(...) Eine
abgegriffene, mit der Zeit schon zittrig gewordene Glastür ging auf den
Hof.
»Der Eingang für die Stammgäste«, sagte Kacskovics und dirigierte die
Gesellschaft ins Innere der Bierstube.
Dass durch diese Tür nur trat, wer ein Wegrecht hatte, war gleich klar:
der blaubeschürzte Wirt und seine Burschen, alte, abgewetzte Kellner,
blickten freundlich zur Hoftür, obwohl Freundlichkeit nicht zu ihrem
Naturell gehörte. Nein, sie heiterten sich überhaupt nicht auf, wenn in
der Vordertür ein fremdes Gesicht auftauchte, das da noch nie
eingedrungen war. Herr Kacskovics aber war hier offensichtlich bekannt.
Der Wirt trocknete sich an seiner Schürze die Hände ab, bevor er nach
alter Wirte Sitte seinem Gast die Hand gab.
»Zum Frühstück hatte ich Kalbshirn mit Niere », sagte er, bevor der Gast
fragen konnte.
»Das nehmen wir auch, Herr Vájsz«, sagte der Herr mittleren Alters. »Und
wie steht's mit dem Bier?«
»Ich habe meine übliche Portion schon getrunken«, sagte der Wirt,
blauäugig, blond, breitschultrig, fast wie einer deutschen Gartenlaube
entsprungen. »Mir mögen die Herren ärzte sagen, was sie wollen,
vormittags kann man nur Bier trinken. Wenn es etwas gibt, das die
Lebensgeister belebt, dann ist es frisch gezapftes Bier. Jawohl, meine
Herren.«
Und zum Zeichen seiner Zuvorkommenheit zapfte er für den Herrn mittleren
Alters eigenhändig in einen Henkelkrug ab und hielt das schäumende
Getränk gegen das Licht, bevor er es auf den Tisch stellte.
»Die ›liebe Frau Mama‹ habe ich schon lange nicht mehr gesehen«, sagte
er vertraulich. »Ich habe gehört, dass sie einem ihrer Mieter gekündigt
hat, dem Vogelhändler von der Innenstadt. Der hat die Papageien
fluchen gelehrt. Natürlich konnte sie das nicht dulden.«
Kacskovics war ein bisschen verlegen, er mochte es nicht, wenn die Rede
auf seine Häuser und Mieter kam, er wollte sich nicht in diese
Angelegenheiten mischen. Irgendwie schämte er sich, Hausbesitzer zu
sein. Doch der Wirt fuhr fort:
»Dem Matyi da kann man ruhig zuhören. Aus seinem Käfig kommt nie ein
unanständiges Wort. Ja, und dann mag es auch nicht jeder, wenn man ihm
in sein Essen hineinplappert. Ksch, Bengel!« Der Wirt winkte mit einer
Serviette in Richtung des großen schwarzen Käfigs an der Wand.
»Schurke!« antwortete der Vogel, und das war schon die Produktion.
*
Es war ein
Gasthaus von altem Schrot und Korn: die Wand bis auf Kopfhöhe braun
getäfelt, und auch die Kleiderhaken waren aus Holz. Schwere,
lederbezogene Stühle und Sitzbänke um die Tische, die so groß waren, als
wären sie für ganze Familien
berechnet. Die Beine des Tisches, an dem der Herr mittleren Alters mit
seiner Gesellschaft Platz nahm, waren am Boden befestigt; er stand neben
dem Tisch der Wirtsfamilie. Von hier konnte man mit Leichtigkeit
beobachten: den mit verschränkten Armen neben seinem Bierfass stehenden
Schankburschen, der sicher nicht an seelischer Not litt, so wie sein
Schnurrbart gezwirbelt war, sein Haar an den Schläfen nach vorn
gebürstet, seine blöndliche Frisur mit Pomade gekämmt, sein buntes Hemd
exakt über die Ellenbogen hinaufgerollt, wie es nur mit frisch
gebügelter Wäsche möglich ist, und in seinem rechten Arm eine blaue
Tätowierung: die Buchstaben L.F., für Ludvig Franz. Er war so, wie man
es erwarten durfte, wenn man den Schankburschen der Stadt Wien genannten
Bierstube von einer Fotografie her kannte. Vilma, liebenswürdig wie
immer, hatte zur Stadt Wien gleich etwas zu bemerken: Sie schlug vor,
man solle das Gasthaus von dem oben erwähnten Vájsz übernehmen, falls er
der Sache überdrüssig sei. Podolini starrte sie entsetzt an und stockte
beim Betasten des frischen Gebäcks, das in einem Körbchen aus
Drahtgeflecht auf dem Tisch plaziert worden war. Kaisersemmeln,
Wassersemmeln, Kümmelsemmeln, Salzgipfel und Bretzeln - in den
Kümmernissen des Lebens jede ein Augenblick der Selbstvergessenheit.
