(...) "Haben Sie eine Geliebte?" fragte sie nach einem Weilchen. "Nein", sagte K. "Oh doch", sagte sie. "Ja, wirklich", sagte K., "denken Sie nur, ich habe sie verleugnet und trage doch sogar ihre Photographie bei mir." Auf ihre Bitten zeigte er er ihr eine Photographie Elsas, zusammengekrümmt auf seinem Schoß studierte sie das Bild. Es war eine Momentphotographie, Elsa war nach einem Wirbeltanz aufgenommen, wie sie ihn in dem Weinlokal gern tanzte, ihr Rock flog noch im Faltenwurf der Drehung um sie her, die Hände hatte sie auf die Hüften gelegt und sah mit straffem Hals lachend zur Seite; wem ihr Lachen galt, konnte man aus dem Bild nicht erkennen. "Sie ist stark geschnürt", sagte Leni und zeigte auf die Stelle, wo dies ihrer Meinung nach zu sehen war. "Sie gefällt mir nicht, sie ist unbeholfen und roh. Vielleicht ist sie Ihnen gegenüber sanft und freundlich, darauf könnte man dem Bilde nach schließen. So große starke Mädchen wissen oft nichts anderes als sanft und freundlich zu sein. Würde sie sich aber für Sie opfern können?" "Nein", sagte K., "sie ist weder sanft und freundlich noch würde sie sich für mich opfern können. Auch habe ich bisher weder das eine noch das andere von ihr verlangt. Ja ich habe noch nicht einmal das Bild so genau angesehen wie Sie." "Es liegt Ihnen also gar nicht viel an ihr", sagte Leni, "sie ist also gar nicht Ihre Geliebte." "Doch", sagte K. "Ich nehme mein Wort nicht zurück." "Mag sie also jetzt Ihre Geliebte sein", sagte Leni, "Sie würden sie aber nicht sehr vermissen, wenn Sie sie verlieren oder für jemand andern z.B. für mich eintauschen würden." "Gewiß", sagte K. lächelnd, "das wäre denkbar, aber sie hat einen großen Vorteil Ihnen gegenüber, sie weiß nichts von meinem Prozeß und selbst wenn sie etwas davon wüßte, würde sie nicht daran denken. Sie würde mich nicht zur Nachgiebigkeit zu überreden suchen." "Das ist kein Vorteil", sagte Leni. "Wenn sie keine sonstigen Vorteile hat, verliere ich nicht den Mut. Hat sie irgendeinen körperlichen Fehler?" "Einen körperlichen Fehler?" fragte K. "Ja", sagte Leni, "ich habe nämlich einen solchen kleinen Fehler, sehen Sie." Sie spannte den Mittel- und Ringfinger ihrer rechten Hand auseinander, zwischen denen das Verbindungshäutchen fast bis zum obersten Gelenk der kurzen Finger reichte. K. merkte im Dunkel nicht gleich, was sie ihm zeigen wollte, sie führte deshalb seine Hand hin, damit er es abtaste. "Was für ein Naturspiel", sagte K. und fügte, als er die ganze Hand überblickt hatte, hinzu: "Was für eine hübsche Kralle!" Mit einer Art Stolz sah Leni zu, wie K. staunend immer wieder ihre zwei Finger auseinander zog und zusammenlegte, bis er sie schließlich flüchtig küßte und losließ. "Oh!" rief sie aber sofort, "Sie haben mich geküßt!" Eilig, mit offenem Mund erkletterte sie mit den Knien seinen Schoß, K. sah fast bestürzt zu ihr auf, jetzt da sie ihm so nahe war ging ein bitterer aufreizender Geruch wie von Pfeffer von ihr aus, sie nahm seinen Kopf an sich, beugte sich über ihn hinweg und biß und küßte seinen Hals, biß selbst in seine Haare. "Sie haben mich eingetauscht", rief sie von Zeit zu Zeit, "sehen Sie nun haben Sie mich doch eingetauscht!" Da glitt ihr Knie aus, mit einem kleinen Schrei fiel sie fast auf den Teppich, K. umfaßte sie, um sie noch zu halten und wurde zu ihr hinabgezogen. "Jetzt gehörst du mir", sagte sie.

"Hier hast du den Hausschlüssel, komm wann du willst", waren ihre letzten Worte und ein zielloser Kuß traf ihn noch im Weggehen auf den Rücken.
(...)


(aus "Der Prozeß" von Franz Kafka; 3.7.1883 - 3.6.1924)