Liebeslyrik von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)
... und da
Überschneidungen
nicht gerade selten sind,
derselbe zum Thema
Wein
...
Goethe
Wenn Goethe (geboren 1749 in Frankfurt)
heute lebte, würden ihn die kritischen Anwälte der jüngsten deutschen Dichtung
wegen seiner Vielseitigkeit der "Gesinnungslosigkeit" zeihen. Er schrieb nebeneinander
am Werther, am Faust, an einem groben Fastnachtsspiel. Er trug die größten Gegensätze
in sich, aber es war ihm gegeben, sie alle bis zur Reife auszutragen. Er erkannte
die Notwendigkeit und Größe des deutschen Volksliedes so gut wie die erlauchte
Erhabenheit einer pindarischen Ode oder die nüchterne Trunkenheit eines Horaz.
Er bewegte sich in der Gedankenwelt eines
Plato,
die alle Dinge auf eine Uridee zurückführt, so sicher wie in den Wäldern Spinozas,
welcher lehrte, vor jedem Baum, vor jeder Blume, vor jedem Käfer anbetend in
die Knie zu sinken, denn "Gott ist in ihnen und über ihnen und durch sie
wie in mir und über mir und durch mich". Zucht und Gebundenheit der Antike,
das Über-alle-Grenzen-Schweifen der deutschen Volksseele,
Dionysos
und Faust,
Eros und
Eulenspiegel
durchdrangen sich in ihm zu höherer Einheit. An seiner Wiege haben die neun
Musen wie die sieben Schwaben Pate gestanden. Er brauchte nur "Tischlein,
deck dich!" rufen wie in dem deutschen Märchen, so war der Tisch des Lebens
für ihn gedeckt.
Er war der glücklichste Mensch, der je gelebt hat: er war an jedem Tage, in
jeder Minute und Sekunde seines Lebens mit sich selbst und seinem Ziele einig.
Es gab kein Schwanken in ihm. Immer schritt er festen und schlanken Schrittes,
Ephebe und Mann, geradeaus, den Blick auf das Herz der Welt gerichtet.
Seine Fähigkeit, Leid und Schmerz von sich abzustoßen, da sie seine klaren Teiche
nur trüben konnten, in denen so rein sich Mond und Sonne spiegelten, ging bis
zur Brutalität gegen sich und seine Mitmenschen. Er mußte sich ganz behaupten.
Er handelte in Notwehr. Im Alter nahm er eine künstlich konzipierte Steifheit
zur Hilfe, um jene Menschen von sich fernzuhalten, die ihn seiner selbst beraubten.
Es war jene hochmütige Geheimratsgeste, von der so manche Besucher seines Hauses
in ihren Briefen und Tagebüchern entsetzt und enttäuscht erzählen. Er saß wie
Archimedes im Garten auf einer Bank und zeichnete mit einem Stock im Sande seine
Kreise, die niemand stören durfte als der Wind oder der Regen. Denn diese waren
Naturkräfte wie er.
In seinem Leben spielen die Frauen die
entscheidende Rolle. Seine Männerfreundschaften: mit Herder, mit Merck, mit
Knebel, Tischbein usw. waren trotz betonter Herzlichkeit oder Interessiertheit
doch nur Episoden. Von allen Männern, die seinen Weg kreuzten, ist für uns Nachlebende
der getreue Eckermann der gewichtigste, der, jahrelang sein Sekretär und Famulus,
in seinen "Gesprächen mit Goethe" uns die lebendigste und persönlichste
Darstellung seines Wesens und Wirkens hinterlassen hat.
Goethes Genie fand seine Befruchtung und Erlösung aber immer erst durch die
Genien der Frauen, die er liebte. Sie sind die unbewußten Mithelferinnen an
seinem Werk, das deutsche Volk hat alle Ursache, sich vor ihnen in Dankbarkeit
und Ehrfurcht zu verneigen und sogenannten Literarhistorikern, die sich nicht
schämen, Schmutz auf sie zu werfen, gebieterisch die Tür zu weisen.
