Alban Nikolai Herbst

 

Gaudís Klinke

 

Daß Verhausens so genanntes Atelier sich öffnet, ohne daß jemand den, sage ich hier sehr bewußt, fordernden Türdrücker wirklich drücken könnte, ist nicht eigentlich das Problem. Dennoch kündigt dieses einem jeden Freund des Hauses (damit bezeichnet der Architekt seine Geschäftspartner gerne) sich fast in die Hand legende, ungemein weibliche Ding bereits alles an. So wich es vorhin, als ich, die beiden Kollegen hinter mir, wieder auf der Schwelle stand, abermals vor mir zurück wie eine noch sehr junge Schönheit, die inmitten aller Bewunderer nicht recht weiß, ob ihr die in diesem Herbst aus den grünen Stachelmänteln springenden Kastanien nicht immer auch schon zu schrumpelig sind. Gleichsam zitiert deren leuchtendes Rotbraun ein latentes Kirchenviolett, und die prallen Geschosse sind wie Eicheln, die sich im Farbton vorausdehydrieren.

Es tut mir gut, bei dieser ersten Klinke zu verweilen. Ich dachte ohnehin in den letzten sieben Wochen unablässig über sie nach. Ihr Bogen scheint eine Warnung zu sein, die, anstatt zu warnen, lockt, oder besser noch ein string, in den das überaus farbsatte Ölbild, das in flämischem allegorischen Stil Versuchung und selbstbefreiende Unterwerfung darstellt, geradezu ausdehnungslos hineingerollt ist. Dabei weiß ich noch immer nicht, woher meine Assoziation an eine frühreife, verwöhnte und deshalb in ihrer Unsicherheit aufreizend schnippische Frau eigentlich rührt. Nüchtern betrachtet ist das Ding ja bloß ein leicht geschwungener, fast undekorativer, nahezu neusachlicher Gegenstand aus Metall, dessen Nickelsilber günstigstenfalls geschmackvoll wirkt. Kaum aber streckt man die Hand nach ihm aus, tut sich die Tür wie eine Blüte auf, die bereits in der Wärme den Zucker spürt, den sie photosynthetisch aufnehmen will. Deshalb betritt man den Empfang, durch welchen Verhausens Atelier berühmt geworden ist, wie wenn überhaupt nicht geschritten werden müßte. Da nicht nur die Tür zurückweicht, sondern, kaum daß jemand hereinkommt, auch drinnen jede Wand, wird der Besucher aus der realen Welt wie herausgesogen. Ich wußte aber immer, daß diese Empfindung auf einer Illusion beruht, nur verstehe ich noch jetzt nicht, worauf sich diese gründet. Die Leere des Raumes mag es sein. Vielleicht rührt der Eindruck auch von dem reinen Weiß, das die fernen Wände bedeckt wie ein Sternenstaub, den die drei anderen, aus dem Empfang hinausführenden Türen kaum aufwirbeln können (und die man wegen des geschilderten Effektes eigentlich noch dann nicht erreicht zu haben meint, wenn man längst hindurch ist). Man sieht von denen aber sowieso nur die Klinken: ferne schmale Striche, die viskos gebogen flimmern. Eine ist aus hellbraun lasiertem Holz, die andere wie jene in der Eingangstür von Nickel, die dritte stellt ein derart falschrotes Gold vor, daß, wer ihr nahetritt, den Eindruck haben muß, sie halte sich auf ihren Imitationscharakter alles zugute. Nämlich sei gerade er Essenz.

