(...)
In den Schlafzimmern waren schon die
Kisten für die Übersiedlung gepackt, und dazwischen türmten sich Kartons
voller Dinge, die sich trotz Ednas Freude am Wegwerfen angesammelt hatten
und die ihr nun am Ende auch überflüssig erschienen: Hadassa hatte sie mit
ihren flüchtigen, schrägen Schriftzügen daraufgeschrieben, Heilsarmee,
Caritas. Sie umstanden die Betten wie ungeduldige Gerichtsvollzieher, die
zum Aufbruch drängten und die Zimmer noch vor dem Auszug unbewohnbar
machten. Der Mangel an Licht hatte Edna schon immer gegen diese Räume
aufgebracht. Vor allem das große Schlafzimmer mit dem begehbaren
Kleiderschrank, in dem Morris' Anzüge seit fünf Jahren ungelüftet hingen,
deprimierte sie. Die Glastüren mit den halbkreisförmigen Balkonen aus
schwarzem Schmiedeeisen schienen der gegenüberliegenden Hausmauer so nah -
kaum zu glauben, daß eine Straße dazwischen lag.
Am Ende ihres Lebens waren sie und Morris in diesem exklusiven Bezirk
Bostons angekommen, hatten die Enklave alter protestantischer
Mayflower-Familien infiltriert - in zwei Generationen von Ellis Island
nach Beacon Hill, die Erfüllung kühnster Einwandererträume. Aber es hatte
ihnen nicht den Triumph gebracht, den sie erwartet hatten. Edna war nie
heimisch geworden in den Räumen des zweistöckigen viktorianischen
Backsteinhauses in der abschüssigen Pinckney Street, das sich wie ein
nicht ganz legitimer Eindringling mit zwei seiner drei Fenster auf die
Schmalseite des Louisburg Square drängte. Zwanzig Jahre früher hätte es
ihr Genugtuung verschafft, in der vornehmen Stille der Mount Vernon Street
ihre Schritte auf dem Kopfsteinpflaster zu hören, als ginge sie durch die
hallenden Flure eines alten Hauses. Jetzt im Alter sehnte sie sich nach
freien Ausblicken und nach Menschen, die mit ihrem Alltag beschäftigt
waren, wenn sie auf die Straße ging; die Stille unter den Ahornbäumen,
selbst die Schönheit der in der Dämmerung leuchtenden Schlehdornbüsche,
die dunkle Feuchtigkeit all der an den Hauswänden wuchernden Ranken, die
im Sommer die Räume vollends verdunkelten, bedrückten sie. Es würde ihr leichtfallen, dieses Haus zu
verlassen, es hatte nicht ihnen gehört, ein Enkel ihres Onkels Paul hatte
es an sie vermietet, und es hatte noch niemandem in der Familie Glück
gebracht. Es war die Gegenleistung für sechs Jahre Gefängnis gewesen, die
Paul für einen anderen abgesessen hatte, Teil des Schweigegeldes, mit dem
ein Gouverneur von Massachusetts, dessen Vorfahren seit Generationen auf
Beacon Hill residierten, sich die Schande, als Betrüger entlarvt zu
werden, von Paul hatte abnehmen lassen. Wie einen Fluch hatte er das Haus
für alle Zeiten der Familie vermacht, unverkäuflich, an niemanden zu
vermieten als an die Mitglieder der Familien Lewis und Leondouri, zur
unauslöschlichen Erinnerung an den Preis, den ein Einwanderer aus einem
podolischen Stetl zu zahlen hatte, um unter Bostons Brahminen, selbst wenn
sie Ganoven waren, leben zu dürfen.
