Prolog
Alma Maria, geborene Schindler, verwitwete Mahler, geschiedene Gropius, verwitwete
Werfel war von Jugend an eine außergewöhnliche Frau und blieb bis heute äußerst
umstritten. Für die einen ist sie Muse der vier Künste, für die anderen schlechterdings
eine herrsch- und sexsüchtige Circe, die ihre prominenten Ehemänner nur für
die eigenen Zwecke benutzte. Wie kann ein Mensch einerseits ekstatische Liebesraserei
und andererseits wahre Hasstiraden auslösen? War sie ihren Partnern eine Muse,
eine Inspiratorin deren Werke? So hat sie sich zweifellos gerne gesehen. Aber
hält dieses Selbstbildnis einer genauen Überprüfung stand? Der Übersetzer, Autor
und Psychoanalytiker Hans Wollschläger forderte 1995 in der "Frankfurter Allgemeinen
Zeitung" eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Femme fatale von Wien,
"damit sie dann endgültig abgelegt werden kann. Viele Gefährtinnen bleiben stumm
im Schatten großer Männer, zu Unrecht unscheinbar, zu wenig gewürdigt; diese
hier, die eitle, abstoßend vorlaute, sollte endlich hinein."
Hans Wollschläger konnte bei seinem ablehnenden Urteil über Alma auf nicht minder
negative Urteile prominenter Zeitgenossen verweisen. Für Theodor Adorno war
sie - wenn auch nur gesprächsweise - "das Monstrum", der Komponist Richard Strauss
diagnostizierte bei ihr "Minderwertigkeitskomplexe eines liederlichen Weibes",
die Schriftstellerin Claire Goll schrieb, "wer Alma Mahler zur Frau hat, muss
sterben", womit sie auf das frühe Dahinscheiden zweier Ehemänner anspielte,
Gina Kaus erklärte in einem Interview, "sie war der schlechteste Mensch, den
ich gekannt habe", an anderer Stelle fand sie Alma einfach nur "aufgeblasen
und dumm", und Elias Canetti erblickte in ihr "eine ziemlich große, allseits
überquellende Frau, mit einem süßlichen Lächeln ausgestattet und hellen, weit
offenen, glasigen Augen". Almas Neigung zum Trinken - von Canetti vornehm umschrieben
- wurde ebenso von Claire Goll bemerkt: "Um ihre welkenden Reize aufzufrischen,
trug sie gigantische Hüte mit Straußenfedern; man wusste nicht, ob sie als Trauerpferd
vor einem Leichenwagen oder als neuer
d’Artagnan
aufzutreten wünschte. Dazu war sie gepudert, geschminkt, parfümiert und volltrunken.
Diese aufgequollene Walküre trank wie ein Loch." Und so war es gewiss kein Wunder,
dass die aus der Form gegangene Alma "dank üppiger Schminke und Löckchenpracht"
mitunter an einen "majestätischen Transvestiten" erinnerte. Anna Mahler, Alma
und Gustav Mahlers Tochter, hatte zeitlebens ein ambivalentes Verhältnis zu
ihrer Mutter: "Die Mami war ein großes Tier. Ich habe sie Tiger-Mami genannt.
Und hier und da war sie großartig. Und hier und da war sie ganz abscheulich."
Marietta Torberg, Friedrich Torbergs Ehefrau, brachte diesen Zwiespalt auf den
Punkt: "Sie war eine große Dame und gleichzeitig eine Kloake."
Es gehört zu dem Phänomen Alma Mahler-Werfel, dass neben den nicht eben schmeichelhaften
Urteilen eine Vielzahl begeisterter, geradezu verzückter Stellungnahmen existiert.
Für ihre Verehrer, deren es nicht wenige gab, war die jugendliche Alma Schindler
"das schönste Mädchen Wiens". "Alma ist schön, ist klug, geistreich", schwärmte
Gustav Klimt gegenüber Almas Stiefvater, "sie hat alles was ein anspruchsvoller
Mann von einem Weibe verlangen kann, im reichen Maße, ich glaube wo sie hinkommt,
hinschaut in die Männerwelt, ist sie Herrin, Gebieterin [...]." Oskar Kokoschka,
der einige Jahre später in Almas Leben trat, war verzaubert von ihr: "Wie schön
sie war, wie verführerisch hinter ihrem Trauerschleier!" Der Biologe Paul Kammerer
schrieb Alma liebestrunkene Briefe: "Deine Fehler sind unendliche Güten, Deine
Schwächen sind unbegreifliche Schönheiten, Deine Müdigkeiten sind unauskostbare
Süssigkeiten." Franz Werfel erschien sie kurzerhand als "Lebensspenderin, Hüterin
des Feuers", und Werfels Mutter nannte ihre Schwiegertochter angeblich sogar
"die einzige wirkliche Königin oder Herrscherin dieser Zeit". Der greise Schriftsteller
Ludwig Karpath versicherte Alma wenige Jahre vor seinem Tod, dass er eines Tages
"mit heißester Erinnerung an Dich ins Grab steigen werde".