Im Empfang gibt es, wie planlos verteilt, drei Sessel und wenige Stühle; sie haben sich verirrt, scheinen einsam dahinziehende, unverbundene Asteroiden zu sein, und ihre ewige Reise unterstreicht ganz besonders den Ausdruck der Leere. Immer standen sie woanders, wenn ich kam, nie waren sie an eine der Wände gerückt. Erst allmählich begreife ich, sie fänden dort keinen Halt. Überdies sind die Stuhlsitze flache, fleischfressende Pflanzenköpfe und die Sessel wiederum wie eine üppige, dickblättrige Vegetation, in der niemand gern Platz nimmt. Auch dies ist Täuschung, denn objektiv sitzt man ziemlich gut darin; doch das unbehagliche Gefühl, es werde an einem geleckt, wenigstens geschnüffelt, ist unabweisbar. So kommt den Bediensteten Verhausens etwas beinah Erlösendes zu... aber nicht etwa, weil sie lebten. Vielmehr wichen sie wie Dinge zurück, auf welche Verlaß ist, ja die man wegrücken kann, wenn sie einen stören. Freilich gibt es keinen anderen Anlaß, sie für Diener zu halten, als daß sie immer da sind; eine Livree tragen sie jedenfalls nicht. Sie sind überhaupt höchst unterschiedlich gekleidet. Der jüngste ist einem schwarzen Designeranzug aufgestellt, der bereits etwas ältere in T-Shirt und Jeans, der dritte trägt eine hellgraue Kombination, der vierte und mit Abstand älteste, er mag um die sechzig sein, hält ganz auf Schwarz: Rolli, Hose, Springerstiefel. Das Standbildhafte dieser Angestellten hat für mich zunehmend etwas berückend Schwereloses bekommen. Als ich den Empfang zum ersten Mal betrat, konnte ich nicht anders, als den Mann in der Kombination infolge eines Anflugs von trotzigem Übermut als Hutständer zu benutzen. Er ließ sich das so kommentar- wie gestenlos gefallen. Ein paar Tage später legte ich ihm meinen komplett durchnäßten Regenmantel um die Schultern und putzte meine Schuhe an seinen Hosenbeinen ab. Da stand bereits auch die Hydrokultur im Raum. Er wirkte wie neben sie eingepflanzt. Nicht einmal das Gesicht hat er verzogen. Aus lauter Dankbarkeit steckte ich ihm einen 5-Euro-Schein zu, was er ganz genauso zu ignorieren verstand. Von da an, wann immer ich auf einem der Stühle oder, anfangs, wie gesagt, noch furchtbarer, in den Sesseln Platz nehmen mußte, winkte ich den Mann zu mir her und hielt während des Wartens seine Hand. Das machte es mir leichter, und ich möchte meinen, daß er während der letzten Wochen auch mir gegenüber eine Art Vertrautheit ausbilden konnte. Mitunter, ich gebe das zu, neidete ich ihm ein wenig seine sture Dinglichkeit. Ich möchte noch weiter gehen und ihn den einzigen Freund nennen, zumindest den einzigen Sympathisanten, den ich während der verstrichenen zwei Monate, wahrscheinlich sogar jemals hatte. Wenn sich überhaupt einer zum Vorbild eignet, dann er. Dieser Diener, Domestik, Lakai – wie immer man ihn nennen will – ist über jede Anteilnahme und Furcht hinaus. Sozusagen steht er auf der anderen Seite, und nur sein Körper gehört noch der alltäglichen, nicht-verhausen’schen Welt, diesem klar nach Ja und Nein und 1 und 0 geregelten Leben, das ich in gänzlich naiver Sicherheit so viele Jahre hindurch für die Wirklichkeit gehalten habe. Zu den drei anderen Männern hingegen habe ich bis vorhin keinen Kontakt bekommen, und es wird noch einiges brauchen, bis wir uns tatsächlich verbunden haben.

Es war nie leicht, die Hand meines Freundes wieder loszulassen. Doch irgendwann verlautete immer die Aufforderung weiterzugehen, Herr Verhausen erwartete mich schließlich, wir mußten etwas plaudern, er wollte von seinen Projekten sprechen, für die zu engagieren er mein Team ins Auge gefaßt hatte, ich hatte ihm Pläne zu zeigen, sie aber- und abermals zu erläutern, auf seine Fragen befriedigende Antwort zu finden. Es ist klar, daß man höchst ungern an der Hand eines Untergebenen vor einen solchen möglichen Auftraggeber geführt werden möchte, man möchte selbstbewußt erscheinen, partnerschaftlich sozusagen, um von Gleich zu Gleich zu diskutieren. Man will für voll genommen werden; weshalb ist man sonst hier? Wie anders soll ein beide Seiten zufriedenstellendes Geschäft zustandekommen? Und dennoch, von der Hand des Mannes abzulassen, kostete stets eine enorme Selbstüberwindung.