Edna hatte ihren Onkel Paul kaum gekannt, niemand hatte ihn gekannt, er
war die graue Eminenz, zu der man ging, wenn man aus eigener Kraft nicht
mehr weiterwußte; wenn es galt, einen Sohn vor dem Vietnamkrieg zu
bewahren, einen Spitalsplatz für eine Sterbende zu ergattern, dann ging
man zu Paul, und man besuchte ihn nicht in seinem Haus auf Beacon Hill,
sondern kam in sein Büro und trug über den großen Schreibtisch hinweg sein
Anliegen vor. Bei Hochzeiten, Bar Mitzwahs und bei Begräbnissen stand er
unter den Gästen, und in der Erinnerung kam es den Familienmitgliedern
vor, als hätte ihn seine Unnahbarkeit wie ein Raum umgeben, in dem die
Luft anders war, Gefängnisluft, vergiftet und schwer zu atmen - über
diesen Abstand hinweg schien es nur möglich, ihm die Hand zu schütteln,
nicht jedoch ihn zu umarmen. Die Jahre im Staatsgefängnis von Walpole
hatten seine unnahbar aufrechte Gestalt gezeichnet und ihn der
Vorstellungswelt selbst seiner Familie entrückt, ihn zu einem Fremden
gemacht, dem man sich mit banger Achtung und mißtrauischer Furcht näherte.
Nur Edna und ihre Geschwister kannten sein Geheimnis, die anderen
Verwandten mußten annehmen, er sei zu Recht verurteilt worden, schämten
sich seiner und schwiegen. Er war der häßliche Fleck auf der Ehre der
Leondouris und der mit ihnen Verschwägerten, er verminderte die
Respektabilität ihrer heiratsfähigen Töchter, aber er besaß Macht in den
höchsten Kreisen, und seine Macht war zur Legende geworden. In Ednas
Familie betete man erst dann zu Gott, wenn Onkel Paul nicht mehr helfen
konnte. Wie die frommen Juden Zettel mit ihren Bitten in die Ritzen der
Westmauer in Jerusalem steckten, wie die Italiener des Bostoner North End,
wohin Paul vor dem erstickend vornehmen und schweigsamen Beacon Hill floh,
Kerzen vor ihren Heiligenstatuen anzündeten, so kamen die Sorgenbeladenen
seiner über die Generationen zu einem Clan angewachsenen Familie zu Paul.
An der Stelle, an der jetzt ihr Bett stand, mußte Paul an einem Apriltag
in den sechziger Jahren gestorben sein, so einsam, wie er jahrzehntelang
gelebt hatte, und die jungen Blätter der schmiedeeisenumfriedeten Platane
mochten in der lastenden Stille so wie jetzt gegen das Fenster gewischt
haben. Hier hatte Morris zwei Jahre lang mit dem Tod gekämpft. Edna
empfand kein Bedauern angesichts der gepackten Kisten, auch das Geschirr,
das für Pessach nicht koscher war, hatte sie schon in Seiden- und
Krepppapier gewickelt und die Kartons mit großen Aufklebern als
zerbrechlich gekennzeichnet.
In den unteren Räumen war
an dem ersten Abend des Pessachfestes von Aufbruchsstimmung noch nichts zu
spüren. Der große Kristallluster warf einen matten Glanz aufs Parkett des
Eßzimmers, und der Tisch war zu seiner vollen Länge ausgezogen und
verstellte den Zugang zum Glasschrank, und Edna stand an der Breitseite
der mit weißem Damast gedeckten Tafel und zählte zum zweiten Mal in der
letzten halben Stunde die Gedecke, sagte halblaut, mehr zu sich als zu
Carol, die in der Türöffnung zur Küche lehnte, die Kinder glänzen wieder
durch Abwesenheit, Lea kommt sicher nicht, und Jerome sowieso nicht, mein
einziger Enkel Joshua ist in
Israel und seine Mutter Estelle auch, womit die Abwesenheitsliste
der Familie Schatz vollständig wäre. Irving ist noch in Europa oder
sonstwo, nur ihr seid vollzählig. Jonathan setze ich neben dich, und
Marvin leitet den Seder, ob er will oder nicht. Da drüben soll Daniel
sitzen, neben ihm Adina, auf deiner linken Seite sitzt ihre Mutter, damit
du ihnen erklären kannst, was vorgeht. Warum habe ich neun Gedecke? Dann
fielen ihr die beiden alleinstehenden Witwen aus dem Altersheim in Revere
wieder ein, in das sie selber in zwei Wochen ziehen würde: Sie hatten
wegen des schlechten Wetters vor zwei Stunden abgesagt.
