(...) »Ich kam mit
Papa«, antwortete die Gefragte, »und sonst war niemand dabei. Wen meinen Sie
denn?«
»Nun, der Bleiche dort kam ja doch wohl mit Ihnen, es kennt ihn niemand im Saal
und mit Ihnen trat er herein, sonst müßte er ja, Sie wissen, daß das Museum
geschlossene Gesellschaft ist, sonst müßte er ja eingeführt sein. Sehen Sie,
der dort.« Er zeigte hin. An eine Säule gelehnt, stand unbeweglich mit übergeschlagenen
Armen eine schlanke Gestalt. Noch konnte Ida das Gesicht nicht sehen, nur die
glänzenden schwarzen Locken des Haares fielen ihr auf; sie wollte sich eben
besinnen, wo sie schon solche gesehen habe, da wandte jener sich um und unwillkürlich
schrak Ida zusammen; gespensterhafte Blässe lag auf diesem feinen, schönen Gesicht,
geheimer Gram oder verschlossenes Kämpfen mit finsterem Leiden schien das muntere,
jugendliche Leben aus diesen tiefen, im schönsten Ebenmaß geformten Zügen hinweggewischt
zu haben, und ein gemischtes Gefühl drängte sich bei seinem Anblick auf, neugieriges
Mitleid schien sich mit zweifelhafter Furcht streiten zu wollen.
Kaum hatte des Fremden glühendschwarzes Auge Ida getroffen, als sie ihren Blick
abwandte. Überraschung und Verlegenheit machten sie stumm auf einige Augenblicke;
von dem Diadem auf der schönen Stirne, über den Liliensamt der blühenden Wange,
bis herab auf den jungfräulichen Alabasterbusen flog ein brennendes Rot, das
der Hofrat nicht unbemerkt ließ. Er wollte sie eben mit dem pfiffigsten Gesicht
nach der Ursache ihres Rotwerdens fragen, aber eine Unzahl Herren drängten sich
zu, um sie um einen Tanz
zu bitten; Vettern und Basen freuten sich, sie wiederzusehen und gafften das
Wunderkind an. Der Hofrat aber, welchem daran lag, die Spur, die er aufgefunden
zu haben meinte, zu verfolgen, machte seine Bewegungen wie ein geübter Feldherr;
er fragte sie so laut als möglich, ob es ihr jetzt, wie sie gewünscht, gefällig
sei, zu ihrem Herrn Vater zu gehen, der im dritten Zimmer sich zu einem Whistchen
gesetzt habe? und Pfiffköpfchen verstand gleich, wo der gute Alte hinauswollte;
sie beurlaubte sich also mit großer Hast von dem ungeheuren Kometenschweif,
in welchem sie als Kern gesessen und ging mit Berner durch den Saal.
Und jetzt nahm sie Berner ins Gebet; zuerst setzte er die Daumenschrauben des
Spottes an, dann untersuchte er die vermeintliche Herzenswunde seines Gold-Idchens
mit der langen Sonde des väterlichen Ernstes, indem er ihr vorwarf, sehr unklug
getan zu haben, ihre Residenzliebhaber mit nach Freilingen zu nehmen. Sie aber
lachte dem Ratgeber, welcher meinte, seine Sache recht gut gemacht und sie ganz
im Netz zu haben, ins Gesicht und witschte ihm aus.
