Der Misanthrop No. 15: "Bis zum Knock-out"
"Das endlose Wachstum materiellen Wohlstandes, von dem wir die Lösung aller Probleme erhoffen, ist selbst zum Hauptproblem geworden."
(John Kenneth
Galbraith; Ökonom)
Sollte es einen
Fetisch geben, dem das Menschenwesen aus innerstem Antrieb huldigt, so ist es
wohl die Zwangsidee unaufhörlichen Wachstums, der man hoffnungsfroh frönt,
ungeachtet der Tatsache, dass alles Wuchern in den Untergang führen muss.
Wuchern, das bedeutet Krebs! Und ein fremd- oder selbstkontrolliertes Wuchern,
zum gemeinsamen Nutzen aller, das gibt es nicht, denn der Verzehr von
Lebensgrundlagen und Naturvermögen ist eine Realität, die schwerer wiegt, denn
die über neoliberalistische Gleichgewichtstheorien vermittelte Illusion
selbstgesteuerter Harmonie im unbegrenzten Wachstumsprozess einer letztlich doch
nur tumorähnlichen Kultur unmäßigen Produzierens von Dingen und Lebewesen.
Diese Kultur der Enthemmung erfreut sich zwar ganz offenkundig ihres Lebens,
entfaltet sich rasch zu stattlicher Größe, vermehrt sich, durchdringt den
befallenen Organismus, siedelt überall ihre Tochtergeschwüre an, doch übersieht
man bei Gewahrung dieses Faszinosums an Vitalkraft geflissentlich des Wirtskörpers
qualvolles Siechtum.
Besondere Aufmerksamkeit schenkt man hierzulande neuerdings einer spezifischen
Art von Wachstum, nämlich dem Bevölkerungswachstum, welches man, entwickelt es
sich moderat, als Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Prosperität erachtet,
somit als Grundlage für eine gedeihliche Entwicklung von Wohlstand und sozialer
Ordnung. Die Menschenzahl hat zu wachsen, mag sein und kommen was will. Ökonomisch
oder auch völkisch gedacht, ist stetes Wachstum der Menschenzahl freilich eine
feine Sache; ökologisch betrachtet hingegen der blanke Wahnsinn. Und welcher
Betrachtungsweise sollte sich eine an ihrem Fortbestand unter lebenswerten Verhältnissen
interessierte Menschheit nun verpflichtet fühlen?
Während der vergangenen Jahre, seit geraumer Zeit also schon, wie überhaupt in
den kürzlich verflossenen Augusttagen des Jahres 2003, ist Bevölkerungspolitik
zusehends zu einem
zentralen Thema österreichischer Innenpolitik erkoren worden. Warum dem so
ist, erklärt ein flüchtiger Blick auf die Geburtenstatistik, welche besagt,
dass der Begriff vom Bevölkerungswachstum ganz offenkundig ein Begriff in der
Krise ist. Zumindest sieht man es so. Lendenschwach und steril geworden, scheint
das Alpenvölkchen von Schwindsucht bedroht, was Jung- und Altpolitiker
nationalkonservativer Provenienz neuerdings zur lauthalsigen Bekundung von
ebenso abwegigen wie allerdings auch erheiternden Ideen ermutigt. Man möge die
Anschaffungspreise für Verhütungsmittel, speziell für Kondome, über eine Höherbesteuerung
verteuern, so dass rein lustorientiertes Sexualverhalten zu jenem urtümlichen
Zweck zurückgeführt wird, den die Natur ihm einstens und eigens zugedacht
habe: Also zurück zur genitalen Fortpflanzung zum höheren Zwecke der Erhaltung
von Gruppe und Art. Und man möge des Weiteren Fortpflanzungserfolge hinkünftig
durch den Staat prämieren (Geburtenprämie), sowie an Eltern fürstlich
bemessene Erziehungsgehälter auszahlen. Weniger freigiebig, doch umso
konsequenter im Resultat, äußerte sich da schon ein christlich-sozialer
Vordenker, der, in seiner Rede durch sachkundige Demographen bestärkt, seinem
überfremdungsgeplagten Volk mit einer Politik verstärkter Zuwanderung drohte,
sollte der spaßorientierte Österreicher seiner staatsbürgerlichen Pflicht der
Reproduzierung von Humanmasse weiterhin nur nachlässig nachkommen. Ohne
nachhaltiges Bevölkerungswachstum drohe jedenfalls Stagnation und Niedergang,
zumindest eine empfindliche Einbuße an Wohlhabenheit, und dass dieses
Schreckensszenario unter allen Umständen zu vermeiden ist, darüber besteht im
Land ein politischer Konsens, mit dem pikanter Weise selbst die grüne
Parlamentspartei übereinstimmt. Womit sich auch dieser einstige
Hoffnungsschimmer ökologisch orientierter Zeitgenossen, zum wiederholten Male,
als bedauerlicher Blindgänger erweist, dessen visionäre Kraft sich im Bild der
allerorts säugenden neuen Mutter erschöpft, hingegen der nüchterne Gedanke,
in der Überbevölkerung Grund und Ursache der ökologischen Krise zu erkennen,
mit reflexhafter Gebärde als politische Ungehörigkeit kryptofaschistoiden
Charakters ausgeblendet und verworfen wird. Man ist folglich geneigt zu
beklagen, dass eine Politik der Lebensraumüberbesiedelung, ob jetzt über
Zuwanderung oder über Gebärlust, offenbar auch der vorherrschenden Grünströmung
im Land kein Widerspruch zu ihrem ansonsten doch so löblichen Programm der
Bewahrung von Schönheit und Natur zu sein scheint.