Zusammen trugen sie den großen Sederteller aus der Küche herein. Seit
Jahren bekam sie von ihren Kindern modernes, praktisches Pessachgeschirr
geschenkt, mit hübschen Schalen zum Herumreichen, teures Kunstgewerbe aus
den besten Kunstläden zwischen Jerusalem und Brookline, und sie bedankte
sich jedesmal dafür, rief, wie schön, wie edel und stellte es zu den
Chanukka-Leuchtern in die Vitrine. Aber zu Pessach brachte sie wieder den
mit blauen Ornamenten verzierten und viel zu seicht unterteilten
Steingutteller, auf dem die strenge Anordnung der Speisen schon beim
ersten Anstoß durcheinandergeriet, auf den Tisch.
Eigentlich sind wir fertig, sagte sie mit einem kurzen prüfenden Blick auf
die Schwiegertochter ihrer verstorbenen Nichte Mimi. Sie müßte mehr auf
ihr Äußeres achten, dachte sie, jetzt wo sie älter wird. Aber Carol trug
noch immer ihr längst von grauen Strähnen durchzogenes Haar schulterlang,
und ihre weiten Röcke und losen Kleider erinnerten an das Hippiemädchen,
das sie in ihrer Jugend gewesen war. Ihre frühere, für Ednas Geschmack ein
wenig zu rebellische Unbekümmertheit war in den letzten Jahren einer
schweigsamen Entschlossenheit gewichen, und manchmal, wenn sie sich
unbeobachtet glaubte, lag ein Anflug enttäuschter Bitterkeit auf ihren
Zügen. Das Leben ist nicht gut zu ihr gewesen, dachte Edna und sagte mit
nachsichtiger Mißbilligung: Geh ins Bad und richte dich ein wenig her,
bevor die Gäste kommen. Es war ein milder Tadel verglichen mit der
Ablehnung, die sie lange Zeit für Carol empfunden hatte. Vor fast dreißig
Jahren hatte die Verlobung von Mimis Sohn Marvin mit Carol, der Tochter
eines Geistlichen der Episkopalkirche, die Familie entzweit. Inzwischen
war Carols und Marvins Sohn Jonathan bereits zweiundzwanzig, und seine
Mutter war nicht das einzige nichtjüdische Mädchen geblieben, das in die
Familie eingeheiratet hatte, aber später hatte es niemanden mehr
aufgeregt.
Edna riß sich aus ihren Gedanken. So lagen die Dinge nun einmal, Fremde
waren anhänglich geworden wie Töchter, und ihre eigenen Kinder blieben
fern. Trotzdem sollte noch einmal Pessach gefeiert werden wie früher, und
niemand außer Carol und Marvin sollte wissen, daß oben die gepackten
Kisten und Koffer standen. Kurz vor sechs würden draußen die Autotüren
schlagen, und die Glocke würde alle paar Minuten klingeln, und Edna würde
über zellophanbedeckte Schüsseln hinweg die Wangen ihrer Gäste küssen, sie
würde die Schüsseln und Weinflaschen aus ihren Händen entgegennehmen und
in anerkennende Bewunderungsrufe ausbrechen, das sonst so stille Haus
würde sich ein letztes Mal mit Lärm und Leben füllen, und sie würde für
Augenblicke sogar das Fehlen ihrer Kinder vergessen und glücklich sein.
Solange sie im Kreis ihrer Gäste saß und ihre Geschichten von früher
erzählte, würde es ihr gelingen, nicht daran zu denken, zumindest nicht an
diesem Abend, daß die Familie vor ihren Augen unablässig zerfiel und daß
die Jüngeren aufgehört hatten, sich als verwandt und über alle Differenzen
hinweg einander zugehörig zu betrachten.
