Der Misanthrop No 19
Wozu noch Sprachkultur?
Wie
bedeutsam ist der sprachliche Ausdruck? In Zeiten demokratisierter Rede. Hinter
vorgetragener Wortgewalt mag sich zuweilen nicht viel oder rein gar nichts
verbergen. Was in Gestalt vieler Worte anrückt, ist nur zu oft leeres Getöse.
Wozu dann also noch sich gewählt ausdrücken? Die Sprache der Techniker ist dürftig,
doch hat sie ihnen genügt um auf dem Mond zu landen. Man ist demnach verleitet
zu meinen, der Erfolg gäbe ihnen recht. 1+1=2; - daran gibt es nichts
herumzudeuten. Wortreichtum und allzu viel Komplexität im Ausdruck wären
immerzu schädlich, wenn einzig Eindeutigkeit zum raschen Erfolg führen kann.
Wer hager im Geiste ist, gelangt als Erster ans Ziel. So lautet ein altbewährtes
Erfolgsprinzip in der Evolution des Lebens. Der Komplizierte, weil allzu
verfeinert, unterliegt im Wettbewerb mit den Alltagstauglichen. Darwins Prinzip
der natürlichen Auslese (bei dem Sozialdarwinisten Herbert Spencer zu "survival
of the fittest" radikalisiert) begünstigt in der logischen Konsequenz unablässig
das schlichte gegenüber dem komplexen Gemüt. Ob es deswegen einen Fortschritt
zu einer höheren - vergeistigten - Lebensart überhaupt (nämlich biologisch
zulässig) geben kann, muss fraglich bleiben. Die Genetik des Geistes ist eine
Seinsbestimmung zum Tode. Gar trefflich scheint es so betrachtet, dass
Geistliche einem strengen Zölibat unterliegen.
Nicht Gott, der Techniker krönte die Schöpfung. Und ganz nebenbei hat die
Zunft intellektueller Tatmenschen die Atombombe gebastelt. Hätte ein Schöngeist
an ihrer Stelle anders gehandelt? Wäre er zaghafter bei der Verwertung seines
Expertenwissens verfahren? Ist dieser Schöngeist denn sensibler als jener
wortkarge Typus von Techniker, der als Mann der Tat schafft und welcher den
unablässig über Fragen der Ethik und Verantwortlichkeit dozierenden Vielredner
ob seiner gleichermaßen störrischen wie störenden Nichtsnutzigkeit verachtet?
Wie wir wissen war der Schöngeist Goethe in seiner Funktion als Staatsminister
ein unnachgiebiger Verfechter von Gesetz und Ordnung. Heute würde man ihn auf
Neudeutsch einen "Hardliner" nennen, der für eine Politik des "law and order"
steht. In Fällen richterlich verfügter Todesstrafen flehenden Gnadengesuchen
nachzugeben, war des Unerbittlichen Sache angeblich nicht. So wissen es
kritische Biografen der staunenden Nachwelt zu berichten.
Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten
Weges wohl bewusst. - Faust I (Prolog im Himmel)
Ist er es? In der Tat. Die "Zehn Gebote"
des Moses sind knapp und bündig formuliert. Was besagt, dass es für eine grundlegende
Moral nicht vieler und schon gar nicht schöner Worte bedarf. Es reicht einfach
das Wichtigste zu sagen und die Menschen begreifen und leben danach. Oder sie
sündigen, doch wissen sie dabei um ihr Verfehlen. Denn das magere "Du darfst
nicht" und "Du sollst" war ihnen schon in jugendlichem Alter einprägsam geworden
und so handeln sie nun mit gutem oder schlechtem Gewissen, doch niemals gewissenlos.
Sie haben jene einfachen Imperative zu ihrem Tun und Lassen bei Zeiten schon
verstanden, hingegen jene vielschichtige Verhaltensethik, die aus Goethes Faust
in schöngeistig verklausulierter Gebärde zu den Menschen spricht, den Massen
unbegreiflich - dunkel - geblieben ist. Lediglich einer Elite von Geld- und
Bildungsbürgern schmeicheln des Dichterfürsten Empfehlungen zur rechten Lebensart.