»Also das habe ich meiner Lebtag noch nie gehört, dass eine diplomierte
Lehrerin Wirtin sein wollte«, sagte Podolini etwas unkonzentriert, da
seine Aufmerksamkeit auch von der sogenannten »Ringelfischdose«
gefesselt war, die der Altkellner eben für sie aufmachte.
»Nicht das ist der springende Punkt«, sagte Kacskovics. Er blickte
freundlich auf die alten Kellner, die sich nach dem Beispiel ihres
Meisters jetzt ebenfalls eifrig um die Gäste bemühten. »Es kann nicht
jeder Wirt sein in der Stadt Wien. Herr Vájsz, der jetzige Wirt, war in
jungen Jahren Bierbrauergeselle, in der Brauerei des alten Anton Dreher.
Er tat, was er zu tun hatte, arbeitete einwandfrei, doch dann kam die
Liebe, die auch den Bierbrauergesellen packt. Und mit der Liebe das
sehnende Verlangen: Herr Vájsz zum Beispiel fühlte plötzlich, dass er in
Budapest ein Wirtshaus eröffnen musste, eines mit dem Bier, das er in
Schwechat brauen half. Er meldete sich bei seinem Meister, sagte, er
gehe nach Budapest, um das Schwechater Bier auszuschenken. Schwechater
Lagerbier, wie man es damals nannte. Zum Hochzeitsgeschenk wünschte er
sich, der einzige Budapester Wirt sein zu dürfen, der dieses Bier
ausschenkt. Das Schwechater Bier war in Budapest sowieso nicht besonders
beliebt, und so willigte der Bierbrauer ein. Seither schenkt Vájsz ein
Bier aus, das man sonst in Budapest nicht bekommt. Das Schicksal hat die
Treue des Bierbrauergesellen belohnt, Herr Vájsz ist heute ein
geachteter Steuerzahler des Stadtviertels (Achtbarkeit wird ja nach wie
vor an der sauberen Steuerrechnung gemessen).«
So die Lobrede des Herrn mittleren Alters auf den blaubeschürzten
Schankwirt, worauf es nicht mehr unangebracht war, sich beim Altkellner
nach dem Kalbshirn mit Niere zu erkundigen.
»Bitte das mir zu überlassen. Bei uns kommt nichts aus der Küche, um
dann eventuell vom Gast zurückgewiesen zu werden. Wir wissen schon, dass
die Niere nicht hart sein darf, denn in einem gewissen Lebensalter ist
sie nicht genießbar. Die ›Frau‹ hat durch das Küchenfenster geschaut, um
zu sehen, wer Kalbshirn mit Niere möchte. Bitte nunmehr, die Sache ihr
zu überlassen.«
Da der Meister mit dem Schankburschen eine kleine Besprechung abhielt,
nutzte der Altkellner die Gelegenheit, um wie zufällig in eine Ecke zu
gehen, wo auf dem herausstehenden Sims der Täfelung ein Schoppen für ihn
stand. Er nahm einen heimlichen, aber feierlichen Schluck, ließ auch so
etwas wie ein Krächzen hören, wie das die alten Weinkenner
tun, die ihren Wein nur in kleinen Schlucken trinken, aber auch diesen
kleinen Schlucken Ehre antun. Gleichzeitig probierte Herr Vájsz beim
Blechtisch des Schankburschen eine Weinsorte und schnalzte dann laut mit
der Zunge, als hätte er noch nie besseren Wein getrunken. Ein solches
Schnalzen pflegt von zauberhafter Wirkung zu sein; an einem Tisch in der
Nähe des Ausschanks, wo die Kenner ihre Plätze haben, fing ein
Hersteller von künstlichen Blumen
sofort an, sich nach dem Wein zu erkundigen.