Kätchen Schönkopf, seine
Leipziger
Studentenliebe, zwitschernd wie ein Kanarienvogel, aber launisch
wie ein Papagei, Friederike Brion, die elegische Sesenheimer Pfarrerstocher;
die blonde Charlotte Buff, Braut seines Freundes Kestner, der wir den zärtlichen
Briefroman "Werther" verdanken; die wie aus einer griechischen Gemme
geschnittene Frau von Stein, die glücklichste und unglücklichste Liebe seines
Lebens, die treue und gute Christiane Vulpius, der er so wacker seinerseits
die Treue hielt, allen Intrigen des Weimarer Hoflebens zum Trotz, die er als
Minister als Geliebte in sein Haus
zu nehmen wagte, die er endlich, längst nachdem sie ihm einen Sohn geboren,
dankbar zu seiner rechtmäßigen Gattin machte und die ihm unendlich mehr bedeutet
hat als eine oberflächliche Literarhistorik wahr haben will. Sein einsames Herz
bedurfte ihrer Herzlichkeit. Sein Sinn ihrer Sinnlichkeit. Und dann die vielen
Namenlosen, die er liebte, die Frauen in Thüringen, in der Schweiz, in Italien.
Und endlich die
Suleika
des "Westöstlichen Divans", die den alternden Dichter zur letzten wilden
Trilogie der Leidenschaft entflammte. Welch ein Reigen von Frauen! Wir wollen
keine geringer achten, auch jene namenlosen nicht, ihnen allen sei der Kranz
des Lorbeers auf die schönen Stirnen gedrückt.
Goethes Lyrik
Im deutschen Sängerkrieg auf der Wartburg hat Goethe sich den ersten Preis ersungen: im Drama durch "Faust" und "Iphigenie", in der Prosa durch "Wilhelm Meister" und die "Wahlverwandtschaften", in der Lyrik durch "Ganymed", "Wandrers Nachtlied", "An den Mond", die "Trilogie der Leidenschaft" und vieles andere. Er beherrschte die konträrsten Stile. Sang wie ein Kind zu den Kindern:
Ich komme bald, ihr goldnen Kinder!
Und aus dämonischer Tiefe, die Worte steigen wie Nickelmänner und Elfen aus einem der tieftiefen Brunnen, so tief wie der Brunnen auf der Burg von Nürnberg, dessen Ende wir nicht sehen:
Goethe und der Expressionismus
Das ist in der Postchaise am 10. Oktober 1774 von ihm gedichtet, und ich wette, wenn ich es einem Dichter der jüngsten Generation vorlese, einem meiner nächsten Brüder, und er kennt das Gedicht nicht zufällig (er wird es nicht kennen: denn sie kennen weder Goethe, noch Geßner, noch Matthias Claudius, noch Gryphius, noch Günther, noch Walter von der Vogelweide mehr), kurz, ich meine: er wird erschüttert das Gedicht für einen Gipfel der expressionistischen Lyrik erklären (während ihm die Verse: "Ich komme bald, ihr goldnen Kinder" nur ein mitleidiges Lächeln entlocken), und er wird auf Werfel als Verfasser raten. Der Expressionismus, das heißt: die Ekstase als These, der Schrei des Herzens als oberstes Prinzip, und in der Form: das Schleudern erratischer Blöcke, das ist nicht erst von heute. Das haben Goethe, Hölderlin, Klopstock schon gekonnt. (Und gar die Griechen und Chinesen: Pindar, Li-taipe - !) Auch eine beliebte Spielart des heutigen Dichters, der politische Dichter, findet sich schon vorgebildet 1770 in einem Gedicht des Schweizer Lyrikers Salis-Seewis "An die Unterdrückten aller Länder", das Hasenclever geschrieben haben könnte (ganz zu schweigen von der politischen Dichtung der 48 er Jahre, von der noch die Rede sein wird):
