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Eben auf dem Platz angekommen, betrachte ich den Himmel, um Witterungsschau zu halten, und bemerke, daß der ganze Horizont mit einer grieselig-gelben Schicht überzogen ist. Aber solche Reflexe trifft man ja öfters nach dem Regen, wenn die Sonne gegen Abend im Westen noch einmal herauskommt. Ich geh' also weiter. In der Mitte des Platzes angekommen höre ich einige raschelnde, springende, abplatzende Punkte auf meinen Stiefeln, als wenn's kieselte; gleichzeitig hör' ich etwas Ähnliches auf meinem Filzhut herumtrommeln. Ich schau' hinauf: da ist diese ganze gelbe Schicht, von der ich eben sprach, uns bis auf Häuserhöhe nachgerückt! Und wie und den Boden betrachte, sammeln sich kleine, gelbe, erbsengroße, grieselige, halbausgehöhlte Körner. In der ganzen Luft liegt ein Schwaden so brenzligen Gestankes, als wenn die Hölle ihre Läden geöffnet hätte, so daß ich und mehrere Passanten sofort die Schnupftücher zogen und hustend sich das Ding vom Leibe hielten. Jetzt noch ein Moment – und plötzlich stürzte dieser quittengelbe Körnerregen mit einem solchen Hagelschlag nieder, daß alle Leute mit einem gilfigen Schrei in die Häuser entwichen, und der große Platz mit einem Male leer war. Die tausende von Zinngeschirren, die den Häusern entlang aufgestellt waren, gaben, als wären sie mit Stimmgabeln geschlagen, einen einzigen, sehr hohen, langgedehnten, pfeifenden Ton, wie etwa das Pikkolo, von sich; als hätten sich eine Million Kanarienvögel abgesprochen, einen übermenschlich hohen Flageoletton durch gegenseitiges Ablösen eine Stunde hindurch auszuhalten. Dutzende von Menschen, die den naiven Gedanken gehabt hatten, einen Regenschirm aufzuspannen, kamen vollständig zerschlissen, mit nacktem Eisengestell und blutender Wange herübergestürzt, um in einem Haustor Schutz zu suchen. Ich selbst hatte mich unter eine sehr dicke Eiche geflüchtet, die an dem Beginn einer dicken Alle stand. Aber schneller, als ich dies niederschreiben kann, waren sämtliche Blätter und kleinere Zweige heruntergeschmettert, und lagen vor mir am Boden, während das gelbe Höllengezinsel mir die Hutkrämpe durchschlug, wie Salz in den Nacken pfiff, und selbst die abspringenden Körner mir noch, wie Schrote, das Gesicht verletzten. Jetzt riß ich auch aus und lief quer über die Straße, in das nächste Haus.

»Jessas Maria!« kam eben ein Frauenzimmer mit nacktem Armen und aufgeschürztem Rock schreiend vom hinteren Hof her. – »Die Welt geht unter! Unser Pfarrer hat's fei letzten Sonntag g'sagt, es passiert noch die Woch' was. Ihr Leut! Ihr Leut!« Dann schlug sie vor Entsetzen ihre bläulich-versporten Hände zusammen – sie war eine Wäscherin – und fügte in einem gezwungenen, breiten Hochdeutsch hinzu, als hätte sie's dem Pfarrer nachgesprochen: »Das Värdärben kommät über uns, und die Drangsal värnichtät uns!« – »Sie dumme Gans!« rief in diesem Moment ein älterer Herr, der am Mund blutete und vor Aufregung über das Geschehene selbst am ganzen Leib zitterte. »Tun Sie auch noch die Leut' konfus machen, und aus 'em Häusel bringen; wo eso schon e jeds halbert narrisch is. Gehen's 'nauf, Sie Heulmaierin, und legen's Ihne in Ihr Bett, wenn S' nix Besser's wissen!