Freilich ohne dass sich aus deren vorgeblicher Erkenntnis des wohl formulierten
Guten, Schönen und Wahren irgendeine Verhaltensfolge von grundlegender Bedeutung
für das Gemeinschaftsleben ergeben würde. Des Dichters Ethos ist den Standesbewussten
eine Bestätigung ihres Adels, weshalb sie ihn zur Stärkung der eigenen Reihen
und zur Festigung selbstsüchtiger Ansprüche in den erblichen Adelsstand erhoben.
Er ziert sein Publikum, das ihm in Worten zwar huldigend folgt, aber in Taten
untreu bleibt. Goethe lobt man, aber man liest ihn nicht - heißt es in einem
beliebten Bonmot. Und schon gar nicht lebt man seine Empfehlungen zur Lebensmoral.
Die vom Schicksal Begünstigten herrschen vermöge ihrer Reichtümer, geben sich
liberal, kunstsinnig und kultiviert, soweit die insgeheim zur Barbarei enthemmte
Lebensart in ihrem Vollzug davon unberührt bleibt. Sie wollen das Beste für
die Welt, reden auch gerne der öffentlichen Verschwendung zum guten Zweck das
Wort und weisen doch den Buchhalter zur steueroptimalen Bilanzierungskunst an.
Moralisieren ohne anzustreifen, lautet die Handlungsmaxime. Das gebietet sich
so, als Standpunkt sozialer Hygiene. Man hält tunlichst Abstand zum gemeinen
Volk, doch ist man ein guter Mensch. Man bleibt unter sich und spricht und
spricht. Ethik und Ästhetik fließen dabei ineinander, heben einander zur bloßen
Plakativität auf. Anmut und Würde, das ist Schnee von Gestern. Nur der gute
Mensch gilt als schön; - aber Schönheit ist dem Eitlen alles. Und mag es auch
nichts als schöner Schein sein. Die Fassade, nicht die Wahrheit zählt.
Es irrt der Mensch, so lang er strebt. - Faust I (Prolog im Himmel)
Ist also das Bemühen um schöne Worte nicht einfach nur gefallsüchtige Arroganz
und anmaßendes Aristokratengehaben? Der unsinnige Wunsch mehr sein zu wollen,
als man ist. Oder verbirgt sich doch ein tieferer Sinn dahinter? Ein Bedürfnis
das Dasein in seiner sinnlichen und übersinnlichen Komplexität zu verstehen
und sprachlich nachzuzeichnen. Und um vielleicht doch mehr zu sein, als dieses
Kreatürliche, das die Zeit, kaum zum Leben erweckt, schon wieder zur Erde danieder
krümmt. Denn beginnt an diesem sprachlichen Punkt der Selbsttranszendenz nicht
das Menschsein? Es ist nicht allein Selbstveredelung vermittels des gewählten
Wortes. Wann immer der Mensch spricht -– und zwar bewusst geistvoll sich
in Sprache entfaltet - verwandelt er bloße Natur in Geist. Und der Mensch ist
Mensch, wenn er mit Geist begabt ist. Oder er ist noch nicht Mensch, verweilend
in einem gleichsam larvenhaften Zustand, einer widernatürlichen Geburt zu höherer
Geschöpflichkeit als Geisteswesen erharrend.
Zwar ist auch den Tieren, den Technikern und den Bewohnern aller Welt zur
praktischen Anwendung Intelligenz verfüglich, die sie in Maschinen durch die
Landen rollen und sogar zu den Sternen fliegen lässt, doch verstehen sie damit
keinen göttlichen Gedanken zu denken. Sie wissen ihr Intelligenzvermögen zwar
in der unvermittelten Tat anzuwenden, jedoch nicht als Adelsprädikat zu nutzen.
Nur wer folglich Sprachkultur hat (mehr im Sinne von Tugend, weniger im Sinne
von Gewandtheit), ist - mythologisch betrachtet - Gott ebenbildlich. Und dann
wohl auch daseinsfremd, unzeitgemäß, weil antiquiert, denn die gegenwärtige
Lebensmaxime ächtet alles Spirituelle und Lyrische, ob deren entschleunigenden
und diffusionierenden Charakters, als Störung einer raffenden Ökonomie zur Gütermehrung,
welche um ihrer Selbst Willen nichtsagender Wortgespinste bedarf.