Kein Lächeln, keine Regung im Gesicht, wenn er – oder einer seiner Kollegen - sich etwas zur Seite drehte und meist mit der Linken auf die Tür, bzw. ihre Klinke wies, die hinuntergedrückt werden sollte. Man sieht von der Tür ja nur sie. Erst, hat man all die Kilometer überwunden, die einen von der nächsten Schwelle trennen, erst, formt sich die Klinke in ihrem Holz, ihrem Nickel oder ihrem Gold aus dem Weiß, lassen sich die dünnen Fugen erkennen, die der jeweilige Türstock umschreibt und durch welche sich aus dahinter befindlichen Räumen ein sei es gelbes, sei es rötliches, sei es wiederum bläuliches Licht hindurchahnt. Keine Frage, daß die Kombinationen braungelb, silberrot und goldblau auf Stimmungen verweisen, in denen der Gastgeber sich jeweils befindet. Um so überraschender, daß der Farbeindruck ebenfalls illusionär ist, jedenfalls immer, wenn ich es geschafft hatte, eine der Klinken zu drücken – denn diese Klinken weichen nicht zurück, anders als die erste möchte man sie auch gar nicht berühren, aber sie beharren darauf, und es ist tatsächlich nicht leicht, sie zu bewegen, also den Bolzen, der die Griffe dies- und jenseits verbindet, in seinem Gleitlager zu drehen. Wer dies nicht allem Widerstand zum Trotz mit, möcht ich sagen, ganzer Seele tut, bekommt die Türen nicht auf. Sozusagen muß man sich den Klinken ergeben und alle Energie in ihre Schwungformen flößen, so daß man drüben dann geradezu entkräftet anlangt. Man ist geleert, als hätte man die ganze Last seines Ichs an den Türdrücker abgegeben, als bliebe sie haften an ihm oder würde von ihm verzehrt. Jedesmal in den vergangenen siebeneinhalb Wochen hat mir unmittelbar, trat ich hindurch, ein "Tretet alle ein, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken" in den Ohren geklungen. Was zugegebenermaßen keine gute Verhandlungsbasis für Geschäfte mit jemandem vom Schlage Verhausens ist.