Es ist wie es ist, und es erweist sich somit wieder einmal: Als Misanthrop ist
man eine parteipolitisch unbehauste Kreatur; der Herde abhold, die es in all
ihren Erscheinungsformen doch immer nur zu Herdengedanken bringt und es bei
dieser in ewiger Wiederholung zelebrierten Kümmerlichkeit belässt.
Was sich bei rein ökonomischer Anschauungsweise allemal so hoffnungsfroh
anmutet, so dass sich Angehörige der politischen Elite dieses Landes kaum noch
bemüßigt fühlen ihren Unverstand zu kaschieren, erweist sich ökologisch
betrachtet als irregeleitetes Unterfangen, wenn nicht gar als grober Unfug. Mehr
Menschen mit mehr Reichtum bedeutet in der Tat die zunehmende Verstopfung aller
Lebens- und Verkehrsräume, bis zum permanenten Stau, was bei selbst vager
Vernunftorientierung doch keine Zielsetzung der erstrebenswerten Art sein dürfte.
Ökologische Güter, Naturressourcen, sind nicht beliebig vermehrbar, sondern
von Natur aus knapp und erschöpflich. Verdoppelt sich in einem Land die Bevölkerung,
so lässt sich deswegen nicht das besiedelte Territorium einfach auf die
doppelte Fläche erstrecken, so dass ein gleichermaßen gesundes wie verträgliches
Verhältnis der Menschenzahl zur Nutz- und Naturfläche mit einem Handgriff
wieder hergestellt wäre. Es wird die Gemeinschaft der gemeinsam ein Territorium
besiedelnden Staatsbürger im Endeffekt also ärmer, da nun, nimmt man es
mathematisch, jeder nur noch über halb so viel Grundfläche wie zuvor verfügt,
was sich in der Regel unter anderem über kräftig verteuerte Grundpreise
beziehungsweise über unerschwinglich gewordene Kosten des Wohnens bemerkbar
machen wird. Ein menschenwürdiges Wohnen zu noch leistbaren Preisen verkommt
solcherart zusehends zur Utopie, wie überhaupt jede Vorstellung einer besseren
Welt im Getümmel der Vielen und allzu Vielen jeglichen Wirklichkeitsbezugs
verlustig gehen muss. Im Gedränge einer Massenmenschheit lässt sich nämlich
nichts verbessern. Im Gedränge einer Massenmenschheit muss jeder Gedanke an die
Möglichkeit ihrer Erhöhung als makaberer Zynismus abgetan werden. Im Gedränge
wird jeder Appell genügsam. Man ist schon froh, wenn im Gedränge niemand zu
Tode getreten wird. Welch
unendliche Barbarei im Gedränge moderner Zeiten!
Der Mensch im überbesiedelten Raum wird demnach sukzessive in seinen Grundbedürfnissen
beschnitten, in seinen grundrechtlichen Ansprüchen entrechtet und aller
Hoffnung auf ein vornehmeres Dasein beraubt. Er verarmt und vermüllt seine
Existenzgrundlagen, sowohl geistig als auch materiell. Bestände an Naturschätzen,
die einem kleinen Volk noch zum Wohlstand gereichen, sind bei doppelter Kopfzahl
nur noch ein dürftiger Quell und rasch erschöpft. Stattdessen quellen Müllberge
über und die Qualität von Wasser und Luft unterliegt einer verstärkten
Verschmutzung durch die hohe Zahl. Die Kriminalitätsdichte steigt mit der Bevölkerungszunahme
an und Aggressionen potenzieren sich, wenn gleichsam einer auf dem anderen
pickt. Ähnelt der Mensch doch zunehmend einem Vieh in Bodenhaltung; dicht gedrängt,
wie in industrieller Zucht von Geflügelkadavern immer noch üblich. Auch
Tierrechte geraten zwangsläufig unter die Räder, an Orten, wo viele Menschen,
bei gleichzeitig verknapptem Lebensraum, versorgt werden müssen. Wie sollte es
schon anders sein, denn die Gefräßigkeit der Masse ist fürchterlich und kennt
keine Moral. Und dies alles nur beispielhaft angemerkt, denn die mit dem Bevölkerungswachstum
einhergehende Verelendung des Menschen spottet in ihrer umfassenden Dimension
jeder Beschreibung und lässt sich gerade einmal noch in schwärzesten Fantasien
skizzieren. Wo sich Menschen drängeln und zur dunkeln Masse verdichten,
verwandelt sich das Dasein in ein Tollhaus.