« – Ich schaute jetzt um mich: in der Tat standen da etwa zwei Dutzend Leute im Hausflur, alle mit bleichen Gesichtern, einige ihre blauen Flecken an den nackten Armen betrachtend, andere Bluttupfen abwischend, andere mit starren Augen und gelbleuchtender Gesichtshaut hinaus auf den Platz schauend, wo die schwefelgelben Schrote noch immer herabsausten. Der akustische Reflex von den Dächern klang geradezu unerhört, wie Kindergeschrei und Gänsequieksen. Drüben, auf der Westseite an der gegenüberliegenden Häuserreihe, sahen wir jetzt, wie an einigen Fenstern die Fenstersplitter herausgenommen und hinuntergeworfen auf die Straße wurden; wie andere Leute die Läden zuzumachen sich bemühten. Und überall kreidebleiche entsetzte Gesichter! – »Es scheint ein atmosphärischer Niederschlag zu sein,« sagte jetzt in unserem Hausflur ein Herr, der den besseren Ständen angehörte, »der, vielleicht meteorischer Natur, aufgelockert in hohen Regionen schwebte und durch eine plötzliche Kälteströmung kondensiert und niedergerissen wurde.« – »Es wird schon wieder heller!« meinte ein anderer, der ziemlich verwegen auf der Schwelle von Trottoir und Hauseingang stand, und dem sowieso schon eine Schloße die Nasenspitze blutig gerissen hatte. – Einige von den Weibsleuten schüttelten jetzt aus ihren Röcken und Ärmeln einige der seltsamen Körner, hoben sie auf und zeigten sie herum. Es waren erbsengroße, an einigen Stellen glänzende, an anderen matte, grieselige, ausgelöcherte, unregelmäßige Kügelchen, die sich im Umfang oft ums Doppelte übertrafen, und die ganz entschieden einen metallischen Charakter hatten. Sie waren auffallend schwer im Verhältnis zu ihrer Kleinheit; daher auch die aufgerissenen Wangen, durchlöcherten Hüte, glatt abgezogenen Regenschirme und entlaubten Bäume.

Indessen wanderten die Kügelchen von Hand zu Hand; sie waren nicht kalt, wie viele erwartet haben mochten, sondern leicht abgekühlt, laulicht; auffallend war, daß einzelne deutlich abgeplattet waren, was nur durch Aufschlagen entstanden sein konnte; das Metall mußte also sehr weich oder beim Herabfallen noch in lockerer Fügung gewesen sein. Man wog wiederum die Schrotchen, von denen einzelne wie Weckchen eingebogen waren, in der Hand, und dann schaute man sich gegenseitig an; jetzt nahm ein Herr sein Taschenmesser heraus und zerschnitt, nachdem er an dem kleinen Ding einigemal ausgerutscht war, mit einiger Mühe, aber doch quer durch eines der Körner, wobei die Masse sich ziemlich nachgiebig erwiesen hatte: eine glatte, glänzende, gleichmäßig feingekörnte Schnittfläche kam zutage. In diesem Moment hörte ich – ich hörte es nicht, aber ich fühlte es, ich wußte es –, schlug jedem von uns fast laut und vernehmlich das Herz. Jeder hatte nur einen Gedanken, nur ein Wort auf der Zunge. Aber keiner sprach es aus; keiner wollte diese Blamage auf sich nehmen, diesen horrenden Gedanken zu äußern, und jeder glotzte nur mit einer scheusäligen, weißäugigen Gier auf den Westen- oder Hemdknopf seines Gegenübers, um sich und seinen fürchterlichen Instinkt nicht zu verraten.

Jetzt kam aber etwas ganz Neues: draußen hatte das Gehagel merklich nachgelassen. Es war wirklich lichter geworden. Das Gekreisch von den Dächern wich einem milden Klirren. Über den Platz drangen einige weibliche Stimmen, in denen etwas Aufseufzendes, Erlösendes lag. – Währenddem schossen zwei Bäckerjungen in weißen Schürzen, hemdärmelig, jeder ein Holzschaff auf dem Kopfe, an unserer Haustür vorbei. Ich hörte, wie drei, vier, von den Schroten bollernd in ihren Zuber fielen. Sie hatten gut ihren Kopf schützen; denn dem einen, hatte ich bemerkt, war die Oberlippe ziemlich in der Mitte gespalten, und das Blut lief ihm ins Maul und herunter auf die Brust und auf die Schürze. Und einer von ihnen, hatte ich gerade noch gehört, hatte zum anderen gesagt: »Mei Lieber, desmal geht's uns an!« – Ich schaute zurück in den Hausflur: die Männer alle mit fieberhaften Augen und kurzatmigem Röcheln, hinten die Weibsleute, die Hände zwischen den Schurz gepreßt, wie Rehgeise, ängstlich und neugierig. – In diesem Augenblick hörte ich ein »He da!