Tatsächlich sind die erwartungshalber gelb, rot oder blau getönten Räume, die sich anschließen, lediglich von weißlichtigen Neonröhren erhellt und nichts anderes als nüchterne, vermittels genoppter Stellwände und Paravents gegliederte, zwar ausgedehnte Großraumbüros, doch haben sie überhaupt nichts von einem der Gemächer, die einen der seltsame Empfang aus der Sicht der es gegen später abschließenden Klinken hat erwarten lassen. Die Enttäuschung darüber läßt einen unmittelbar ein zweites Mal kleiner werden und setzt den Verhandlungspartner nun erst recht gegen seinen potentiellen Auftraggeber in ein ungünstiges Licht. Und nicht nur gegen ihn, auch gegen jeden anderen, der sich in den Büros aufhält. Sensiblere Gemüter als meines würden möglicherweise verlegen zu stottern beginnen. Doch auch mich kostete es jedesmal Energie, nicht meine Haltung zu verlieren, zumal die Sekretärin – ein Mischling mit deutlich asiatischem Einschlag – immer dieselbe ist und auch immer an demselben Platz sitzt, egal, durch welche Tür – oder, muß ich sagen, durch welche Klinke – mein Freund oder einer seiner drei Kollegen mich zu Verhausen weitergebeten hatte. Dabei liegen die Türen nicht etwa in derselben Wand, sondern stehen rechtwinklig zueinander, und ist man von Süden in den Empfang hineingekommen, muß das Holz nach Westen, Nickel nach Norden und Gold in den Osten des Gebäudes führen. Obgleich es also daran keinen Zweifel geben kann, betritt man dennoch immer dasselbe Großraumbüro, eine Tatsache, die mir, weil sie derart gekrümmt ist, bereits die schlimmsten, schließlich unmäßig verführerische Träume beschert hat. Obendrein – ich weiß, daß, was ich nun schreibe, unglaubhaft klingt – hat die erwähnte Sekretärin etwas von der allerersten Klinke, derjenigen, die man nicht drücken kann, weil sich, nähert man ihr bloß die Hand, die Empfangstür stets ganz von alleine öffnet. Nicht, daß sich nun die Sekretärin "öffnen" würde. Weniges liegt mir ferner als Anzüglichkeiten. Und ihr, einer durch Schönheit gleichermaßen berückenden wie abweisenden Person, ganz offensichtlich sowieso. Sie hebt, kaum ist man drinnen, langsam das Kinn, dreht das Gesicht, dessen Flächigkeit von einer kräftig durchgeformten, ovalen Stirn unter dem lackschwarzen, hochgebundenen Haar geradezu Lügen gestraft wird, mustert den hereingekommenen möglichen Geschäftspartner ihres Chefs und sagt nur, wobei sie sich bereits wieder ihren verschiedenen Papieren oder dem Computerbildschirm zuwendet: "Warten Sie einen Moment." Für eine Achtelsekunde sind ihre viel zu ebenmäßigen Perlzähne zu sehen, dahinter eine fahlrote Zunge, deren Schwung ebenfalls an den Bogen der Klinke erinnert, und zwar aufgrund einer nicht nur ähnlichen, nein identischen Sehnigkeit, - all das steht dem Besucher wie ein Sonnenfleck vor den Augen und verbleibt wie ein solcher auch noch einige Zeit. Was nun der dritte Einfluß ist, der einen vor jeder Unterredung mit Verhausen selbst auf dessen Interessen hinunterbeugt. Zumal die Sekretärin einen immer noch mindestens fünf Minuten herumstehen läßt, - vielleicht um dem Besucher Gelegenheit zu geben, sich wieder zu sammeln, wahrscheinlich aber eher, um ihm zu bedeuten, daß seine Anwesenheit von letztlich gar keiner Bedeutung sei. Jedenfalls war das über einige Tage mein Eindruck. Bis ich zu dem Entschluß gefunden hatte, ihr eine kleine Aufmerksamkeit mitzubringen. Auf der Prenzlauer Allee erstand ich vor, ich glaube, fünf Wochen eine Hydrokultur, welche die Frau nicht nur mit ihren neu und aberneu sich aus den Blättern herausschälenden, sehr massiv fleischroten Blüten würde erfreuen können, sondern mir vor allem das Zeug zu haben schien, in dem fremdartigen Milieu dieses Architektenateliers mehr als nur einen Monat zu überleben. Immer auf den rechten Wasserstand geachtet, reicht ja vollkommen, man muß sich um solche Pflanzen ansonsten nicht weiter kümmern. Sie sind, scheint mir, genau die Schnittstelle zwischen Geschöpf und Ding und wissen mit beiden Welten wenn nicht zu interagieren, so doch in ihnen sich zurechtzufinden, insofern als ihnen hier wie dort ein angemessener Platz reserviert ist, so daß ihnen kein artfremder Zwang angetan wird wie mir und anderen Besuchern.

Die Sekretärin, noch jetzt weiß ich ihren Namen nicht, nahm das Geschenk sehr gelassen entgegen, sie dankte sogar, und ich gäbe viel darum, ein weiteres Mal mit ihrem japanischen Lächeln bedacht zu werden. Es war nicht mehr als ein Aufblitzen, ich gebe das zu, und dennoch hatte ich unvermittelt den Eindruck, irgend etwas habe sich aus ihr herausgelöst, das vielleicht nicht eingesperrt gewesen sei, aber doch lange geschlafen habe, oder es entflirrte wie ein Vogel, der lange in einem Zimmer herumgeflattert war, in das ihn, unbeabsichtigt, Übermut oder ein Mißgeschick hatte hineinfliegen lassen, und dem bereits die Erschöpfung fast schon die Flügel sinken läßt, als er durch eine glückliche Fügung den offenstehenden Fensterspalt doch noch wiederfindet und ins warme, luftige Himmelsfreie entweicht. Ganz ebenso entwich dieses Lächeln, streifte mich am Mundwinkel mit einer Schwinge und war fort. Daß die Pflanze zwei Tage später, als ich zu einem nächsten Termin erscheinen mußte, ebenso ortlos wie die vier Angestellten mit Sesseln und Stühlen im Empfang stand, geht ganz sicher auf ein Verdikt Verhausens zurück, der, glaube ich, in seinem Büro keinerlei nicht von ihm bewirktes Wachsen duldet. Selbstverständlich habe ich die Sekretärin darauf nicht angesprochen und erst recht keine diesbezügliche Bemerkung gegenüber Verhausen gewagt; ja die Idee, daß ich das hätte tun können - oder sollen – kommt mir überhaupt erst nun, da es für so etwas zu spät und die Angelegenheit sowieso bedeutungslos ist.