Carl Zuckmayer
und Friedrich Torberg verehrten in Alma jene "verwirrende Mischung aus Patronatsherrin
und Patronne eines Maison de Rendezvous - 'eine tolle Madame', wie
Gerhart Hauptmann
sie einmal mit bewunderndem Kopfschütteln genannt hat". Almas Trinkfestigkeit,
für viele abstoßend, nötigte dem nicht minder trinkfesten Erich Maria Remarque
hingegen Respekt ab: "Die Frau ein wildes, blondes Weib, gewalttätig, saufend."
Wer war diese Frau, die jahrzehntelang so viele mehr oder minder berühmte Menschen
zu faszinieren oder abzuschrecken vermochte? Die Liste der Zeitgenossen - Ehemänner,
Liebhaber, Trabanten und Satelliten -, die in 85 Lebensjahren Alma Mahler-Werfels
Wege kreuzten, ist lang und liest sich in Teilen wie ein Prominentenlexikon
des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Auswahl: Eugen d’Albert, Pianist und Komponist;
Peter Altenberg,
Schriftsteller; Gustave O. Arlt, Germanist; Hermann Bahr, Schriftsteller; Ludwig
Bemelmans, Maler;
Alban Berg, Komponist; Leonard Bernstein, Dirigent und Komponist;
Julius Bittner, Komponist; Franz Blei, Schriftsteller; Benjamin Britten, Komponist;
Max Burckhard, Theaterintendant;
Elias
Canetti, Schriftsteller; Erich Cyhlar, Politiker; Franz Theodor Csokor,
Schriftsteller; Theodor Däubler, Schriftsteller; Ernst Deutsch, Schauspieler;
Engelbert Dollfuß, Politiker;
Lion Feuchtwanger, Schriftsteller; Joseph Fraenkel,
Arzt; Egon Friedell, Schriftsteller; Wilhelm Furtwängler, Dirigent;
Claire Goll,
Schriftstellerin; Walter Gropius, Architekt; Willy Haas, Schriftsteller; Anton
Hanak, Bildhauer; Gerhart Hauptmann, Schriftsteller; August Hess, Butler; Josef
Hoffmann, Architekt;
Hugo von
Hofmannsthal, Schriftsteller; Johannes Hollnsteiner, Priester;
Paul Kammerer,
Biologe; Wassily Kandinsky, Maler; Gina Kaus, Schriftstellerin; Otto Klemperer,
Dirigent; Gustav Klimt, Maler; Oskar Kokoschka, Maler; Erich Wolfgang Korngold,
Komponist; Ernst Krenek, Komponist; Josef Labor, Komponist;
Gustav
Mahler, Komponist; Golo Mann, Schriftsteller;
Heinrich Mann, Schriftsteller;
Thomas Mann, Schriftsteller; Willem Mengelberg, Dirigent; Darius Milhaud, Komponist;
Georg Moenius, Priester; Soma Morgenstern, Schriftsteller; Kolo Moser, Maler;
Siegfried Ochs, Dirigent; Joseph Maria Olbrich, Architekt; Eugene Ormandy, Dirigent;
Hans Pernter, Politiker; Hans Pfitzner, Komponist; Maurice Ravel, Komponist;
Max Reinhardt,
Regisseur;
Erich Maria Remarque, Schriftsteller; Anton Rintelen, Politiker;
Richard Schmitz, Politiker;
Arthur Schnitzler, Schriftsteller; Arnold Schönberg,
Komponist; Franz Schreker, Komponist; Kurt von Schuschnigg, Politiker; Ernst
Rüdiger von Starhemberg, Politiker; Richard Strauss, Komponist; Igor Strawinsky,
Komponist; Julius Tandler, Mediziner und Politiker; Friedrich Torberg, Schriftsteller;
Bruno Walter, Dirigent; Franz Werfel, Schriftsteller; Fritz Wotruba, Bildhauer;
Alexander von Zemlinsky, Komponist; Paul von Zsolnay, Verleger;
Carl Zuckmayer,
Schriftsteller.