Deutsche, lest Eure Dichter
Diese kleine Abschweifung schien mir notwendig. Vor allem auch für den Teil des heutigen Lesepublikums, der der jüngsten Dichtung mit Achselzucken, Lächeln und Überhebung gegenübersteht, unter Berufung auf den klassischen Maßstab. Dieser Maßstab ist falsch. Die heutige Dichtung der Expressionisten ist nicht unverständlicher oder absonderlicher als irgendein hymnisches oder ekstatisches Gedicht von Goethe, mit dessen Grundformen sie sich berührt. Dutzend ihrer Einzelerscheinungen sind läppisch oder unerfreulich. Dies darf nicht hindern anzuerkennen, daß ihr Kern so echt ist wie der jeder echten Dichtung. Daß sie als Reaktion auf den Mechanismus und Rationalismus der Zeit vor dem Kriege historisch notwendig war und ist. Und daß sie die Unterstützung durch das Volk braucht und verdient. Wir stehen heute kulturell in einem Wellental. Nur dann wird auch die deutsche Dichtung, die zweifellos seit der tristen Zeit von 70 wieder im Aufschreiten ist, zu einem neuen Gipfel kommen, der jenseits von Im- und Expressionismus, jenseits aller Ismen liegen wird, wenn sie getragen wird von Förderung und Zuruf der Mitlebenden, vom Vertrauen und Verständnis des Volkes. Denn wo eines das andere nicht mehr begreift, da geraten sie beide auf Irrwege. Lest Bücher, Deutsche, lest die Bücher eurer Dichter, und ihr werdet glücklicher und manchmal glücklich werden. Und vergeßt nicht die Bücher jener Dichter zu lesen, die in eurer Zeit, die eure Zeit leben: der Jungen, die sich nach eurer Gemeinsamkeit sehen, der Alten, denen euer herzliches Mitgefühl die alternde Brust wärmt.
Wir kommen von Goethes Lyrik; wir wollen wieder zu ihr zurück. Immer wieder wollen wir zu ihr. Denn jeder Gang zu ihr ist wie ein Heimweg ins Vaterhaus. Mit dem vielleicht herrlichsten Goetheschen Gedicht, dem Lied des Türmers, sind wir mitten im "Faust", der rundesten Ballung, der beseeltesten Verdichtung des deutschen Wesens. Durch dieses Drama schreitet der Dichter selbst in tausend Gestalten: er ist der junge Doktor Faust, der im sinnierenden Gespräch Sonntags vor dem Straßburger Tor spaziert, und doch die Augen zu weit offen hat, die hübschen Sonntagsmädchen zu betrachten. Es ist Goethe, der Friederike-Gretchen verführt, der der Walpurgisnächte viele in Thüringen und im Harz erlebte, der als Minister am Hof des Kaiser-Herzogs wirkte, und der endlich als Philemon einen Greisenabend beschließen darf in der seligen Gewissheit, daß er die Ernte bis zum letzen Halm in die Scheuer gebracht. Die Idee des Faust ist die Idee des Menschen schlechthin. Aus dumpfem Dunkel steigt er empor ins Licht. Mögen Wolken es oft verschatten, mag der Wanderer auf dem steilen Wege straucheln: nur nicht müde werden, nicht nachlassen, aufwärts, vorwärts, aufwärts. Der Weg - das ist das Ziel. Der Wille - das ist der Zweck.