Heute also war ich nicht allein gekommen. Verheusen, von Charakter studienratshaft und auch körperlich ein Typus mit allenfalls matter Strahlkraft, hatte sich nach langem Zögern für die Entwürfe meiner Gruppe entschieden – was mir seltsamerweise weder ein Gefühl des Triumphs noch sogar auch nur Zuversicht gab; wenn ich ganz ehrlich bin, wäre es mir imgrunde lieber gewesen, hätte er die Auswahl zu meinen, bzw. den Ungunsten meiner Firma entschieden. Nun aber mußte ich ihm mein creative team vorstellen, jedenfalls Johannes Lersner und Elke Kosel, denn Michi Schmiedinger war auf Kundenbesuch in Mailand. Dabei hätte ich Michi lieber dabeigehabt als Johannes, der es schätzt, die Leute seines Umgangs ständig mit seinem ungemein nüchternen, zumal abfälligen Spott aufzudrehen. Er ist hochtalentiert und Profi wie wenige, aber diese seine Art hat uns mehrfach längst gewonnene Wettbewerbe im Nachhinein dann doch verlieren lassen, einfach weil die Bauherren mit seinen Sticheleien nicht zurande kamen. Und Verhausen ist, berechtigterweise, ohne allen Humor.

Tatsächlich brachte Johannes dem Atelier in keiner Weise den gebührenden Respekt entgegen, sondern kaum hatte sich die Eingangstür von uns weg- und vom Empfang einsaugen lassen, hüpfte er ihr sozusagen hinterher, klatschte, als er mittendrinstand, zweimal in die Hände und rief: "Das ist ja irre!" Er schien auch nicht annähernd so bewegt zu sein wie ich – oder wie offenbar ebenfalls Elke, der ich fast sofort ansehen zu können meinte, wie das Environment Besitz von ihrer Seele ergriff. Selbst über die Angestellten, besonders über meinen Freund, machte Johannes sich lustig. "Komische Schießbudenfiguren", prustete er ins Leere, um, an mich gewandt, hintanzusetzen: "Meinst du echt, daß dieser Verhausen ganz dicht ist?" Und warf sich in einen der Sessel. Während Elke und ich, jeder einsam für sich, benommen den Windzug spürten, den die sich wieder schließende Tür hinter sich herzog und minutenlang über unsere Gesichter streichen ließ wie das gekühlte Heft eines Messers, warf der Spötter seinen Kopf dauernd hin und her und kommentierte die vorgeblichen Illusionen mit mehr oder minder pubertären Bemerkungen. Dabei sprang er mehrmals auf, um sich auf je einen der anderen Sessel und Stühle niederzulassen, und guckte sich an, welche Perspektive der Empfang aus diesen verschiedenen Blickwinkeln einnahm. Mein bediensteter Freund blickte wie seine Kollegen stur geradeaus. Wie bewunderte ich seine stoische Art! Nie war ich ihm näher gewesen als jetzt, da sich Johannes derart unmöglich benahm. Nun weiß ich allerdings, daß er seine Ergriffenheit nur zeigen kann, indem er sie zerpflückt… als er dies aber, und zwar real, mit der Hydrokultur tat, indem er von ihr wirklich, kaum hatte er sie "entdeckt" und seine Entdeckung mit der Bemerkung "O je, wie eklig" kommentiert, zwei Blattlappen abriß, fügte das mir selbst zwei sehr schmerzhafte Verletzungen zu; ich glaube, ich schrie auf oder stöhnte doch, denn mein Freund sah plötzlich zu mir und kam auch schon, erstaunlich behende, hergesprungen, um das bißchen Blut, das mir von