Eine Frau, die zeit ihres Lebens mit so vielen bedeutenden Menschen Umgang hatte,
die - imponierend genug - so unterschiedlichen Charakteren wie Hans Pfitzner
und Arnold Schönberg, Thomas Mann und Erich Maria Remarque oder Walter Gropius
und Oskar Kokoschka allem Anschein nach etwas zu geben hatte, musste eine literarische
Kultfigur werden. Seit 1996 wird jedes Jahr Joshua Sobols beeindruckendes Polydrama
"Alma - A Show Biz ans Ende" in der Regie von Paulus Manker überaus erfolgreich
auf die Bühne gebracht. Wien, Venedig und Lissabon waren bislang die Stationen
dieser Theaterproduktion, 2004 erobert "Alma" Hollywood, und im Jahr darauf
wird Sobols Stück wohl in New York zu sehen sein. Hilde Berger schrieb
über
die Beziehung von Alma Mahler und Oskar Kokoschka einen Roman, und Alma-Fans
können aus fünf Biographien Hintergrundinformationen beziehen. Es mag zunächst
verwundern, dass sich überhaupt so viele Publizistinnen und Publizisten mit
dieser Frau beschäftigt haben. Anders als ihre Männer hat Alma keine großen
Kunstwerke hinterlassen, die zur Auseinandersetzung anregen würden - keine Sinfonien,
keine Gemälde, keine Gebäude, keine Gedichte oder Romane. Wirkung ohne Werke?
Zwar hat sie als junges Mädchen einige sehr schöne Lieder komponiert, als Komponistin
wird sie erst neuerdings wahrgenommen. "Alma Schindler-Mahler, die Vielbemannte,
bleibt nicht ihrer Liedkompositionen halber im Gedächtnis, sondern als Frau
und frühe Sonderausgabe des Partyluders", beginnt Eleonore Büning in der "Frankfurter
Allgemeinen Zeitung" vom 20. März 2004 ihren Artikel über Frauen in der Musik.
Und in dem 450 Seiten starken Buch "Komponistinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart"
von Eva Weissweiler wird Almas Name kaum gestreift in der einzigen Erwähnung:
"Alexander von Zemlinsky hatte neben der allseits bekannten Alma Mahler eine
Kompositionsschülerin namens Johanna Müller-Hermann [...]." Mehr nicht. Bekannt
war Alma (die übrigens damals noch nicht Mahler hieß) zwar "allseits", aber
eben nicht als Komponistin, sondern nur als Schülerin unter anderen Unbekannten.
Was bleibt von Alma Mahler-Werfel? Ist es ihr spannendes Leben, mit Höhen und
Tiefen, Erfolgen und Tragödien, Glanzstunden und Schattenseiten? War Alma eine
"Lebens-Künstlerin", die an ihre eigene Geschichte Hand anlegte und diese zum
Kunstwerk erhob? Oder bleibt von ihr nur das "bißchen Unterleib",
wie Hans Wollschläger schmähte? Und warum erscheint - vierzig Jahre nach ihrem
Tod - eine weitere, die sechste Biographie? Ist nicht bereits alles über diese
Frau gesagt?
Die vorliegenden Alma-Biographien sind sehr unterschiedlich und changieren -
ähnlich wie die eingangs zitierten Stellungnahmen prominenter Zeitzeugen - zwischen
kritischer Distanz und überschwänglicher Lobhudelei. Die Buchtitel geben die
Richtung vor: Für Karen Monson war sie "die unbezähmbare Muse", Susanne Keegan
erblickte in Alma die "Windsbraut", Françoise Giroud ("Alma Mahler oder die
Kunst, geliebt zu werden") rückte ihre Heldin in die Nähe früher Feministinnen,
und für den Hamburger Publizisten Berndt Wilhelm Wessling ("Alma, Gefährtin
von Gustav Mahler, Oskar Kokoschka, Walter Gropius, Franz Werfel") wurde Alma
schließlich zur Obsession: "Sie war die zärtlichste Frau dieses Jahrhunderts",
schwärmte er, "noch als Greisin pfirsichwangig, vollbusig und im Geruch von
jener sinnesbetäubenden Bienensüße, von der König Salomo im Hohenlied spricht."
Diese bizarre Huldigung ließ bereits 1983 vermuten, was unlängst bekannt wurde:
Berndt Wilhelm Wessling war ein Betrüger. Um seine eigene Person baute er potemkinsche
Dörfer aus biographischen Details und literarischen Leistungen, bezeichnete
sich als Spross einer alten Bremer Patrizier- und Senatorenfamilie, obwohl er
der Sohn eines Elektrikers war. Alma machte er schließlich posthum zu seiner
Patentante - unnötig zu betonen, dass zwischen beiden niemals Kontakt bestand.