»Der beste Riesling, den ich je ausgeschenkt habe«, antwortete Herr
Vájsz nebenbei und goss sich den Rest aus dem Glas ehrfürchtig in die
Kehle.
Der Hersteller von künstlichen Blumen, dessen Gattin unter dem Namen
Frau Emil Lorsi das nahegelegene Geschäft führte, hätte viel dafür
gegeben, mit so wohligen Schlucken trinken zu können wie der Wirt. In
jeder Gaststube - ganz besonders in der Nähe des Ausschanks - kommen
Leute wie E. Lorsi vor, die ihr ganzes Leben lang zu lernen suchen, wie
man mit Gusto isst und trinkt. Sie sitzen im Wirtshaus und trinken ihren
»Pfiff« oder ihr »Kleines« und reden in alles drein, während sie das
Glas immer wieder heben, als wollten sie damit rasch fertig werden. Doch
zum Glück kommt ein neues Thema dazwischen, dank dem man den Aufenthalt
im Wirtshaus verlängern kann. (Was soll einen schon in der Király-Straße
in einem Laden mit künstlichen Blumen erwarten?)
E. Lorsi erwischte gleich das richtige Thema, als er dem Schankwirt von
dessen letztjährigem Wein aus Tolcsva zu sprechen begann, von dem er
selbst so viel getrunken habe »wie ein Rind«. Herr Vájsz wusste zwar
wohl, dass der Blumenhändler als sparsamer Mensch auch letztes Jahr
nicht über die Stränge geschlagen hatte, aber er wollte zu dem
schmeichelnden Gast nicht unhöflich sein:
»Ja, die Weine dauern nicht ewig.«
»Ihre Weine schon gar nicht, Herr Vájsz.«
Herr Vájsz verfiel ins Grübeln darüber, ob er dem Blumenhändler einen
Deziliter Gratiswein (vom neuen Riesling) anbieten sollte, nahm aber aus
irgendeinem Grund dann doch Abstand davon.
Jetzt aber (zum Leidwesen des nach Art magerer Katzen
auf der Lauer liegenden Blumenhändlers) ertönte vom Fenster, das auf die
innere Stube ging, ein kurzes, herrisches Klingeln, die Scheibe wurde
rasselnd aufgeschoben, als setzte die Köchin den Punkt auf ihr
vollendetes Werk. Der Altkellner ließ sein Glas in der Ecke stehen und
wirbelte wie eine ehemalige Ballerina hervor, als hätte er bis dahin den
Takt für sich geträllert, wie das die alten Tänzerinnen in der
hintersten Reihe tun, um dann auf das Zeichen des Kapellmeisters
sogleich einspringen zu können. Der Garçon konnte so wiegend-melodiös
auftreten, als hätte er seit seinem Abgang kein einziges Mal pausiert.
»Küss die Hand«, sagte er und plazierte seine Serviette auf dem linken
Arm, als wäre sie das Tuch aus »Tischlein, deck dich«, das sich auf das
Klingelzeichen aus der Küche mit Leckerbissen füllt.
Es gab anständige Portionen in der Stadt Wien, die Arme des Kellners
füllten sich tatsächlich mit den »Dreimal Kalbshirn mit Niere«, deren
warmer Zwiebel-, Pfeffer- und Paprikaduft, deren Vorbeiziehen und
Serviertwerden auch den toten Gast zum Leben erwecken würden, den die
alten Budapester Schankwirte traditionsgemäß in die Wand einmauern,
damit das »Geschäft« nie ohne Gäste sei.