»Sie geben sich vergebliche Mühe, Hofrätchen«, kicherte das lose Ding, »ganz
vergebliche Mühe, ich habe diesen Menschen in meinem ganzen Leben, auf Ehre,
noch nie gesprochen; doch gesehen«, setzte sie, ernster werdend, hinzu, »gesehen
habe ich ihn, und deswegen kam ich auch vorhin etwas in Verlegenheit.«
»Was da! zwischen sehen und sehen ist ein großer Unterschied«, antwortete Berner
mit einem völlig ungläubigen Kopfschütteln; »da müssen Sie ihm doch ein wenig
gar scharf in die Augen gesehen haben?«
»So hören Sie mich doch, Sie böser Mann!« unterbrach ihn Ida, »wer wird denn
auch gleich auf den Schein hin verdammen; ich sage noch einmal, ich weiß nicht,
wer er ist, aber das innigste Mitleid habe ich mit ihm. Als wir gestern durch
den Lanzinger Wald kamen, fuhren wir einer Equipage vor, die ganz langsam im
Schritt hinging. Es war ein prachtvoller Landau mit einem großen Bock, worauf
ein alter Diener in reicher Livree saß; am Wagen zogen vier Postpferde; das
Dach war zurückgeschlagen, und es saß niemand darin, als ein großer Hund. Sie
wissen wie man auf der Reise ist, man interessiert sich um die Mitreisenden,
besonders wenn man glaubt, auf einerlei Station mit ihnen zu wohnen oder zu
speisen. So dachte ich mir jetzt, die Reisenden, denen der Wagen gehört, seien
vorausgegangen, und lassen ihn langsam nachfahren. Ich sah daher alle Augenblicke
aus unserm Wagen, ob ich noch keine reisenden Engländerinnen oder Französinnen
gewahr werden konnte, aber immer vergebens. Endlich, als wir um eine Waldecke
bogen, sah ich auf einmal einen Mann, der unter einer
Eiche
saß und zu dem Wagen gehören mußte.«
»Und war es derselbe, der dort an der Säule steht?« fragte der Hofrat.
»Derselbe; er war auch ganz schwarz gekleidet wie jetzt, sein Hut lag neben
ihm im Gras, seinen Kopf stützte er in die hohle Hand. Das Geräusch unseres
Wagens, der jetzt, weil es bergauf ging, auch langsam fuhr, schien ihn aufzuschrecken;
ohne aufzusehen, ging er mit gesenktem Haupt bis an unsere Wagentüre. Da richtete
er sich auf, und Sie können sich meinen Schrecken denken, Hofrat, als ich das
nämliche geisterbleiche Gesicht sah, das auch Ihnen aufgefallen ist. Er mußte
heftig geweint haben, denn Tränen
hingen in den langen schwarzen Wimpern und gaben dem glühendschwarzen, sinnigen
Auge einen ganz eigenen Reiz!«
»So, so? einen ganz eigenen Reiz!« antwortete lächelnd der Hofrat, »wer hat
denn meinem Mädchen erlaubt, über Männeraugen Betrachtungen anzustellen? Hat
Sie das auch bei Madame La Truiaire in der Residenz gelernt?«
Das lustige Amorettenköpfchen, das sich da, es wußte nicht wie, verbebbert hatte,
schlug die Augen nieder und sagte: »Legen Sie nicht alles so bös aus, Bernerchen,
Sie verstanden ja doch sonst Ihre Ida nicht immer falsch.
Sehen Sie, was die Augen betrifft, da habe ich nun einmal meinen eigenen Geschmack.
Schöne blaue oder schwarze Augen, mitunter auch recht glänzendbraune sehe ich
an jedermann gern. Daher sind mir auch alle junge Herren so zuwider, weil sie
selten schöne Augen haben; sie haben ihnen durch die Lorgnetten, Brillen und
Gott weiß durch was sonst den schönsten Glanz benommen und stieren uns an wie
gestochene Böcke; desto mehr freue ich mich, wenn ich einmal eine solche Ausnahme
treffe. Eine ganz eigene Freude macht mir auch das Aufschlagen der Augen, das
man unter Tausenden kaum einmal so recht anmutig, sinnig, und, wie man es gerne
haben möchte, trifft. Beides sah ich nun an dem Fremden, darum hatte er mir
auch so ge–«
Da hatte sich das schnelle Schnäbelchen schon wieder verplappert! der Hofrat
horchte noch immer, aber Idchen blieb still, biß die Lippen zusammen und spielte
mit dem Amethystkreuz am Kollier, das unter dem Tanzen sich zwischen den Schneehügeln
hinabgeschoben hatte und ganz glühend heiß geworden war.
»Ei, ei!« warnte der Hofrat, »ich habe da in zwei Minuten Dinge gehört, wovor
einem die Haut schaudern könnte; nimm dich um Gottes willen in acht, Kind, wenn
du deine Augenbeobachtungen anstellst; ich weiß es aus meiner Jugend, daß in
gewissen Augen Häkchen sitzen, die uns, wenn man allzu tief schaut, festhalten,
daß an kein Entrinnen zu denken ist; hast du nie etwas von der Augensprache
gehört?«
»Doch«, entgegnete der kleine Übermut, »ich glaube sie auch zur Not zu verstehen.«
– (...)
(aus "Der Mann im Mond"
von Wilhelm Hauff)
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