Alban Nikolai Herbst

 

Zu "Nächstenliebe verlangt Gewaltanwendung"

Replik auf das Grundlagenpapier der "58"

 

Am 12. Februar veröffentlichte der TAGESSPIEGEL eine Erklärung 58 "führender" US-Intellektueller, die den gerechten Krieg proklamiert, bzw. ihn auf der Basis eines universalen Sittengesetzes definieren will. In derselben Zeitung reagierte Peter Schneider, aus seiner politischen Selbstentfremdung in die linke Seele sozusagen zurückgeläutert, mit moralischer Entrüstung und zieh die USA einer aufgeklärten Variante des Jihad. Daraufhin erhob in der ZEIT mäßigend Jörg Lau die Stimme und wies daraufhin, daß die Proklamation durchaus nicht von ideologischem Chauvinismus getrieben, sondern sehr rechtschaffen darum bemüht sei, eine US-amerikanische "Selbstverteidigung", die er vermittels eines unterschobenen "wir" auch für die des Lesers hält, auf rechtsphilosophische Füße zu stellen: Es werde in dem Text nur die, mit Kant gesprochen, Bedingung der Möglichkeit eines gerechten Krieges diskutiert, keineswegs lasse er sich als Freifahrtschein für mutwillige Militärschläge lesen.

Nun hat Lau sicher recht, insoweit er die intentiöse Seite des Papiers betrachtet; faktisch aber spricht für Schneiders Entrüstung zumindest die Erfahrung. Kriege verlaufen nicht sauber, und wenn zwar die 58 Autoren vom Militär die jederzeitige Achtung auch der Lebenswürde des Gegners fordern, übersehen sie sowohl die psychische als auch ökonomische Eigendynamik, denen bewaffnete Gefechte unterliegen. Ein Soldat, der schießen muß, wenn er überleben will, darf nicht erst Gewissensfragen erörtern müssen, vor allem nicht, wenn auch sein Gegner das nicht tut. Sonst ist er noch vorm Fragepronomen verstümmelt oder tot. Allein schon aus diesem Grund hat die unbedingte Befehlsstruktur der Armeen ihren Sinn: Die eigene Gewissenswürde ist den Händen der Vorgesetzten überantwortet und das eigene ethische Bewußtsein durch permanente Existenzbedrohung suspendiert, zumal die Armee Selbstentscheidungen aufs schärfste ahndet. In einer Schlacht muß der "Mensch", der man ist, verdrängt werden. Daß sich aber die Wiederkehr eines Verdrängten nahezu immer in eine Widerkehr verwandelt, weiß man nicht erst seit My Lai. "Ich will wissen, was das ist: Seele", ruft bei Grimmelshausen ein Landsknecht, der wütend das Gesicht eines Bauern zertrampelt. Nichts beschreibt besser, was Krieg ist und daß jedes Kriegsrecht, insofern es dem Gegner Würde zugesteht, hoffnungslos Papier bleiben muß.

Ob man will oder nicht, handelt es sich bei der Proklamation also letztlich um Glaubensartikel, die morallogisch nicht triftiger sind, als irgend eine der Erklärungen Osama bin Ladens war. Kaum etwas betont der Text so nachdrücklich wie der Autoren "we believe". Daß so etwas für ein Sittengesetz nicht taugt, hatte bereits Kant herausgearbeitet und darum seinen berühmten moralischen Imperativ rein formal gefaßt, woraufhin er sich, um ihm Fleisch zu geben, zu einem Postulat Gottes genötigt sah. "Postulat" heißt nicht, daß es Gott gibt, sondern daß das Sittengesetz einer übergeordneten Instanz bedarf, die man unabhängig von ihrer Existenz oder Nicht-Existenz setzen muß.

In der Weltgemeinschaft sind auch die Menschenrechte solche Postulate. Sie sind eben nicht, als was die 58 Autoren sie hinstellen, Wahrheiten, und für sie haftbar gemacht werden können auch nur diejenigen Nationen, die sie unterzeichnet, also sie ihrerseits gesetzt haben. Das ist für einen Teil der islamischen Staaten nicht der Fall. Und angesichts des beschworenen "gerechten" Krieges klingt die Conclusion der 58 je nach Perspektive haarsträubend naiv oder erschreckend zynisch: "We wish especially to reach out to our brothers and sisters in Muslim societies. (…) We have so much in common. There is so much that we must do together. Your human dignity, no less than ours – your rights and opportunities for a good life, no less than ours – are what we believe we’re fighting for." Was soll das heißen? "Wir, die wir euch niederbomben werden, sind eure Freunde und zerfetzen eure Säuglinge mit unseren Streugranaten zu eurem eigenen Besten"? Um obendrein dem Gegner die Argumente zu entziehen, werden sie qua Selbstanzeige entschärft: "We know that, for some of you, mistrust of us is high, and we know that we Americans are partly responsible for that mistrust. But we must not be enemies. In hope, we wish to join with you and all people of good will to build a just and lasting place."