Das Tun hat sich nunmehr in besinnungslose Geschäftigkeit aufgelöst. Worte
dienen der Verklärung hektischen Treibens ohne erkennbaren Lebenssinn. Zur
Orientierung im Getue werden Leitbilder entworfen, die bei genauerem Hinsehen
nicht viel mehr als den Grad der Entfremdung von jedem vornehmeren Selbstideal
manifestieren. In dieser Kultur der Sprachlosigkeit werden Worte zur
geschmacklosen Ornamentik. Was sich überhaupt noch stammelnder Weise äußert
ist vulgäre Ästhetik, da nicht der Erklärung, sondern lediglich der Behübschung
dienend. Ein Euphemismus der Tat macht sich breit, welcher, im Modus schänderischer
Gleichmut agierend, sein Vokabular bevorzugt der angelsächsischen Sprachwelt
entlehnt. Und das nicht aus Liebe zur anmutigen Sprachkunst eines Shakespeare,
sondern aus unreflektierter Anbiederung an ein vermeintliches Erfolgsmodell,
dessen globale Hegemonie aus dem Geist einer Sprachlosigkeit geboren ist, die
einem ökonomistischen Pragmatismus frönt und welche zufällig (oder auch
weniger zufällig; - man lese bei Max
Weber nach) dort nistet, wo man für gewöhnlich Englisch spricht.
Mit leeren Worten leben müssen, die nicht das Dasein, sondern bloß eine Lüge
davon widerspiegeln, muss dann freilich ein unglückliches Bewusstsein zum
Ergebnis haben. Daraus ist zu schließen, dass die Begnadung mit Sprachkultur
nun nicht nur in der Tendenz den unwirklichen Menschen zum wirklichen Menschen
macht, sondern ihn darüber hinaus - erkannte er erst sein Vermögen - zum mündigen
Bürger erhöht, dem leeres Gerede zum üblen Zweck gerade einmal noch ein höhnisches
Gelächter abnötigt. Hohlmündige Parolen jedoch, haben wohl weniger Gehalt als
des Hundstiers heiseres Bellen, dem selbst nicht einmal der zur Knechtschaft
Geschundene Gefolgschaft leisten mag.
Den geistlosen Worten folgen geistlose Taten in geistlosen Zeiten. Plötzlich
ist nun also daran gedacht ausbeuterisch zu bewirtschaften, was zur gedeihlichen
Entwicklung der Pflege bedürfte. Zierpflanzen, deren Daseinszweck die Gefälligkeit
zur gemütserquickenden Anschauung ist, sollen zur Welke geerntet sein. Als ob
Kahlschlag ganz von allein neues Leben hervorbrächte und Raubbau an den
Lebenskräften die beste Art von Fürsorglichkeit wäre. Und all dieses unmögliche
Treiben wird mit einem nichtssagenden Vokabular aus dem Fundus postmoderner
Beliebigkeit begründet. Man hat nichts zu sagen, doch man sagt es mit vielen
Worten. Der dumme Kerl hat es endlich geschafft: Sein Gequassel ist das Maß
aller Dinge.
Substanzlose Worthülsen sind das herrschaftlich verfügte Labsal einer
sprachlich konstruierten Lebenswirklichkeit, der kein wirkliches Ding auch nur
im Entferntesten gleichen mag. Die Welt und das Gerede von ihr stehen
nebeneinander und ähneln einander nicht. Sprache dient gerade noch dem Zweck
des Zurechtfälschens von Wirklichkeit. Und trotzdem herrscht
Widerspruchslosigkeit vor, wenn in diesen Tagen allen Orts eine Rhetorik
sprachlosen Geschwätzes mit verräterisch schlichtem Pathos im Ton in
Erscheinung tritt. Selbstentfremdung ist zu diagnostizieren, ob dieser
Phraseologie, die von alltäglich Sprechenden nämlich nicht als Unsprache
erkannt wird.
