(...) Annette
trat ans Fenster und wartete, bis Gregor aus dem Haus kam. Mit beschwingten
Schritten ging er auf den Wagen zu, stieg ein und steckte den Zündschlüssel
an. Der Motor fing an zu brummen, und Annette sah einen flüchtigen Augenblick
lang die vertrauten Hände auf dem Lenkrad liegen. Dann bog der Wagen in die
Allee ein und verschwand.
Gregor hatte nicht einmal zurückgeblickt, nicht aus Unfreundlichkeit, sondern
weil er ganz und gar mit der Aufgabe beschäftigt war, seinen Wagen zu starten,
außerdem wäre ihm nie eingefallen, Annette könne dort oben am Fenster stehen
und ihm nachsehen. "Leg dich doch noch einmal hin", hatte er gesagt,
"du siehst nicht gut aus" und "du hast ja heute Zeit". Ja,
sie hatte Zeit, ihr freier Tag war heute, ein ganzer Tag ohne
Bibliothek,
aber auch ohne Gregor.
Sie fühlte sich müde und schwindlig, wie immer in den letzten Monaten; es war
vielleicht wirklich besser, noch einmal zu versuchen einzuschlafen.
Auf dem Tisch stand die Schale, aus der Gregor eben noch getrunken hatte, ein
Zigarettenstummel lag zerdrückt im Aschenbecher. Annette nahm die Schale in die
Hand und setzte sie an den Mund, genau an der Stelle,
an der Gregor getrunken hatte. Der kleine Kaffeerest schmeckte bitter und war
schon ganz kalt. Annette lächelte über sich selbst bei dem Gedanken, wie sehr
sie es immer verabscheut hatte, aus einer fremden Schale zu trinken oder einen
schon benützten Löffel zu verwenden. Ich kenne mich selbst nicht wieder,
dachte sie, ich bin einfach nicht mehr der Mensch, der ich einmal war.
Sie trug das Geschirr in die Küche, spülte es ab und ging dann ins
Schlafzimmer. Die Vorhänge waren über den offenen Fenstern zugezogen, und sie
fröstelte. Sie legte den Morgenrock ab und kroch in Gregors Bett, das noch ein
wenig Wärme seines großen Körpers aufbewahrt hatte.
Das Gesicht in die Mulde des Kissens gedrückt, streckte sie sich lang aus und
schloss die Augen.
Warum war Gregor nicht bei ihr? Niemals war er so bei ihr, wie sie es wünschte.
Er nahm sie in die Arme, und sie war betäubt und unfähig zu denken und zu fühlen,
und später war er völlig wach, klar und sehr weit weg von ihr. Er konnte
einfach nicht neben ihr liegen, ihre Hand halten und nichts als zärtlich sein.
Was ihr blieb, war immer nur der Abdruck seines Körpers im Bett, ein Hauch
seiner Wärme und sein besonderer Duft auf dem Kissen.
Ja, eigentlich war seine Gegenwart nie intensiver als kurz nach seinem Weggehen.
Und auch das blieb ihr nur selten, da sie ja auch nicht zu Hause bleiben konnte.
Annette streichelte den Polster und schämte sich. Sie versuchte niemals, Gregor
zu Zärtlichkeiten zu bewegen, denn sie spürte deutlich, dass sie für ihn
nicht mehr bedeuteten als die Einleitung, die eine Frau eben brauchte, um in
Stimmung zu kommen, oder die unvermeidliche Rücksichtnahme, die man ihr
schuldete, wenn man sie besessen hatte. Und das gab ihr ein hässliches Gefühl
und machte sie unsicher. Selbst Gregor, so erfahren er in Liebesdingen war,
konnte dieses leise Unbehagen in ihr nicht ersticken. Es war nicht seine Schuld,
dass er ein Mann war, ebensowenig aber war es ihre Schuld, dass sie wie eine
Frau empfand. Es war nur ein wenig störend und traurig, und sie konnte nichts
tun, als es hinnehmen, wie sie alles hinnahm, was von Gregor kam. Wahrscheinlich
wäre es ihr sogar verdächtig und unnatürlich erschienen, hätte er sich
anders benommen. Sie musste sich nur davor hüten, in ihren Träumen mit einem
Gregor zu leben, den es nicht gab und nicht geben konnte, der einfach ein Unding
war, denn was anderes konnte ein Mann schon sein, der dem Hirn einer Frau
entsprungen war.
Auch jede Frau in den von Männern geschriebenen Romanen war ein Unding, und das
hatte sie beim Lesen noch immer geärgert und verstimmt; derartige Romane waren
anmaßend und unwahr. Die einzige Möglichkeit war wohl, das Verhalten eines
Menschen aufzuzeichnen. So und so benimmt er sich in einer gewissen Situation,
ich weiß nicht warum und kann es nur vermuten, und meine Vermutungen können
ebensogut falsch wie richtig sein. Ein Romanautor sollte nichts anderes sein als
ein Zuschauer, der den Menschen und Vorgängen in seinem Buch Zeit lässt, sich
behutsam zu entwickeln.
Selbst der Abdruck von Gregors Lippen
auf der Kaffeeschale war wirklicher als der Mann, den sie versucht war, in ihrer
Fantasie entstehen zu lassen.
Annette fand, das sei kein gutes Einschlafthema, und sagte sich: Hör auf damit,
hör auf mit diesem ununterbrochenen Nachdenken, das kann ja kein Mensch auf die
Dauer aushalten, und es macht dich nur unruhig und verwirrt. Es war nichts als
die schlechte Gewohnheit aller einsamen Menschen, die sie immer noch einsamer
macht und immer noch unfähiger, in der Wirklichkeit zu leben.
Sie drehte sich auf den Rücken und starrte zur Decke. In diesem Augenblick spürte
sie zum erstenmal die schwachen und doch ganz deutlichen Regungen ihres Kindes.
Ihr Herz fing an verrückt zu pochen - dieses Kind bewegte sich und begann wirklich
zu werden, es war jetzt nicht mehr nur die Ursache für die dauernde Übelkeit,
die sie seit Monaten quälte. Plötzlich hatte die Übelkeit einen Sinn bekommen,
es lohnte sich, schwindlig und
krank
zu sein für ein Geschöpf, das sich wirklich in ihr bewegte und das sie nun täglich
heftiger spüren würde.
Sie lachte leise und überwältigt, und Mitleid überfiel sie mit Gregor, der
das nicht erleben konnte. Er musste unbedingt die Hand auf ihren Leib legen, um
wenigstens eine Ahnung davon zu bekommen. Sehr bald, in wenigen Wochen würden
die Bewegungen so stark sein, dass man sie auch von außen spüren konnte. Es musste
ihn freuen, alles, was lebendig war und sich bewegte, freute ihn ja.
Dann setzten die Gedanken wieder ein, und Annette stellte fest, dass sie sich
wie eine ganz normale Frau benahm, und diese Tatsache beruhigte sie so sehr, dass
sie aufhörte zu zittern und, die Hand auf den Leib gedrückt, übergangslos
einschlief.
Als sie erwachte, war sie ein wenig verwirrt. Im Traum war sie in ihrer alten
Wohnung gewesen, mit Alexander, der immerfort Fragen an sie stellte, die sie
nicht beantworten konnte. "Und ich sag dir jetzt zum letzten Mal",
hatte sie gerufen, "ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht."
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, wo sie eigentlich war, in Gregors
Wohnung und in Gregors Bett, mit einem langen Tag vor sich, den sie hinter sich
bringen musste und vor dem ihr graute. (...)
(Aus "Die Tapetentür" von Marlen Haushofer)