Gleichzeitig übersehen oder wollen die 58 die historische "Ungleichzeitigkeit" (Bloch) der hier zum Krieg antretenden Staaten, bzw. Sippen oder Interessenverbände übersehen. Wenn Jörg Lau, Michael Walzer zitierend, den Jihad als "Antwort nicht nur auf die Moderne, sondern auch auf das radikale Versagen der islamischen Welt, sich selbst zu modernisieren" sieht, so läßt er Faktoren wie historische, also auch psychische Entwicklungszeiten willentlich außer Betracht; einmal ganz davon abgesehen, daß die abendländische Geschichte zur Norm erhoben und als notwendiges Geschichtsergebnis hingestellt und - von libertärer Seite! - noch einmal der fragwürdige marxsche Historische Determinismus bemüht wird.

Als Kant sein Sittengesetz entwarf, hatten sich jenseits feudaler Sippenbündnisse die abendländischen Nationen als autonome (bürgerliche) Souveräne herauszubilden begonnen,- eine Bewegung, der konsequenterweise die Emanzipation des Individuums parallelging. Beide, Staat und Privatperson, lösten sich aus den ewiggöttlichen Bestimmungen der mit dem Absolutismus verbandelten Kirche und pervertierten sich in Max Stirners "Mir geht nichts über mich" und analog im Nationalismus. Die abendländische Entwicklung verlangte dringend nach einer Regulation, die sowohl den Umgang Einzelner als auch den der Nationalstaaten miteinander auf "zivilisierte" Schienen setzte. Eines der Werkzeuge hierfür war die UN-Menschenrechts-Charta von 1948, deren Artikel Ergebnisse der abendländischen Emanzipationsgeschichte sind. Daß dies leidlich funktionierte, hing und hängt grundlegend an der erkenntnistheoretischen Trennung von Subjekt (Individuum, Staat) und Objekt (das, wozu man sich verhalten muß), also am selben Kulturkontext. Bereits aber für das enorm verwestlichte Japan hat diese Prämisse kaum Bedeutung. "Asiatische" Philosophie basiert insgesamt auf einer ganz anderen Welterfahrung. Sie ist nicht aristotelisch extravertiert, sondern strebt gerade die Auflösung dessen an, was die westlichen Staaten politisch konstituierte: Der Unterschied von Subjekt und Objekt gilt als Schein und wird als solcher auch empfunden. "Wo beginne ich und wo höre ich auf?" fragte mich, wobei sie meine Schulter als ihre eigene berührte, meiner Frau indische Cousine, die am Agra College lehrt. Eine von Westlern als heilsam betrachtete Trennung von Kirche und Staat kann östlichen Denkern nicht nur fremd, sondern auch gänzlich irrelevant sein. Nicht "Mir geht nichts über mich", sondern "Wir sind unterschiedslos in derselben Großen Verbindung", wie in Deep Space Nine die Formwandler (!) ihre erlösende Entindividuation nennen. Das Toleranzprinzip greift nur dort, wo nicht Interessen anderer von vornherein als immer auch die eigenen gefühlt werden.