Die einst hässliche Figur des Ausbeuters tritt neuerdings mit einem breit
aufgesetzten Grinsen nach der Manier psychologischer Lebensratgeber auf, verkündet
unter Missachtung aller Mühsal eine - jegliches Kritikvermögen - blendende
Botschaft, faschiert aus vermeintlichem Heil und suggerierter Freude. Jetzt
macht das Leben, die Arbeit wieder Freude, heißt es und das genügt den
Apologeten des falschen Bewusstseins auch schon als zündende Parole um fest an
die eigene Metaphorik zu glauben und ebensolche blinde Gläubigkeit beim abhängigen
Fußvolk mit gönnerhafter Geste einzufordern. Nicht Emanzipierung, sondern
Zurichtung ist das Credo zum Tag. Die Verstandeskraft des aufgeklärten Bürgers
geht in Zeiten postmoderner Holdseligkeit den Bach hinunter. "Ich bin o.k.
- Du bist o.k.; gemeinsam statt einsam", predigen die Gurus der
Transaktionsanalyse und laden den Einzelnen zur teilhabenden Selbstaufgabe in
ihr Team ein.
Wer zum höheren Zwecke leidet, wird Freude in der Genugtuung finden. Kommt uns
dieser Appell an die Handlungsfigur des Uneigennützigen nicht bekannt vor? Eine
Gehorsamstheorie, welche die Selbstaufopferung in Gehorchung eines dubiosen
Systembefehls als höchste Tugend beschwört, beschwört sich in Ermangelung
besserer Einfälle den Märtyrer zu ihrem Idol. Nunmehr allerdings ohne
zusätzliches
Angebot eines über- bzw. hinterweltlichen Sinnkalküls, solcherart sich das
Verrecken im Namen einer dem unmittelbaren Lebensinteresse übergeordneten Idee
als scheinbar zweckrational zu einer Form höherer Vernunft erklärt. Ein
Sinndefizit, das für den Einzelnen die Sache umso bitterer werden lässt,
weshalb es der parapsychologischen Fiktionalsuggestion bedarf, es sei alles nur
zu seinem eigenen und allgemeinem Besten getan. Die Ideale der Väter sind anrüchig
und verpönt, der Gegenwartsmensch lebt, arbeitet und siecht für die Teilnahme
und den Erhalt einer Spaßgesellschaft, die ihm seinen hedonistischen
Individualismus verbürgt, dessen er sich nicht mehr entwöhnen mag.
Wozu also Sprachkultur? Bedarf es noch weiterer Worte? Eine Sprache ohne Kultur
ist des Menschen Desaster und seine Schande. Und wenn ihm auch aus
wohlerwogenem Grunde in aller Regel nicht viel Höhe zugestanden werden darf, so
tief zu fallen, hat sich wohl nicht einmal dieses Geschöpf verdient, das vor
Gott und über die Erkenntnis Gottes geistbegabt sein sollte. Was den Umständen
gemäß zu allermeist jedoch nicht der Fall ist, da sich Angepasstheit an den
Sinnrahmen geistloser Zustände immer noch über ein Übermaß an geschwätziger
Sprachlosigkeit definiert. Eine Systematik der Sinnstiftung, die massenhaft
wirkt.
Zum Pessimismus besteht also jeder Grund. Jedoch vor der Situation zu resignieren,
verbietet sich, denn dies wäre wider die lebenserhaltenden Instinkte gehandelt,
die mehr als bloß überleben wollen. Und mehr als bloß überleben will auch
der erkennende Geist, solange ihn ein blinder Wille zum Dasein noch an diese
Erde bindet. Sprachkultur, verstanden als lebendiger Ausdruck einer subversiven
Haltung gegen das Diktat ökonomischer Zurichtung und als Chance auf ein
nonkonformistisches Dasein über den Niederungen des Alltags, meint an der
Vision einer höheren (vielleicht unmöglichen) Idee wahrer Menschlichkeit
festhalten zu wollen. Wer wollte in diesem dunklen Streben nun nicht eine löbliche
Tugend erblicken, die eine fürsorgliche Zuwendung verdient? Der Mensch ist im günstigen
Fall mehr als er scheint. Darum geht es in letzter Konsequenz. Dafür lohnt es
sich zu leben, bis dass der Tag kommt, an dem ein gütiges Gesetz den letzten
Menschen von dieser Welt hinwegnimmt.
(Misanthrop; Mai 2005)