Leseprobe
Ich bin neugierig, sage ich.
Sehen Sie, das ist gut.
Frau Alice macht die Schublade ihres winzigen Bürotisches auf
und holt ein Papierbriefchen hervor, dem sie eine Handvoll
Kräuter entnimmt, um sie auf die schwach glühende
Feuerstelle neben dem Tisch zu werfen. Ein süßlicher
Geruch von frischem Marihuana macht sich breit.
Leider nur ein Bauernknaster, sagt Frau Alice. Das Haschisch der
österreichischen Landbevölkerung. Ich hätte
gern etwas Besseres. Sagt Ihnen der Alte vom Berge etwas?
Eine Art islamischer Raubritter, sage ich. Ich denke an einen alten
Film mit Horst Buchholz. Er spielt darin Marco Polo, der vom Alten vom
Berge gefangengenommen wird.
Genau der, sagt Frau Alice. Er hat seine Krieger nach gewonnenen
Schlachten mit bestem indischen Hasch gefüttert und sie dann
in sein Sklavinnenlager geführt. Die Herren waren bald so
bedient, dass sie den Ort für das
Paradies und ihren Chef
für Gottes neuen Propheten hielten. Ich will damit sagen, dass
ich gern bessere
Drogen für meine Helden hätte.
Sie stochert in der Feuerstelle. Eine neue Rauchwolke steigt auf. Die
Schwaden machen mich immer benommener.
Hören Sie sich kurz die Regeln an, die hier gelten, sagt sie.
Der Bezirk, den Sie vor sich sehen, besteht aus acht vergrabenen
Flachzelten, größer als jene, die Sie kennen. Ein
Dutzend Menschen hat darin Platz. Es steht Ihnen frei, sich ein Zelt zu
wählen, Sie können auch ein leeres nehmen, alle sind
von meinen Mitarbeitern mit heißen Steinen im Eingangsbereich
aufgewärmt.
Sie können sich an einem der
Feste beteiligen, die zu dieser
Stunde schon gefeiert werden, man wird Sie nur selten abweisen. Sie
werden sich denken können, dass unsere Feste vornehmlich
sexueller Natur sind, wir sind eine gemischtgeschlechtliche Armee,
deren Mitglieder wenig Zeit für Spaß haben.
Wie sind Sie denn hierher gekommen? frage ich Frau Alice.
Nach Vorgeschichten zu fragen, kann bei den Unsterblichen ein Sakrileg
sein. Wenigstens habe ich meine Neugier schon gestanden.
Aber Frau Alice ist gar nicht böse. Ich war, sagt sie,
Geschäftsführerin in einem Stundenhotel: Meine
liebsten Stammgäste waren eben Verschwörer. Als sie
weggingen, bin ich ihnen gefolgt. Und jetzt versuche ich, meine
Erfahrungen den Unsterblichen zugute kommen zu lassen. Ich habe schon
gehört, dass Sie Reporter waren. Aber ich war immer schon lieb
zu Schreiberlingen.
Ich grinse. Das qualmende Gras nimmt Platz in meinem Hirn.
Hinter mir, sagt Frau Alice, finden Sie ein frisches Hemd. Ihre Sachen
lassen Sie einfach bei mir. Es kommt nichts weg.
Ich trete in den dunklen, hinteren Teil des Schuppens. Das Hemd, das
ich finde, ist sauber und sogar gebügelt. Ich ziehe mich um
und lege meine Sachen zu einem Bündel zusammen.
Jetzt gehen Sie, sagt Frau Alice. Feiern Sie, lieben Sie, erholen Sie
sich, spielen Sie mit oder nicht. Stellen Sie in den Zelten vielleicht
weniger Fragen.
Ein entferntes Lächeln spielt um ihren Mund. Sie atmet den
Rauch ein, der hinter ihr aufsteigt.
Ich trete an Frau Alice vorbei auf die sumpfige Wiese. Die Stille des
Hauptlagers Ost ist hier noch drückender.
Anfangs glaube ich, dass ich auf Körperlichkeit gar keine Lust
habe. Ich genieße eine Zeitlang die Stimmung dieses
nächtlichen Gartens, bis ich bemerke, dass ich direkt vor dem
ersten Zelt stehe. Ein Ameisenhaufen wie der, in dem wir schlafen, nur
viel größer. Ich hebe das Tierfell auf, das die Luke
schließt, ziehe eine weitere Haut zur Seite und versuche, ins
Innere zu sehen. Aber ich weiche gleich zurück, weil der
dichte, unverschämte Geruch von da drinnen mit beinahe den
Atem nimmt.
Es ist der Geruch vieler Menschen, die das zu tun scheinen, wozu sie
offenbar lange nicht mehr gekommen sind.
Jetzt erscheint ein blasses, angespanntes Gesicht am Eingang.
Kommst du jetzt herein oder nicht?
Das Gesicht hat Narben. Sollen wir erfrieren? fragt es leise. Steht er
dir nicht?