Wessling war als Fälscher zweifellos ein besonderes Kaliber: Er lebte in seinen
Fiktionen und empfand die selbst geschaffene Irrealität als Wirklichkeit. Die
jüngste Alma-Darstellung erschien im Sommer 2001 in der Taschenbuchreihe rororo-Monographie.
Astrid Seele zeichnet ein kritisches und überzeugendes Charakterbild, spricht
von "verwirrenden Paradoxien", womit sie beispielsweise Almas Antisemitismus
meint, und setzte viele gedruckte Quellen in das richtige Verhältnis zueinander.
Alle Alma-Biographien, so unterschiedlich sie auch sind, haben einen - allerdings
entscheidenden - Nachteil: die lückenhafte Quellenbasis. Zwar haben Karen Monson
und Susanne Keegan mit Teilen von Almas Nachlass gearbeitet, machten von diesen
Schätzen jedoch merkwürdigerweise in nur beschränktem Maße Gebrauch. So mussten
sie sich bei der Rekonstruktion wichtiger Ereignisse auf Almas Memoiren verlassen,
die, wie sich herausstellen wird, zur Etablierung von Fakten kaum geeignet sind.
Françoise Girouds Lebensbeschreibung fällt hinter die Veröffentlichungen von
Monson und Keegan weit zurück. Die besondere Problematik dieser Publikation
ergibt sich aus dem Charakter eines persönlichen Essays. Das Buch hat weder
ein Inhaltsverzeichnis noch ein Register, geschweige denn ein Quellenverzeichnis.
Woher die Autorin ihre Informationen nimmt, bleibt ihr Geheimnis. Almas Papiere
hat sie jedenfalls nicht konsultiert, offenbar war die Autobiographie "Mein
Leben" Girouds Primärquelle. Nur so lassen sich die vielen schiefen Urteile
erklären. Giroud zitiert beispielsweise eine Passage aus "Mein Leben", die sich
auf die
Erstürmung des Wiener Justizpalastes im Juli 1927 (damals war es zu bürgerkriegsähnlichen
Ausschreitungen gekommen) bezieht. Dort heißt es: Die Intellektuellen sind Gelehrte,
Künstler, Geldmenschen ... aber von der Politik sollen sie ihre Hände lassen.
Sie setzen die Welt durch ihre Phantasielosigkeit in Brand! Die Menschen sollten
ihnen schon endlich das Handwerk legen, bevor es zu spät ist! Der Intellekt
ist in der Politik das schwerste Unglück Europas und Asiens. Was Giroud offensichtlich
nicht wusste: Almas Autobiographien (neben "Mein Leben" existiert auch ein englischsprachiges
Erinnerungsbuch mit dem Titel "And the Bridge is Love") leiten die Leser bewusst
in die Irre, wimmeln sie doch von Stilisierungen und plumpen Lügen. In Almas
unveröffentlichtem Tagebuch finden wir jedenfalls eine andere Schilderung der
Vorgänge in jenen Sommertagen 1927: Die böse Saat des Judaismus geht auf. Die
Juden sind hervorragende Gelehrte, Künstler, Geldmenschen, aber von der Politik
sollen sie ihre Hände lassen. Sie setzen die Welt durch ihre Phantasielosigkeit
in Brand. Die Menschen sollen ihnen schon endlich das Handwerk legen - bevor
es zu spät ist! Der Jude ist in der Politik das schwerste Unglück Europas und
Asiens. Durch Girouds Berufung auf "Mein Leben" entstand ein völlig verzerrtes
Bild. Dass Alma ihre Zeitgenossen und die Nachgeborenen stark polarisierte,
mehr noch, dass selbst ihre Biographien den Stilisierungen und Retuschen auf
den Leim gingen, ist ein nicht zuletzt von ihr selbst kreierter Effekt: Sie
schuf in ihren Memoiren einen Dunstkreis aus Dichtung und Wahrheit, der für
die bislang vorliegenden Biographien häufig nicht durchschaubar war. Wie kann
man nun dieser Frau am besten gerecht werden? - Indem man die intimste Quelle
sprudeln lässt, die es gibt: ihre unzensierten Tagebuchnotizen.