Wer je auf einer Puppenbühne, wie sie in den bayrischen Messen noch umherziehen, das alte Puppenspiel vom Doktor Faust in fast ursprünglicher Form gesehen hat, wird wissen, wieviel Goethe ihm stofflich und kompositorisch verdankte. Er hat den Kasperl, im Puppenspiel Diener des Faust, aus seinem Spiel eliminiert und seine Rolle Mephistopheles übertragen. Trotz Goethe besteht dieses Puppenspiel künstlerisch noch heute jede Kritik. Eulenspiegel (Kasperl) und Faust: den komischen und tragischen Charakter des deutschen Wesens nebeneinander zu stellen: ist ein Beweis für die naive Genialität des Puppenspieldichters, der seinerseits auf dem 1587 erschienenen Volksbuch des Doktor Faust und den Fastnachtsspielen des Mittelalters fußt. - In "Götz von Berlichingen" (1773 erschienen) schrieb Goethe nach shakespeareschem Muster das erste Szenendrama und löste den strengen Aktbau eines Lessing in viele lebendige Einzelszenen, deren Lichter in der Schlußszene zu einer großen Flamme zusammenlohen. Der "Egmont" (1788 erschienen) zeigt Verwandtschaft mit dem Götz in Szenenführung und Charakterisierung. Durch seine sittliche Kraft erhebt sich der Unterlegene (Egmont) über den tyrannischen Sieger (Alba). Die Liebe Egmonts zu einem kleinen Bürgermädchen anticipiert die Liebe Goethes zu Christiane. In dem opernhaften letzten Bilde erscheint ihm auf dem Weg zum Schaffot die Geliebte, die Insignien der beiden hehrsten Ideale: Liebe und Freiheit, in ihren Händen haltend. - Neben dem Faust gebührt der "Iphigenie" unter den Goetheschen Dramen der Kranz. Das Gretchen im Faust ist ein einfaches Kind voll unbewußter Reinheit und Jungfräulichkeit, in Iphigenie wird die Reinheit sich bewußt und lauterster Wille und durchdachteste und durchfühlteste Wahrheit. Lieber Arges leiden als Böses auch nur denken, auch das Beste nicht durch Lüge erreichen wollen: ist das thematische Motiv. Sprachlich ist das Werk von der ersten bis zur letzten Zeile vollkommen. Die schönsten Jamben der deutschen Sprache erklingen, und sollten deutsche Dichter je einmal wieder Jamben schreiben wollen: sie mögen zuerst die Iphigenie lesen, und sie werden es schamvoll bleiben lassen. Das Drama "Tasso" ist der "Iphigenie" benachbart: stilistisch und geistig. Die Handlung soll an einem mittelalterlichen Hof vor sich gehen: aber sie geschieht recht eigentlich im Herzen des Dichters. Die Prinzessinnen sind nur Figuren seiner eigenen Phantasie, und auch sein Feind Antonio kriecht aus einer dunklen Ecke seines Gefühlslebens. "Iphigenie" und "Tasso" wurden von der Nation ziemlich kühl aufgenommen: die Revolution in Frankreich hielt die Welt in fieberhafter Spannung. Wir haben schon längst wieder eine neue Revolution, die jener an Gewalt nicht nachsteht: der Befreiung des Bürgers, die 1789 erfolgte, soll die Befreiung des Arbeiters folgen. Aber alle Revolutionen überdauern wird das heilige Lächeln der Iphigenie und der Schrei des Dichters im Tasso:
Denn hier geht es nicht um die Befreiung einer Klasse oder Rasse, sondern um die Befreiung des Menschen. Goethe selber war kein politischer Mensch in des Wortes strengster Bedeutung. In "Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahren", dem groß angelegten Sittengemälde seiner Zeit, wird das Verhältnis des Menschen zum Staat oder Staatsbegriff nicht einmal gestreift. Das Theater steht im Mittelpunkt des Interesses. Der Held entwickelt sich vom Theater zum Leben hin, vom Schein zum Sein. Zarte und zärtliche Frauen, wie Philine und Mignon, begleiten und befördern seinen Weg. Wie die Lehrjahre in ihrer berstenden Fülle das prosaische Seitenstück zu Faust bilden, so die "Wahlverwandtschaften" in ihrer Gedrungenheit und klaren Kürze das Seitenstück zur Iphigenie.
Goethe starb nach der Vollendung seines Faust im 83. Jahre am 22. März 1832.
(Aus "Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde" von Klabund)