Der Konflikt der aufeinanderstoßenden Weltentwürfe ist keiner, den die "islamistische" Welt erzeugt hat; die wäre möglicherweise ganz gerne bei sich geblieben. Vielmehr ist er Ergebnis der Globalisierung, welche die aus Subjekt-Objekt-Konstruktionen Wachstums-Ökonomie betreibt und den aus westlicher Sicht "historisch ungleichzeitig" lebenden Sippenverbänden aufzwingt. Der ihnen sicher unbewußte moralische Größenwahn, den die 58 notfalls auch kriegerisch realisieren lassen wollen, zeigt sich eben bereits in den Begriffen: Die Proklamation der Menschenrechte in der UN-Charta als "universale Wahrheiten" auszugeben, die doch ganz wie der kantische Gottesbegriff nichts sein können als zwar notwendige, letztlich aber formale (regulative) Postulate, setzt nicht nur historische Gleichzeitigkeit voraus, sondern erhebt den Anspruch auf göttliche Ausschließlichkeit, und dies quer durch den Kosmos. Was universal ist, gilt im Canis maior auch. Wie es dort aussieht, wissen die Autoren offenbar ebenso genau wie die Al Qaida. Schon deshalb ist der "gerechte Krieg" (just war) morallogisch nichts anderes als der Jihad, und Peter Schneider behält recht, jenen einen "säkularisierten heiligen Krieg" zu nennen. Daß unter Absehung aller historischen und psychologischen Ursachen von dem Gegner als dem "Bösen" gesprochen wird, tut bloß noch den Akzent hinzu und vergißt, daß es keine juristische Instanz gibt, bei der die "islamistische" Bewegung sich wegen erlittenen Unrechts Gehör verschaffen könnte. Gäbe es sie und wäre sie von allen Beteiligten akzeptiert - es sind nicht zuletzt die USA selbst, die sich einer übernationalen Gerichtsbarkeit nicht unterstellen wollen -, sähe die Angelegenheit anders aus. So indessen hat nicht einmal die deutliche Verletzung des durch die 58 ständig beschworenen Völkerrechts, die ihren Ausdruck in der planmäßigen Zerstörung infrastruktureller Einrichtungen während des Golfkriegs fand und zu einem unabsehbaren Elend der irakischen Zivilbevölkerung geführt hat, bis heute geahndet werden können. Überdies ist von einer technologisch weit unterlegenen Partei schwerlich zu erwarten, sie werde sich an die von ihrem Gegner aufgestellten Vernichtungsregeln halten; täte sie dies, sie müßte ihr Streben nach in ihrem Sinn verstandener politischer Gerechtigkeit selbst im Keim ersticken. Ein Krieg der politisch-kulturellen Systeme, die letztendlich Psychosysteme sind, muß im 21. Jahrhundert als Partisanenkrieg geführt werden; nur in einem solchen – das haben die furchtbaren Ereignisse vom 11. September deutlichst vor aller Augen geführt – ist auch Goliath verletzlich. Wie sehr, zeigt unter anderem dieses Papier der 58 US-Intellektuellen. Osama bin Laden hat die angebliche Unverwundbarkeit der USA ent-täuscht. Es brauchte ein paar Tage, bis das Trauma virulent wurde. Nun entlädt es sich, und zwar um so mehr, als der Wunsch nach Vergeltung unerfüllt blieb. Schließlich ist Anlaß des Afghanistankriegs nicht etwa eine menschenverachtende Diktatur gewesen, sondern die USA wollten des tatsächlich oder vermeintlich Schuldigen an dem massenmörderischen Akt des 11. Septembers habhaft werden. Insofern dieses eigentliche Kriegsziel nicht erreicht wurde, muß sogar von einer Niederlage gesprochen werden: Ob tot, ob lebendig, Osama bin Laden entkam. Diese Schmach nährt das unbewußte Trauma noch. Also wird, um den beschädigten Narzissmus zu "heilen", kompensativ ein neues, auf "universalen Wahrheiten" gegründetes Kriegsrecht gesucht. Daß gegenwärtig mit "universalem" Recht tatsächlich niemand handeln kann, darf nicht zugestanden werden – und schon gar nicht, daß sich mit freilich derselben moralischen Vagheit einer just war theory, die, wie die 58 konzedieren, Zivilopfer als unbeabsichtigt, doch vorhersehbar in Kauf nimmt, eine Theorie des Guerillakampfes entgegensetzen läßt, zumal höchst fraglich ist, ob terroristischen Aktionen mehr Zivilisten zum Opfer fallen als Kriegseinsätzen. "Rechtgläubig" jedenfalls sind beide Seiten, dogmatisch-monotheistisch ist die eine, teleologisch-geschichtsgläubig die andere, und jede Partei bestreitet dem Gegner seinen Gott. Die 58 formulieren das so: "Non of us believe (!) that God ever instructs some of us to kill or conquer others of us." Dumm nur, daß göttlicher Ratschluß unergründlich ist; dafür finden sich in Thora, Apokalypse und Koran Belege zuhauf, nur daß "die Bösen" jeweils andre sind. Schon deshalb wird sich allenfalls formal eine Konfliktlösung finden lassen. Eventuell aber auch nicht. Sich dieser pessimistischen Möglichkeit zu stellen, bedeutet für Individuum wie Nation, erwachsen zu werden, nämlich auch ungesühnte Kränkungen aushalten zu können. Das Trauma aber will die Regression seines Trägers, - im Fall der 58 hat es zu einer morallogischen Argumentation geführt, die in keinem philosophischen Hauptseminar einer Hausarbeit für wert erachtet würde. Denn damit werden auch die US-Amerikaner leben lernen müssen: daß je schärfer jemand denkt, er um so schlechter handeln kann.

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Berlin, Februar 2002

ANH

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