der Rechten getropft war, vom Boden zu tupfen. Ich war schon eher irritiert als noch erschreckt, zumal niemand anderes außer dem Freund und mir die Sache überhaupt zu bemerken schien – die drei anderen Diener schauten diskret vor sich hin, Elke war zu sehr damit beschäftigt, sich dem Empfang zu ergeben, und Johannes war in Richtung auf die Goldklinke ziemlich entschlossen davongeschritten (man sah ihn, in Kilometern Entfernung, nur noch sehr klein). Der zunehmend pochende Schmerz hatte bereits etwas Wohltuendes, denn er machte mir bewußt, daß ich nie wieder zulassen würde, daß noch einmal jemand diesem Raum etwas zuleide tat. Was immer dem Empfang zustieß, stieße fortan mir selbst zu. Das gab mir eine ungewöhnliche Macht. Ich spürte Johannes – von so weitem sah er aus wie ein Zwerg, wie ein Kind - pressen und pressen, und ich stemmte und stemmte mich gegen ihn an. Wenn ich es ihm nicht erlaubte, bekäme er die Klinke niemals herunter. Er nahm die zweite Hand zu Hilfe, legte sie nahe an den Bolzen, die andere blieb auf meinem äußersten Schwung, er schwitzte und hing sich an mich, um mich mit seinem ganzen Körpergewicht zum Nachgeben zu bewegen, sein Schweiß lief mir in dicken Tropfen übers Gesicht. Johannes ist ein athletischer, im Fitneßstudio trainierter Mann, ich hingegen bin trotz meiner knappen einsneunzig eher leicht und schwach von Atem und Statur; obendrein schätzt meine Wirbelsäule Belastungen nicht. Deshalb war es eine Erlösung, daß mir mein Dienerfreund beisprang und sich nun seinerseits gegen Johannes’ gewaltiges Drücken und Ziehen stemmte. Gemeinschaftlich hielten wir dem Angriff stand, nie waren wir tiefer vereint, und zum ersten Mal, seit wir einander begegnet waren, schenkte mir der Mann, als Johannes in seiner Ferne aufgab, aber nicht etwa zurückkehrte, sondern auf einer weiten Bogenbahn, übrigens laufend, es nunmehr bei der Holzklinke versuchen zu wollen schien, einen Blick äußerster Gewogenheit zu. Ich hatte nicht genügend Zeit, ihn zu erwidern, geschweige zu genießen, denn obwohl es beinahe fünfzehn Minuten dauerte, bis Johannes an seinem neuen Ziel angekommen war und die Klinke gar nicht erst vorsichtig versuchte, sondern sich gleich mit aller Kraft auf meine linke Schulter warf, wäre ich unter dem Ansturm in die Knie gegangen, hätte sich nicht ein weiteres Mal mein Freund auf meine Seite geschlagen; sofort nach seinem innigen Blick hatte er seine Muskulatur darauf vorbereitet. Dennoch bin ich mir nicht sicher, ob wir nicht letztlich unterlegen wären, wäre Johannes dieses weitere Mal nicht nur mit Gewalt, sondern auch ausdauernder gegen uns vorgegangen. Doch er gab sich geschlagen und nahm sogar Abstand, es bei der dritten Klinke, der aus Nickel, zu versuchen. Er machte sich überaus resigniert auf den Rückweg; darüber konnte auch sein sieghaftes Lächeln nicht hinwegtäuschen, das einzustudieren ihm über eine halbe Stunde Zeit blieb, bis er sich in den uns nächsten Sessel fallen lassen konnte. Zudem seufzte er erschöpft: "Meine Güte, wie lange müssen wir denn noch warten?" Selbst seine Ungeduld war vorübergehend weich geworden.

