Der Misanthrop No. 12: "Die These
vom Wolfsmenschen"
Eine Handlungsperspektive zur
Resozialisierung des Menschengeschlechts
Ist der Mensch also
dem Menschen ein Wolf? „Homo homini lupus“ – „Der Mensch ist dem Menschen ein
Wolf“, so mutmaßt schon Thomas Hobbes (1588-1679) unter dem Eindruck kriegerischer
Zeitumstände in seiner pessimistischen Menschenkunde, wenn auch mit einem für
den Menschen und dem Wolf wenig schmeichelhaften Bedeutungsgehalt (These vom naturgegebenen
permanenten Kriegszustand aller gegen alle), der nicht unbedingt für ein gediegenes
Verständnis vom tatsächlich friedlich geordneten Leben im Rudel zeugt und den
Wolf ebenso unbegründet wie fahrlässig in abwertender Weise zur Ausgeburt des
Bösen stilisiert. Zur Rechtfertigung Hobbes’ sind allein elendige Zeitumstände
anzuführen, die Mensch und Tier im Kampf um das nackte Überleben von der bestialischsten
Seite zeigten. Denn nachdem darbendes Menschenvolk die Landstriche leer gejagt
hatte, taten sich hungrige Wölfe - mangels Beutetieren - in blanker Not an von
ihnen ausgegrabenen oder unbestattet herumliegenden Menschenleichen gütlich, was
ihnen den abscheulichen Ruf von Menschenfressern einbrachte.
Jüngste
Erkenntnisse befinden, dass sich der Neuzeitmensch offenbar immer schon in Gesellschaft
von mehr oder weniger geselligen Wölfen bewegte; hingegen der an den Wirklichkeitsbedingungen
seiner Zeit gescheiterte Neandertaler ohne Hund lebte, was möglicherweise entscheidend
für seinen letztendlichen Untergang war. Es setzte sich im Gerangel um öder werdende
Lebensräume schlussendlich jene Menschenart durch, die mit den Verhaltenserwartungen
des Wolfes übereinstimmte, sich kooperativ zu ihm verhielt und Bereitschaft zu
einem die Artgrenzen übergreifenden Prozess co-evolutionärer Anpassung an allgemein
verschlechterte Umweltbedingungen bekundete. Der Neuzeitmensch ließ sich vom Wolf
zum Wolfsmenschen erziehen und errang solcherart im Laufe der Zeit eine hegemoniale
Herrschaft über beinahe sämtliche irdische Lebenssphären.
Verhaltensforscher
betonen heute – angesichts des vorhin gesagten: wenig überraschend - die positiven
Effekte einer Kindererziehung mit Hund, denn nach wie vor erzieht der Hund den
Menschen zu sozialer Reife, wenn man ihn nur so tun lässt. Und so gilt dann auch:
Je mehr eine Gesellschaft am Hund orientiert ist, desto günstiger stellt sich
ihre Sozialbilanz dar. Zur Demonstration dieser – übrigens durchaus schon fundierten
- Behauptung sei ein von Soziologen erhobenes Faktum aus der erforschten Sozialsphäre
angeführt: Mit Hunden aufgewachsene Chefs sind – statistisch betrachtet - bei
ihren Mitarbeitern auffällig beliebter, als hundelos aufgewachsene Vorgesetzte.
Im Umgang mit Hunden lernt man eben am Besten wie man sich als Alphatier (oder
einfach nur als Wolfsmensch), in einer ebenso hierarchisch geordneten wie solidarisch
geregelten Gruppe von Wolfsmenschen, richtig verhält.
Der
Hund erzieht den Menschen artgerecht, deshalb, um die Sozialisierung eines Kindes
optimal zu gewährleisten, es nach Meinung sachverständiger Personen angeraten
ist, zur Geburt eines Kindes auch einen Welpen anzuschaffen. Und die Verhundung
menschlicher Lebensverhältnisse sei nicht zuletzt deswegen im öffentlichen Interesse,
weil es gelte, die verheerenden Auswirkungen sozialer Inkompetenz irgendwann doch
noch in den Griff zu bekommen.
