Der Misanthrop No 16: "Über die Ethik des Mitleidens"
"Hör zu, es ist kein Tier so klein, das nicht von dir ein Bruder könnte sein."
Lamm Gottes - das
Opfertier Gottes, ein christliches Symbol, zudem der ultimative Ausdruck einer
Leidensfigur. Mir schwebt das theologisch vielleicht unkorrekte Bild eines Jesus
vor, der äußerstes Leid auf sich nimmt, nicht der Sünde sondern des Leides
wegen. Ein Jesusbild, das mich erst kürzlich in einem schmerzlichen Moment
befiel, als ich das grausame Schicksal einer kleinen Maus erblickte, die,
eingeschlossen in einem Mistkübel, darin elendig um ihr Leben gekommen war. Wohl
hatte sie die Verlockung nach etwas Essbarem in ihr Verhängnis geführt. Der
zermarterte kleine Körper, gestorben an Entkräftung, Hunger, vielleicht auch
Kälte und Verzweiflung, lag in seiner Totenstarre versteift vor mir. Eine
unscheinbar winzige Kreatur, gezeichnet noch von einem Todeskampf, der sich über
Tage hingezogen haben muss; umgekommen in einem dunklen Gefäß, aus dem es kein
Entrinnen mehr gab. Ein Sterben im Inneren eines vermeintlichen Nahrungsquells,
der sich für das Mäuslein als sein Sarg entpuppte. Dieser Anblick tierischer
Qual nötigte mir die Einsicht auf, dass für den empfindsamen Menschen am
Unerträglichsten das Leid seines Nächsten sein muss. Und so kam mir die Idee:
War nicht auch die Liebe von Jesus zum Menschen, die Nächstenliebe, wie
überhaupt sein zärtlicher Umgang mit den Kreaturen dieser Schöpfung, wie ihn
dann Franz
von Assisi in treuer Gefolgschaft Jahrhunderte später nachvollzog, in erster
Linie der Ausdruck eines empathischen Mitleidens? Ein Mitleiden mit dem
Nächsten. Dem Leid der geschundenen Kreatur stand der Heiland nicht ohne
Anteilnahme gegenüber, viel mehr er empfand der Anderen Leiden als unerträgliche
Peinigung seiner selbst. Und mag es dann denn nicht sein Ansinnen gewesen sein,
dem Leidensdruck in dieser Welt entgegenzuwirken, sich selbst in seiner
Leibhaftigkeit dem unsinnigsten aller Quälereien, dem Menschen- und Tieropfer,
entgegen zu stellen, auf dass es hinkünftig keine Darbringung lebender Opfer
mehr geben möge? Durch seine Selbstaufopferung setzte er der Opferpraxis einen
Schlusspunkt, in dem er alle denkbaren Opferriten in die blutige Hingabe seiner
Person aufsaugte. Er nahm unmäßiges Leid auf sich, um das Leiden dieser Welt zu
überwinden, doch gelang ihm letztlich nur die Abschaffung des Opferrituals in
den eigenen Reihen, hingegen in seinem Namen bald schon gemordet werden
sollte.
Der Opfergang Jesu Christi bezeichnet eine Ethik des Mitleidens,
die gegen das Leid anleidet, gegen eine als missraten erkannte Schöpfung
aufbegehrt. Gläubige Christen vollziehen den Leidensweg ihres Heilands
alljährlich im Ritual des Kreuzweges nach, was sie zumindest für die Materie
sensibel machen sollte. Letztlich blieb das jesuanische Aufbegehren jedoch ein
absurder Akt von tragischer Dimension, denn wie sollte sich über die Annahme und
Übernahme von Leid das Leid in dieser Welt verringern lassen. Doch anders
gehandelt ihm diese Welt wohl nicht mehr erträglich gewesen wäre. Die als
schmerzlich empfundene Wahrnehmung des Elends trieb ihn einem ethischen Wahnsinn
zu. Und wenn er auch noch in dieser Welt lebte, so lebte er doch nicht mehr mit
ihr. Familie, Zugehörigkeiten zu Nation und Berufsstand oder zu spirituellen
Gemeinschaften, alle diese Einrichtungen, die den Fortbestand des irdischen
Daseins regeln und garantieren, an ihnen nahm er nicht mehr teil, er wandte sich
ab von den Lebensformen der Gepeinigten, deren kaum halbbewusster,
unausgesprochener und grausamer Zweck es ist, das Leiden zu verewigen. Und nicht
das Leid hinwegzunehmen von dieser Welt, weil über das Leid zu triumphieren,
hieße den Lebenswillen zum Erlöschen zu bringen, diese Erde, der Quell zu allem
was krabbelt, sinnt und sich stetig strebend müht, dem Untergang zu
weihen.
