(...)
Lear.
Nun du, unsre Freude, nicht die geringste, obgleich die lezte, deren jugendliche
Liebe das
weinvolle
Frankreich, und das milchtrieffende Burgund zu gewinnen
streben, was sagst du, ein drittes noch reicheres Loos zu ziehen als deine Schwestern?
Cordelia
Nichts, Milord!
Lear.
Nichts?
Cordelia.
Nichts!
Lear.
Aus Nichts kann
nichts entspringen. Rede noch einmal.
Cordelia.
Ich Unglükliche, daß ich mein Herz nicht bis in meinen Mund hinauf bringen kan!
Ich liebe Eu. Majestät so viel als meine Schuldigkeit ist, nicht mehr und nicht
weniger.
Lear.
Wie? wie, Cordelia? Verbeßre deine Rede ein wenig, oder du möchtest dein Glük
verschlimmern.
Cordelia.
Mein theurer Lord, ihr habet mich gezeugt, erzogen, und geliebt. Ich
erstatte diese Wohlthaten wie es meine Pflicht erheischet, ich gehorche euch,
ich liebe und verehre euch. Wofür haben meine Schwestern Männer, wenn sie sagen,
sie lieben euch allein? Wenn ich mich vermählen sollte, so wird der Mann dem ich
meine Hand gebe, auch die Helfte meiner Liebe und Ergebenheit mit sich nehmen.
Wahrhaftig, ich will nimmermehr heurathen wie meine
Schwestern, um allein meinen
Vater
zu lieben.
Lear.
Sprichst du aus deinem Herzen?
Cordelia.
Ja, mein theurer Lord
Lear.
So jung, und so unzärtlich?
Cordelia.
So jung, Mylord, und so aufrichtig.
Lear.
So laß denn deine Aufrichtigkeit deine Mitgift seyn. Denn bey den heiligen Stralen
der Sonne, bey den Geheimnissen der Hecate und der
Nacht, bey allen Würkungen
der himmlischen Kreise, durch welche wir entstehen und aufhören zu seyn - -
entsage ich hier aller väterlichen Sorge und Blutsverwandschaft, und erkläre
dich von diesem Augenblik an auf immer für einen Fremdling zu meinem Herzen,
und mir. Der barbarische Scythe, oder der mit dem Fleische seiner eignen Kinder
seinen unmenschlichen Hunger stillt, sollen meinem Herzen so nahe ligen, und
so viel Mitleiden und Hülfe von mir zu erwarten haben als du, einst meine Tochter.
(...)
(aus "König
Lear"
von William Shakespeare;
übersetzt von
Martin Wieland)
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