Aus persönlicher Erfahrung
kann ich die segensreichen Auswirkungen der Hundehaltung auf das menschliche Sozialverhalten
nur bestätigen. Der Umgang mit dem Hund prägt die Person des Menschen in jeder
Hinsicht; auch in moralischer Hinsicht. Die Moral des Hundes findet sich zwar
in kein „Heiliges Buch“ übertragen, weil kein Gott verschwendete je sein Wort
dazu, und doch scheint sie der von höchster und höchsten Stellen legitimierten
Menschenmoral überlegen, denn ihre Praxis kennt weder ein - über Verhaltensprinzipien
vermitteltes - Gebot verpflichtender Nächstenliebe noch lässt sie sich zu dauerhaften
Hass- oder Rachegefühlen hinreißen. Der sittliche Charakter des Hundes ist in
allen seinen Äußerungen ehrlich und direkt, niemals hinterfotzig, selbstgerecht
und schon gar nicht nachtragend. Ist er doch Ausdruck einer Herrenmoral des Hier
und Jetzt. Sein Wesen ist von natürlichem Adel, erhaben über jedes schändliche
Getue, wie dummes Gezänk und üble Nachrede, dem der enthundete Mensch so eifrig
frönt. Mit untrüglicher Sicherheit erwittert er heimliche Noblessen genauso wie
versteckte Niedrigkeiten und lässt sich dabei nicht von blendenden Umgangsformen
über die Realität tugendloser Gesittung hinwegtäuschen. Dem gelegentlichen Streit
mit Artgenossen folgt unmittelbar darauf das Spiel und der Gegner von zuerst ist
auch schon wieder willkommener Gespiel in freudvoller Tollerei. Ist die Moral
des Hundes doch eine Moral der Freude. Der Krieg zwischen den Geschlechtern ist
Vierbeinern fremd; man schätzt und respektiert einander. Handfestere Konflikte,
ernsthaftere Rauferein, gibt es – der leidigen Rangordnung wegen – nur unter Geschlechtsgenossen
und Geschlechtsgenossinnen, kaum jedoch zwischen Angehörigen des weiblichen und
des männlichen Geschlechts. Zugegebenermaßen problematisch ist aus menschlicher
Sicht das Verhalten von wölfischen Rudelverbänden gegenüber Außenseitern (diese
werden raus geekelt) und gegenüber Andersartigen (tierischer Rassismus), doch
hat dieser auf Selbsterhaltung gerichtete Rigorismus seinen höheren Zweck für
die Arterhaltung unter gnadenlosen Lebensumständen. Auch die sexuelle Dominanz
des Alphapaares ist aus den Existenzbedingungen eines Rudels verständlich und
sollte unsere hypersexualisierte Weltbetrachtungsweise nicht über die Maßen befremden.
Mehr als einen Wurf bringt kein Rudel durch, denn im Unterschied zum Menschen
lebt der Wolf in keiner Überflussgesellschaft; seine Lebensmittel sind knapp bemessen.
Natürlich lassen sich Gesetzmäßigkeiten des Rudellebens wilder
Wölfe wie ebenso unbeschwerte Verhaltensmuster
verspielter Großstadthunde nicht einfach – vielleicht gar noch in idealisierter
Fassung - einer hochkomplexen menschlichen Gesellschaftsordnung zugrunde legen;
dies anzunehmen wäre romantisch naiv, bzw. in der konkreten Umsetzung das eine
Mal die politische Praxis des Sozialdarwinismus (unter freilich völlig verkehrten
Vorzeichen) und das andere Mal eine Art von Hedonismus, dem unsere gegenwärtige
Spaßgesellschaft zuweilen sowieso gefährlich nahe kommt. Auf moderne Gesellschaftsverhältnisse
bezogene Soziologien lassen sich über biologische Denkansätze heute kaum mehr
begründen, und schon gar nicht aus der Sichtweise des Tieres ethisch reflektieren,
doch im Kleinen kann der einzelne Mensch für sich aus dem Zusammensein mit Hunden
mehr moralische Bildung gewinnen, als es ausgefeilte Gewissensbildungsprogramme
ihm jemals ermöglichen könnten. Man möge also nicht nur dem sonntäglichen Messgottesdienst
beiwohnen, sondern ebenso regelmäßig – mit eigenem Hund natürlich tagtäglich –
die Hundezone zur Bildung und Festigung moralischer Kompetenzen aufsuchen.
Der theoretische wie praktische Umgang mit dem Hund bildet und
festigt das sittliche Vermögen und Verhaltenspotenzial des Menschen, vorausgesetzt
man ist bereit und bemüht, den Hund auch verstehen zu wollen, was vor allem eine
intensive, aber durchaus auch zeitaufwändige (!) und hingebungsvolle Befassung
mit den Eigenheiten dieses Tieres mit einschließt. Eine Herausforderung, die für
uns Wolfsmenschen, mit etwas gutem Willen, kein unmögliches Unterfangen sein sollte.
Lassen wir also ein wenig unsere lächerliche Zentriertheit auf die eingebildete
Überlegenheiten des Menschen über das Tier beiseite, legen wir unser eitel anthropozentrisches
Gehaben ab und versuchen wir jenes tierische Wesen als sittliches Vorbild zu verstehen,
von dem man für gewöhnlich abschätzig sagt: „Das ist ja nur der Hund.“ Ein Hundewesen,
das - seiner besonderen Beschaffenheit wegen - uns Menschen der nächste Verwandte
ist; möge uns auch der Menschenaffe genetisch näher stehen. Der Hund ist mehr
als nur ein unnützer Mitbewohner im Großstadtdschungel, er ist viel mehr als die
Ursache lästiger Trümmerln auf den Gehsteigen, die selbstverständlich von sozial
verträglichen Hundehaltern umgehend beseitigt werden, - nein, der Hund ist eine
Chance für die Herausbildung einer wahrlich humanistischen Lebenspraxis, die sich
auf der Ebene individueller Gesittung an des Vierbeiners liebenswürdigen Wesenseigenschaften
orientiert und sich um die Rückgewinnung ihrer arttypisch hündischen Wesenhaftigkeit
bemüht. Eine Wesenhaftigkeit, der sich das Menschentier im Zuge des Zivilisationsprozesses
sukzessive entfremdet hat.
Der Mensch wird zum Menschen
erst im verständigen Zusammenleben mit Tieren, deren wesensverwandtes Geschöpf
er immer schon war; mehr als man bisher ahnte. Lernen wir Wolfs-Mensch sein; lernen wir den Hund verstehen.
(Misanthrop; Januar
2003)