In der Tat, Jesus war Apokalyptiker, der meinte in einer
messianischen Endzeit zu leben, wie sie von den Propheten immer schon
angekündigt worden war. Das meinen nicht zuletzt die Gelehrten und Experten für
die Geschichte
des Urchristentums, und wer wagte es, an ihren wohlfundierten Thesen zu
rütteln. Jesus stand in einer Tradition religiösen Denkens, dessen abschließende
Erfüllung als unmittelbar bevorstehend erwartet wurde. Ohne Zweifel ist der
Verkünder des nahen Weltendes als Traditionalist prophetischen Bewusstseins zu
erkennen. Gegen diese durch die Historie verbürgte Annahme lässt sich nur schwer
polemisieren und sie soll an dieser Stelle auch nicht angezweifelt werden, doch
ist es zudem unplausibel anzunehmen, dass dieses empfindsame Gemüt den jüngsten
Tag nicht nur aus Gründen der prophetischen Überlieferung erwartete, sondern
sich eben so sehr aus höchstpersönlicher Seelenneigung nach dem Weltuntergang
sehnte, da dieser ein Erlöschen des blinden Daseinswillens versprach, der in den
Geschöpfen wirkt, sie in der Welt hält und somit fortgesetzt dem Elend
leidvoller Diesseitigkeit ausliefert? Ein Daseinswille, der, blind und ohne
Moral, deswegen immerzu sündig, über die Wiedergeburt des Fleisches aus dem
Fleisch einem unaufhörlichen Leid zu ewiger Geltung verhilft.
Der Jesus der
Evangelien benannte dieses zentrale Anliegen der Überwindung von Lebensleid
nicht direkt beim Namen, man kann es ihm mangels Bestätigung durch die
Evangelisten nur nachempfinden, doch vollzog sich in seiner Person eine
entsprechende Philosophie der Tat, indem er den Leidenden tatkräftige
Hilfestellung leistete und sich allemal darum bemühte die mutwillige Zufügung
von Leid zu verhindern (bspw. die Verhinderung der Steinigung einer
Ehebrecherin), doch ansonsten "nahm er hinweg die Sünde dieser Welt", was uns
ein theologisches Rätsel bleiben muss. Die entschiedene Thematisierung des
Lebens als leidvolles Dasein blieb schlussendlich dem indischen Religionsgründer
Buddha überlassen, welcher, vor Jesus lebend und möglicherweise mit seiner Lehre
vom Daseinsleid auf diesen einwirkend, ebenso am Weltleid verzweifelte und nach
Überwindung der Ursache allen Leidens trachtete. Als Ursache allen Leidens, und
alles Dasein ist leidvoll, erkannte Siddharta Gautama (um 560-480 v.Chr.) den
Lebensdurst, welcher eine blindwütige Gier ist, ein übles verhaftet Sein mit den
Dingen dieser Welt, ein Lebensdrang, den es auszulöschen gelte; was nebenbei
bemerkt mehr zum Leben hin- denn wegführt. Buddha verfuhr dann auch konsequent
in diesem Sinne, ohne dabei Hand an sich zu legen, sich zu malträtieren oder
sich auf theologische Abwegigkeiten einzulassen. (Seine Lehre blieb gottlos.)
Des Buddhas Schüler brachten seine Idee der Abkehr vom "blinden Willen" zur
Hochblüte, so etwa im Zen, hingegen
die Lehre Jesu in die Fänge einer griesgrämigen Kirchenbürokratie geriet und zur
christlich-sozialen Familien- und Gesellschaftspolitik degenerierte, deren wert-
wie strukturkonservative Gehalt offenkundig im Widerspruch zu den
nonkonformistischen Intentionen ihres Schöpfers steht. Und die Mitleidsethik
Jesu Christi mündete in das Treiben der "Inquisitionsgerichtsbarkeit",
deren theologischer Irrsinn kein Mitleid mit vermeintlichen Ketzern kannte. Dem
Tier verwehrt man bis heute die Gnade christlicher Heilsteilnahme. Zuunterst
steht in der Werteskala das Nutztier, da eine seelenlose Kreatur, weder sündig
noch tugendhaft, vor Gott dem Menschen zum Verzehr bestimmt, was im Grunde jede
Grobheit rechtfertigt, wann immer nicht in einer empfindsamen Seele doch noch
das Mitleid obsiegt. Wäre da nicht noch die Caritas, die christliche
Mitleidsethik wäre bar jeglicher Substanz und als propagierte Nächstenliebe
nicht ihres Namens wert. Doch auch diese Einrichtung tätiger Nächstenlieber
steht letztlich als Ausdruck christlich-sozialer Gesellschaftsethik im
Widerspruch zum Wunsch nach dem Erlöschen des Lebensdurstes als Quell allen
Daseinsleides. Denn es gilt nicht nur den Leidenden zu helfen - wer wollte dies
bestreiten? Es gilt vor allem auch, und dieses vordringlichst, die Ursache von
Daseinsleid, den Lebensdurst, zum Versiegen zu bringen. Ein wahrlich kosmisches
Unterfangen. Einer religiösen Anstrengung würdig.
(Misanthrop; Oktober 2003)