« Ein Herr neben mir hatte es gesagt. Ich folgte seinem Blick, der auf eine Stelle des großen Platzes zeigte. Jeder wollte nun sehen. Es entstand ein Gedränge. Wir öffneten das Tor, das nur halbflüglich offen war, nun ganz. Die Menge quoll heraus. Und nun erblickten wir drüben, am anderen Ende des Platzes, einfach etwas Unerhörtes. Beim Kaufmann Hasselbeck, einem Mann, den ich seit meiner Jugend kannte, und der allseits große Achtung genoß, kamen Hausmägde, Knechte, Lehrbuben, das ganze Hausgesinde mit Kesseln, Butten, Zubern, Kochtöpfen und anderen Tragmitteln aus dem Haus heraus, und schöpften mit beiden Händen das gelbe Zeug, das jetzt etwa zwei Zentimeter dick den Boden bedeckte, in ihre Geschirre; dabei entstand ein fürchterliches, gellendes Geschrei; einige schienen, von nachfolgenden Metallschloßen getroffen, verwundet zu Boden zu stürzen, und blieben, die Hände über den Kopf gelegt, eine Zeitlang wie betäubt sitzen. Herr Hasselbeck, in seiner kleinen gestickten Mütze, stand unter dem Hauseingang und schrie und kommandierte mit heftigen Gesten auf den Platz hinaus. Ich konnte aber nichts verstehen, so schrecklich war der Lärm; ich sah nur seinen Mund wie einen Schlauch sich auf- und zumachen. Diese Szene hatte kaum so lange gedauert, wie man bis hundert zählen kann, und war, wie ich vermute, vom ganzen Platz aus gesehen worden. Plötzlich öffneten sich fast sämtliche Haustüren, und, mit einer Mischung von Lauten, die ich nicht beschreiben kann, halb Pfeifen, halb Jauchzen, kamen die Menschen wie Hyänen heraus und machten sich über die gelben Haufen. Die einen hatten zwei Hüte auf, die anderen ein Sofakissen umgebunden, die dritten hatten sich mit Handschuhen und Pelzkappen bewaffnet, wieder andere einen Schal umgehüllt, die Weibsleute einfach den obersten Rock bis über den Kopf gezogen. Und nun ganfte und grabste alles, was nur Hände hatte, in die Taschen, in die Schürzen, in Nähkörbchen, in Tischschubladen. Einige waren so ungeschickt, irdene Schüsseln zu nehmen; wenn diese von einer Schloße getroffen waren, platzten sie auseinander. Ein Gilfen, ein Schreien drang über den Platz, unbeschreiblich. Es war nicht nur Aufregung. Ein »Ai!« – ein »Ui!« – ein »Aitsch!« – im höchsten Diskant über den ganzen Platz gezetert, zeigte, daß es Schmerz war: die Leute wurden trotz der Umhüllung von den Schloßen verletzt. Wir selbst waren durch einen Sturm der schreienden Hausbewohner von hintenher aus unserem Tor gejagt worden, und jeder schützte sich nun, wie er konnte. Ich lief die Südseite der Häuser entlang, drückte den Hut ins Gesicht und die Hände in die Taschen. Übrigens fielen die Körner jetzt immer seltener. Hinten im Westen brach die Sonne durch; und wie schnurgerade Blitze sausten die goldenen Körner durch die Luft. Auf dem Boden alles gelb und glitzernd. Man meinte, das Zeug müsse schmelzen. Aber es schmolz nicht. Die Körner wurden härter und kälter. Und die Sohlen schmerzten beim Gehen.

Ja, jetzt wußte freilich jeder, woran er war. Und nur mitleidig hörte man eine Frau baarhäuptig über den Platz eilen, die fortwährend, halb schluchzend wimmerte: »Ihr Leut', ihr Leut', was soll das wer'n, wenn das Geld unter die Leut' kommt!« Sie hatte zwei Kinder auf den Armen, rechts und links eines, beide vom übergestülpten Rock zugedeckt; sie selbst war baarhäuptig, und einige der Schrote hatten ihr buchstäblich die Kopfhaut gespalten. sie schien eine Arbeitsfrau, die bei diesem elementaren Ereignis, welches ihr das Weltende dünken mußten, nichts Wichtigeres tun zu müssen glaubte, als ihre Kleinen nach Haus zu bringen, sie hatte keine Zeit, selbst etwas von dem Gold aufzulesen.
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(aus "Der Goldregen" von Oscar Panizza)