Auch am Beginn meiner Auseinandersetzung mit Alma Mahler-Werfel stand zunächst
"Mein Leben" - jener Bestseller, der bis heute im Buchhandel erhältlich ist
und das Alma-Bild ganzer Generationen prägte. Die Protagonistin erscheint dort
als Muse und Freudenspenderin ihrer Männer, die immer mehr zu geben als zu nehmen
hatte, die aus weiser Voraussicht auf eine eigene künstlerische Karriere verzichtete
und ganz dem Werk ihrer Partner lebte. Wurden die Memoiren bei Erscheinen als
hemmungsloses Bekenntniswerk gefeiert, wozu die sexuelle Freizügigkeit der Autorin
einiges beitrug, wirkten sie vierzig Jahre später auf mich zusammengestückelt
und bisweilen konfus, mehr noch, der Text schien wie auseinander gerissen. Auffallend
ist, dass das Buch über keinerlei Kapiteleinteilung verfügt. Außerdem sind manche
Episoden mit einem genauen Datum versehen, andere nur mit jahreszeitlichen Angaben
wie "Herbst" oder auch "Später in der Zeit". Der Leser ist also nicht in der
Lage, an einer bestimmten Stelle in Almas Leben einzutauchen; Zeit und Raum
verschwimmen zu einem diffusen Gesamtbild. Interessant ist auch die Tatsache,
dass im Personenregister Einträge zu
Adolf
Hitler und Benito Mussolini fehlen, obwohl diese im Text mehrfach genannt
werden. Hingegen wurden Personen, die nur eine einmalige Erwähnung fanden, in
das Personenregister aufgenommen. Ein Versehen? Oder hatte die Autorin möglicherweise
etwas zu verbergen? Die Abfolge sprachlich dichter Reflexionen neben völlig
banalen Alltagserkenntnissen legt die Vermutung nahe, dass große Teile des Textes
nicht für eine Veröffentlichung geschrieben worden waren. Dieser mosaikartige
Charakter verleiht dem Buch beim genaueren Hinsehen etwas unfreiwillig Komisches.
Alles in allem hatte ich den Eindruck, dass es sich bei Almas Lebensbeichte
um ein nachträglich kommentiertes Tagebuch handelte. Sollte "Mein Leben" etwa
eine Version ihrer lange Jahre verschollen geglaubten Tagebücher sein?
"Wenn Sie für Ihre Recherchen die Lebenserinnerungen von meiner Mutter als Grundlage
verwenden wollen, dann müssen Sie das jetzt gleich wieder vergessen", riet Anna
Mahler dem Franz-Werfel-Biographen Peter Stephan Jungk. Das Hauptproblem einer
Biographie Alma Mahler-Werfels besteht in der mehr als verwirrenden Quellenlage.
Als Alma im Dezember 1964 in New York starb, hinterließ sie gut 5000 an sie
gerichtete Briefe, unzählige Postkarten und Fotografien sowie mehrere Manuskripte.
Dieser Nachlass ging auf Vermittlung von Franz Werfels langjährigem Freund und
Herausgeber Adolf D. Klarmann vier Jahre nach ihrem Tod an die Van-Pelt-Library
der University of Pennsylvania in Philadelphia, wo er noch heute - weitgehend
unbearbeitet - in 46 Archivkartons verstaut ist. Das dortige Universitätsviertel
liegt nur einen Steinwurf von Philadelphia Downtown entfernt in einer parkähnlichen
Anlage. Viele der Campusbauten verströmen mit ihrer typischen Landhausarchitektur
den Charme längst vergangener Zeiten. Andere, wie die Van-Pelt-Library, sind
eher schmucklose, wenig einladende Nutzbauten. Wer in Philadelphia ein geisteswissenschaftliches
Studium betreibt, kommt an "Van Pelt" jedenfalls nicht vorbei: Gut 2,5 Millionen
Bücher beherbergt die Bibliothek an der Walnut Street, hinzu kommen rund 13.000
aktuelle Zeitungen und Zeitschriften aus aller Herren Länder. Die Suche nach
Alma Mahler-Werfel beginnt in der Handschriftenabteilung, deren Einrichtung
eigentümlicherweise nicht zum Rest des Hauses passt. Während die Fassaden, der
Eingangs- und Katalogbereich sowie die unzähligen Magazingeschosse die kühle
Anmut der sechziger Jahre ausstrahlen, prägen schwere altertümliche Holzmöbel
das sechste Stockwerk des Gebäudes, wo die so genannten Special Collections
aufbewahrt werden. Im Sommer 2000 war ich dort erstmals zu Gast.
(Aus
"Witwe
im Wahn. Das Leben der Alma Mahler-Werfel"
von Oliver Hilmes.)
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