Leseprobe:
Olga ist allein.
Sie kniet sich an den Rand des Wassers und betrachtet darin ihr
Spiegelbild. In einem
Spiegel, der sich leicht bewegt wie jetzt die
Oberfläche der Dechantlacke, als gerade jetzt ein mildes Lüftchen darüber hinwegstreicht,
in einem Spiegel, der also nicht starr die unansehnliche angebliche Wahrheit
wiedergibt, in einem solchen Spiegel ist Olga Prochaskas Gesicht noch immer
sehr schön, ein rundes, barockes Puppengesicht, in dem nur die Kleinheit der
Augen, die herabgezogenen Winkel des Mündchens unangenehme Kontrapunkte setzen.
Aber auf einmal ... Da ist noch ein anderes Gesicht, sieht
Olga. In ihrem eigenen Spiegelbild, oder darunter, unter
Wasser.
Ein Gesicht mit grünen, leuchtenden Augen, aus denen grüner
Balsam auch in Olgas Gedanken dringt.
Wir Frauen sollten uns keine Wohltat schuldig bleiben,
nicht wahr, mein kleiner, nackter Schatz?
Ja, macht es erlöst in Olga Prochaskas Seele.
Ich liebe dich.
Ich liebe dich auch, denkt Olga.
Niemand ist an der kleinen Bucht zugegen, also kann auch niemand
sehen, wie plötzlich der Kopf der am Wasser knienden Schweißersgattin von gepflegten,
wunderschönen, aber unsichtbaren Händen in das seichte Wasser gezogen wird,
eines nahezu endlosen
Kusses wegen. Olgas Gesicht verschwindet
darin. Ihre dunkelbraunen Haare verschwimmen auf der Wasseroberfläche zu einer
Blüte.
Der Kopf bleibt sechs oder sieben Minuten unter Wasser. Olga
sollte längst erstickt sein. Aber weil niemand an der Bucht ist, kann auch niemand
staunen, als sie ihn dann doch, wenn auch langsam, wieder aus der Dechantlacke
hebt.
Das Unerwartete ist durch Olgas kleinen Puppenmund in ihr
Innerstes gedrungen. Es hat von innen die arme Frau gestreichelt, an den Brüsten
und in der Mitte, es hat von innen seine grüne Kraft der geplagten Schwester
aus Polen gereicht.
(Aus Ernst Moldens Roman: "Austreiben"; Deuticke)