Lebensfeindlich nenne man deswegen eine an Zahlenwerten ausgerichtete Politik
stetigen Wachstums, denn sie benimmt dem Leben, unter dem Deckmantel der
Wohlstandssicherung, seine Chance auf Entfaltung, verarmt den Menschen materiell
wie seelisch und beraubt die Welt ihres Reichtums an Schönheit und
Artenvielfalt. Was bleibt ist eine ungebremst wuchernde Müllkultur, deren
Hauptbeschäftigung es ist, die Werte dieser Erde zu verschwenden und welche ihr
schändliches Tun in hektischem Tempo mit dröhnendem Gelärm vollzieht.
Demographisches Wachstum als Selbstzweck ökonomischer Unbeherrschtheit im
Dienste eines ewig ungesättigten Wohlstandsdiktats ist eine Bewegung ohne wünschbares
Ziel; ein sinnentleertes Fortschreiten in eine Lebenswelt, wo es sich nicht mehr
lohnt geboren worden zu sein.
So denn enthalte man sich aus Verantwortung um die Schöpfung seines blindwütig
drängenden Instinkts nach genetischer Unsterblichkeit und misstraue ebenso dem
Scheuklappenvokabular einer rein am ökonomischen Erfolg orientierten
Wachstumspolitik, die sich zuweilen mit völkischen Bestrebungen des Erhalts von
Stammesmacht wie auch mit der Romantik neuer Mütterlichkeit vermengt. Nicht Bevölkerung,
sondern sukzessive Entvölkerung müsste vordringliches Ziel und Anliegen einer
zukunftsweisenden Politik sein. Der Ziffernkult der großen Zahl ist kein Wert
an sich, geeignet der realen Kreatürlichkeit in all ihren Ausdrucksweisen
dienlich zu sein. Wer aber im Vollbesitz seiner Überzeugungen meint, die
Gattung Mensch möge im stetigen Wachstum alles überwuchern, um ihre Zukunft zu
sichern, der argumentiert, ob wissentlich oder unwissentlich, nicht einmal
humanistisch, da diese Redensart lediglich den schlussendlichen Untergang der
vorgeblich zu bewahrenden Sache betreibt. Bis zum Knock-out.
(Misanthrop; September 2003)
Buchempfehlung:
Fritz Reheis:
"Entschleunigung"
Permanentes Wachstum und Beschleunigung - das Selbstzerstörungspotenzial
des Kapitalismus
Systeme, die auf permanentem Wachstum und Beschleunigung basieren,
kollabieren, wenn sie sich über bestimmte Grenzen hinaus entwickeln. Immer mehr
Menschen spüren, wie natürliche Rhythmen verloren gehen, wie ihr Körper und
ihre Psyche, wie Partnerschaften, Familien und soziale Netze unter Stress
stehen. Beschleunigungsfallen mit wachsendem Zerstörungspotenzial tun sich auf.
Die Angriffe auf das World Trade Center und die Massenmorde an den Schulen in
Erfurt oder Columbine werden vom Autor als Attacken auf Symbole der inhumanen
Chancenverteilung in unserer Turbo-Welt charakterisiert.
Die zentrale Frage lautet: Wie kommt es, dass wir scheinbar immer mehr, immer
schneller und effizienter produzieren müssen? Welche diabolische Erfindung hat
uns den Wachstumszwang beschert? Reheis antwortet: Es ist der freie Markt und im
Besonderen die Qualität des zinsgetriebenen Geldes. Die Logik dieses Geldes
bzw. das Wachstum des
Kapitals treibt das Hamsterrad an und programmiert den Turbokapitalismus.
Sein Wesen ist die immer schnellere Produktion um der Produktion willen. Kapital
auf der Suche nach höchstmöglicher Rendite ist somit der Transmissionsriemen für
Beschleunigung. Um dem Hamsterrad zu entkommen, zeigt Fritz Reheis
"kleine", persönliche Ausstiege auf, vom Sabbatical bis zur bewussten
Überprüfung der Lebensbereiche, in denen wir uns besonders unter Druck fühlen.
Wer an die Wurzel des Problems gehen will, muss sich allerdings nach
Synergiepartnern umsehen, nach Menschen und Netzwerken mit dem gleichen
Problembewusstsein; denn die entfesselte Geldlogik, die Produktion um der
Produktion willen, ist nur gemeinsam zu bezwingen.
Fritz Reheis, Jahrgang 1949, studierte Deutsch, Geschichte, Sozialkunde, Pädagogik
und Philosophie. Er promovierte in Soziologie. Seit 1983 unterrichtet er als
Gymnasiallehrer in Neustadt bei Coburg. Zusätzlich ist er seit zwölf Jahren
nebenamtlich als Lehrbeauftragter für Politik, Zeitgeschichte, Soziologie und Pädagogik
an mehreren Hochschulen tätig.
Riemann, 2003. 320 Seiten.
ISBN 3-570-50049-7.
ca. EUR 18,-. Buch
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