Ich schlage die Felle rasch zurück und und ziehe mich
gleichermaßen erregt wie beschämt wieder in den
Garten zurück.
Aber ich trage nur das lange weiße Hemd. Eine kleine Weile
halte ich es draußen aus, aber dann ist die Kälte
dieser Regennacht an der Grenze zum Hochgebirge doch zu streng und ich
öffne die Luke eines weiteren Zeltes. Ich habe Glück.
Es ist leer. Ich wärme mich in der Nähe der
heißen Steine. Ich finde einen Krug mit frischem Quellwasser
in der Mitte des Zeltes.
Ich trinke einen Schluck, dann trete ich an die Luke zurück,
die Wolken
rasen über den Himmel, manchmal blinkt ein Stern hervor, kein
Niederschlag fällt.
Da kommt eine Hand aus der warmen Dunkelheit hinter mir und zieht die
Decke vor die Luke. Jetzt ist alles finster. Ich ziehe die Luft ein und
mache mich auf Zudringlichkeiten gefasst, der Geruch neben mir ist der
einer Frau, ein sauberer, gewaschener, keiner der mich berauscht, aber
auch keiner, der mir den Atem nimmt.
Einen Augenblick frage ich mich, wer da hinter mir steht und wie eine
Frau riecht, wer hier auf mich oder einfach auf irgend jemanden
gewartet hat, einen Augenblick lang erfüllt mich
außerdem der Gedanke an die Person, die heute angeblich mit
diesem grünen Bus ins Lager gekommen sein soll. Dann aber sind
alle Gedanken weg, und nur noch das, was gerade geschieht, hat Platz.
Plötzlich ist die Hand, die die Luke verschlossen hat, auf
meiner Schulter und drückt mich fest zu Boden, als ich sitze,
ist sie immer noch da und zwingt mich sanft, aber bestimmt weiter nach
unten, bis ich endlich flach am Rücken auf dem von Fellen
bedeckten Boden liege. Wer auch immer über mir ist, greift
nach dem unteren Saum meines Hemdes und zieht es mir hoch bis zum Hals.
Zuletzt streift mir die Fremde mit leichtem Nachdruck über die
Lippen, wie zum Zeichen, dass ich still und bewegungslos bleiben soll.
Ich tue es.
Ich bin voller Erwartung. Der Ekel vor diesem Ort, den ich vorher
gespürt habe, ist jetzt weg. Das hier ist jetzt mein
Zelt, auch wenn in ihm nicht mein Kommando zu gelten scheint.
Meine Erwartung ist auch körperlicher Art, auch, aber nicht
nur. Ich warte, warte auf etwas, das mir zeigt, dass ich am Leben,
wach, wirklich bin.
Wirklichkeit.
Realidád?
Wieder nur der Schatten eines Gedankens.
Die Fremde streckt sich, wie ich höre, neben mir aus, aber so,
dass wir uns nicht berühren, sondern ein knapper halber Meter
Raum zwischen uns bleibt.
Dann wird es fast ganz still. Dann kommt das Lauschen auf den Atem des
jeweils anderen, eine gegenseitige, sehr behutsame Erforschung. Im
selben Moment, in dem ich höre, dass die Frau einen halben
Meter neben mir sich selbst befriedigt,
werde ich heiß, steinhart und gierig, weniger darauf, den Körper
der Fremden neben mir zu besitzen, als darauf,
dass das, was da passiert, weitergeht, dass es stärker wird.
Was passiert, habe ich zuerst am Atem der Fremden gehört,
diesem Atem, der zuerst leise, aber tief und ruhevoll gewesen, dann auf
einmal flacher und hastiger geworden ist. Und, nah an der Grenze des
Hörbaren, die anderen Geräusche, Haut auf Haut,
Finger auf Brüsten und Beinen, zwischen Haaren, das Dehnen in
den Gelenken. Zeitweise setzt der Atem der Frau jetzt aus, meiner wohl
auch.
Ich bin versucht, mir auch Erleichterung zu verschaffen, aber ich komme
nicht mehr dazu, die Frau ist am Ziel.
Wie von fern höre ich ein winziges Glucksen, dann einen
unterdrückten Laut, wie ein kleiner Schrei, der nach innen
geht. Die Gestalt neben mir bäumt sich auf, ihr Kopf kommt
ganz nahe an mein brennendes Geschlecht, und allein, dass ich den Atem
der Fremden darauf spüre, bringt mir schon die Befreiung. Es
wird noch dunkler um mich, finsterer als schwarz. Die Fremde
drückt sich zwei Sekunden an mich, dann geht sie wieder auf
Distanz und liegt wie tot neben mir.
Nach einer Ewigkeit stehe ich auf, das Hemd rutscht an mir herunter,
ich ziehe die Luke auf.
Der Himmel
ist jetzt frei, Sterne schauen herein.
Ich liebe dich nicht, sagt jetzt eine Stimme hinter mir, du liebst mich
auch nicht. Es ist eine spröde Stimme, und ich kenne sie.
Aus
"doktor paranoiski" von Ernst Molden.