Währenddem hatte Elke schweigend dagehockt, nicht in einem Sessel, sondern – so weit ihr das, ohne den Halt zu verlieren, möglich war – auf dem allervordersten Viertel einer der Stühle, dabei die Hände zusammengelegt zwischen ihre Schenkel gesteckt, so daß die Ellbogen beidseits von der Taille abstanden wie die Flügelstumpen eines Fabeltieres, das von der griechischen Harpye zur germanischen Gnomsgroteske heruntergekommen ist, oder wie Aststümpfe an einem Bonsai, der als Dekoration vor einem Puppenhaus dient, das einsam auf einer vergessenen, bloß noch aus musealen Gründen staubfrei gehaltenen Marionettenbühne steht. Zum ersten Mal seit den sechs Jahren, die wir unterdessen zusammenarbeiten, fiel mir auf, daß sie überaus attraktiv war, ganz so, als drückte dieser Raum einen Wesenszug körperlich aus ihr heraus, den sie vielleicht aus übergroßer, mißverstandener und also fehlgeleiteter Bescheidenheit in sich verborgen hatte. Ich war geradezu benommen von dem Eindruck, aber wollte ihr gerade deshalb nicht zu nahe treten und bemühte mich, so abwesend wie möglich zu wirken, denn ich wußte ja, daß jede auch nur visuelle Berührung in dem Transpositionszustand, der sich in ihr vorbereitete, nicht nur als lästig empfunden wird, sondern auch peinigend ist, weshalb ein wahrer Freund jederlei Gefühlsbekundungen vermeiden muß. Nur Johannes, natürlich, redete jetzt auch auf sie ein: "Sag doch mal was! He, bist du vors Maul geschlagen?! Mädchen, hallo, huhu..." und weiteres Kindische mehr. Leider gab ihm das eine neue Beweglichkeit. Ich sah, ohne ihn wirklich anzusehen, meinen Freund an, der stur wie ich dastand. Die drei anderen Diener reagierten ebensowenig, so daß ich nicht umhin konnte, auch ihnen zunehmend Sympathie, wenn nicht sogar ebenfalls so etwas wie Freundschaft entgegenzubringen, da wir doch mit solcher beschaulichen Ausdauer versuchten, die Störungen, die Johannes’ ständige Bemerkungen, seine körperhafte Unruhe und nervösen Ausfälligkeiten für den in seiner räumlichen Versunkenheit ruhenden Empfang bedeuteten, durch interesseloses Wohlgefallen zu harmonisieren. Es war uns mehr als eine Erleichterung, als Johannes und Elke endlich zu Verhausen hereingebeten wurden. Ich selbst durfte ihnen die Klinke weisen. "Wie?" rief Johannes, "Du kommst nicht mit?" Unter sichtlichen Mühen, aber doch wohl erleichtert, nicht weiterhin von ihrem Stuhl beschnuppert zu werden, erhob sich Elke, blieb aber schweigsam. "Nein", sagte ich, "ich bleibe hier." "Na gut, wie du meinst", und kopfschüttelnd machte er sich, Elke im Sog seines Elans, auf den weiten Weg zum Nickel. Ich spürte die ganze Entfernung bis zu mir zurück, wie irritiert er war, daß der Türdrücker sich nach kurzem, durch Entschlossenheit leicht zu überwindenden Widerstand betätigen ließ. Und einen Moment lang spürte ich, denn um das zu sehen, war alles, als sich den beiden das Großraumbüro jenseits geöffnet hatte, zu kosmisch entfernt, die Sekretärin mir flüchtig und zufrieden zublinzeln. Dann schloß sich die Tür wieder, und wir fünf und die Sessel und Stühle und die Hydrokultur blieben mit uns und dem Raum allein.

Seitdem kommen und gehen die Menschen, es sind nicht viele, die bleiben; jeden Morgen wird uns ein anderer Ort im Empfang angewiesen, und jeden Abend kommt die Sekretärin, uns zu gießen; nur daran sind die Tageszeiten abzulesen. Um mich, so scheint es mir, ist diese Frau besonders bemüht, was mich mehr und mehr mit dem stillen, wogenden Genuß füllt, der nur jenen Schläfern zuteil wird, die einmal an den Ufern des Weißen Meeres Huan-su gestanden haben, welches, weil ihm ein eigener, erdinnerer, unsteter Mond zugehört, so unvermittelt die Gezeitenhöhe wechselt, daß man noch zu atmen meint, wenn die Lungen bereits voll des Wassers sind, doch eines, das sich atmen läßt und nicht nur von meinem Herzen hergesogen und dann warm durch die Adern gepumpt wird, sondern aus den Kapillaren die Zellen nährt wie vormals mein Blut, um durch die Venen zu den Lungen zurückzukehren, die neues Meer bringen, mit welchem sich in meinem Herzen der Kreislauf erneuert. Darin verströmt meine Haut einen betörenden Geruch: licht wie der Empfang.

 

Das war es, was ich, Klaus Verhausen, Herrn Charlier noch auf der Türschwelle sehen ließ, nachdem er Gaudís Klinke von 1886 hinuntergedrückt hatte und, weil ihre Form ein dauerndes Mißbehagen auf der Haut hinterläßt, in seine Handfläche schaute. Dennoch, trotz dieser unmißverständlichen Warnung, trat er bei mir ein.


Berlin, Februar – April 2002

ANH

 

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