Herr Kacskovics, wohl nicht unbewandert in der Feierlichkeit solcher
Gabelfrühstücke, unter deren Wirkung man eine Weile vielleicht sogar
vergisst, dass die Türme von Budapest einmal auch noch zu Mittag
läuten werden, wandte sich mit folgender friedfertiger Frage an den
Hilfsstuhlrichter:
»Ich würde gern Ihre Meinung über das Kalbshirn mit Niere hören, Herr
Lajos, bevor es Ihnen einfallen möchte, das Lob auf Faykis aus Podolin
zu singen!« Die Frage war um so angebrachter, als der Krummbeinige seine
sehr langen knochigen Finger, seine beweglichen Handgelenke und seine
ungeduldig in röhrenengen Jackenärmeln steckenden Arme bereits von den
Manipulationen mit der Serviette, die ihm zum Putzen des Bestecks
diente, zurückgezogen hatte. Er blickte durch die Zinken der Gabel,
allerdings nicht auf Kacskovics, sondern auf Vilma, er schüttelte, wie
es sich gehört, den Kopf, als die Messerklinge auf dem weißen Tischtuch
schwarze Flecken hinterließ, er suchte in den Ritzen des Tellers
ausdauernd nach dem Haar, das sich dort duckt, und die gleichen
Verrichtungen führte er auch mit Vilmas Ausrüstung durch, worauf
Kacskovics unwillkürlich und leicht melancholisch den Kopf ein wenig
wiegte. Podolini nahm die Aufforderung des älteren Herrn leise lächelnd
zur Kenntnis und stieß seine Gabel wie ein Ruder schräg in den Saft. Hob
sie hoch, führte sie sich in den Mund ein, die Gabel verschwand, kam
wieder zum Vorschein, fuhr auf den Kartoffelhügel nieder.
»Die Kartoffeln können Sie versuchen, Fräulein Vilma, die sind mehr oder
weniger nach meinem Geschmack zubereitet.« Wie sich im Lauf unserer
Erzählung herausstellen wird, redete der Hilfsstuhlrichter nicht aus
Arroganz in dieser Weise, sondern weil so etwas das höchste Lob aus
seinem Munde war.
Vilma hatte unter anderem das Prinzip, in bestimmten Dingen, etwa was
die Zubereitung und den Geschmack der Speisen betrifft, das Wort der
Männer als heilig stehen zu lassen. (Wer wüsste besser als ein Mann, wie
man eine Speise zubereitet?) Lajos Podolini hatte also recht, auch wenn
seine Nase, seine Schläfen, sein Schädel von der stark gewürzten Speise
allmählich ins Schwitzen gerieten. Nichts zu machen: blutarme Leute
erhitzen sich beim Genuss bestimmter Speisen.
»Wenn ich die Wirtin kennte, würde ich sie nach dem Rezept fragen.«
Vilma war begeistert, der Herr mittleren Alters auch:
»O, nichts leichter als das, ich bin ganz groß im Sammeln von Rezepten.
Das kann ich im voraus schon verraten, dass hier die rote Zwiebel durch
ein feines Sieb getrieben wird.« (...)
(aus
"Meinerzeit" von
Gyula Krúdy)
Roman. Aus dem Ungarischen von
Christina Viragh
›Meinerzeit‹ – Der Titel knüpft an das nostalgische »damals, zu meiner
Zeit...« an. Und dieses Damals versuchen die Personen des Romans immer
wieder vergeblich zu beschwören.
Man trauert der 1918 zu Ende gegangenen Monarchie nach, unterschwellig
aber auch dem Freiheitskampf von 1848. Man versucht einen Kreis zu
bilden, in dem die alte Zeit aufleben kann, doch das Hier und Jetzt
verzieht die scheinbar einfache Handlung zu einer schrägen Geschichte.
Krúdy zeichnet virtuos ein spannungsgeladenes Personengeflecht: von der
insgeheim ergeizigen Lehrerin Vilma und ihren beiden Begleitern über
einen »verrückten, nervösen Barbier«, einen viel zu präsidialen
Präsidenten bis hin zu einem tierbändigenden Hauptmann. Sie alle und
noch einige Originale mehr verbringen den letzten Fastnachtstag im
Wirtshaus. Vordergründig nüchtern-sachlich beschrieben, in der Wirkung
aber geradezu surreal wird die Schilderung eines einzigen Tages
unversehens zu einer vielschichtigen Gesellschafts- und Zeitanalyse des
Ungarns der 20er Jahre.
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