine Flut ähnlicher Publikationen auslösen.

Da gilt es deshalb schnell zu sein, und auch ich möchte auch ein paar Vorschläge unterbreiten. Etwa: "Warum Ezra Pound sich hätte von Sibylle Berg inspirieren lassen". Das könnte zum Beispiel Klaus Reichert verfassen. Oder "Hans Henny Jahnn und Konsalik – eine poetische Liebe". Notiert von Iris Radisch. Reinhard Baumgart wiederum könnte sich über "Da ist viel Baywatch in Wolfgang Hilbig" äußern, und Katharina Rutschky den Stöckeln Utta Danellas im dichterischen Werk Friederike Mayröckers folgen...

-... ich kann gar nicht aufhören, so viel fällt mir jetzt ein: "Entenhausen und Leopold Bloom", "Schon Platon tanzte auf der Orbs – wahrhaftig unendliche Weiten" Besonders schön wäre "Da ist viel Madonna in Anton von Webern". Auf akademischem Niveau ließen sich endlich auch Dissertationen wie "Über den Einfluß des Ost-Sandmännchens auf den frühen Sartre" denken oder "Johannes Mario Simmel in der Rezeption Friedrich Schlegels".

Was immer man also sagen kann, in jedem Fall ist der Herr Maar ein Pionier der Neuen Freien GeistWirtschaft: so sozial wie christlich wie sauber. Und es sind nur wir Dunkelmänner, die heimlich an Kalliope beten: "Unser tägliches Wort gib uns heute – und schenke uns endlich einen neuen Karl Kraus!" 


ANH, Dezember 2001

erschienen in DER FREITAG 21.12.2001