Es sollte alles ein letztes Mal so sein wie früher in Dorchester, als sie
und ihre drei Geschwister um den Tisch in der Küche mit den beschlagenen
Fenstern saßen und Onkel Paul, noch jung und gesellig, der einzige Gast
war, weil ihre Eltern und Paul die ersten Einwanderer einer Familie waren,
die später diese Stadt und diesen Landstrich bevölkern sollten. Edna hatte
außer dem Vater ihrer Mutter Bessie keine anderen Großeltern gekannt, und
es war von ihnen auch nur selten die Rede gewesen. Mit ihrer Überfahrt aus
Osteuropa hatten Paul und Bessie ihren sturen Willen zu überleben und
einen pragmatischen Optimismus bewiesen, der sich ausschließlich auf die
Zukunft richtete.
Sie überblickte die Anrichte mit der großen Schüssel Charosset, mach viel
davon, hatte sie zu Carol gesagt, davon können die Kinder nie genug
bekommen, und Carol hatte sie fragend angesehen: Welche Kinder? Die
Hühnersuppe köchelte auf dem Herd, die Mazzaknödel lagen zu einer Pyramide
aufgeschichtet auf dem vorgewärmten Teller, und sie stand eingehüllt in
die vertrauten Gerüche karamelisierter Karotten und Zwiebeln und
weichgekochten Geflügels. Es brauchte nicht viel, um Edna das Gefühl
tiefer Zufriedenheit zu geben, solange vertraute Menschen um sie waren.
Sie legte die Schürze ab, die eine ihrer Töchter in der Küche
zurückgelassen hatte, was hat ein kluges Mädchen wie ich in der Küche zu
suchen, stand darauf, und Edna trug sie gern, weil die Heiterkeit, die
diese Schürze jedesmal auslöste, sie amüsierte. Seit zwanzig Jahren
erstaunte ihre Jugendlichkeit jeden, der sie kannte, als besäße der
natürliche Verfall des Alterns keine Macht über sie. Natürlich wußte sie,
daß man hinter ihrem Rücken ihre geistige Frische und ihren guten
Geschmack lobte, als erwarte man, daß sie endlich vergeßlich werde, senil,
und sich gehenließe, aber jedes Jahr saß sie am Tischende, als sei kein
weiteres Jahr vergangen, mit ihrem Schmuck und ihrer erlesenen Garderobe
und erzählte Familiengeschichten, und niemand wäre auf die Idee gekommen,
daß auch ihr zwanghaftes Erzählen einer Verzweiflung entspringen könnte,
mit der sie gegen die Auslöschung durch den Tod und das Vergessen
anredete, weil sie spürte, wie das Ende sich unaufhaltsam näherte. Bei
ihrem Begräbnis, prophezeite sie, würde ihren Nachkommen nichts Besseres
einfallen, als ihre Jugendlichkeit zu rühmen. Über ihr tatsächliches Alter
hatte sie einen verwirrenden Schleier einander widersprechender
Geburtsdaten gebreitet, niemand wußte, wie alt sie wirklich war, man
konnte es nur mit Hilfe anderer Familienereignisse berechnen: Wenn sie das
zweite Kind von Joseph und Bessie war, mutmaßten Kenner der
Familiengenealogie, dann mußte sie zwischen 1906 und 1910, zwischen ihrem
älteren Bruder Elja und ihrer jüngeren Schwester Dora geboren sein. Bei
der Geburt ihrer jüngsten Tochter Estelle in den späten vierziger Jahren
konnte sie jedoch nicht älter als um die vierzig gewesen sein - so ließ
sich ihr Alter aus Fakten annähernd ableiten.
Seit dem Tod ihres Vaters, der weiter zurücklag, als sich die jüngeren
Familienmitglieder erinnern konnten, hatten die meisten Familienfeste in
Ednas Haus stattgefunden. Damals waren sie und Morris aus Montana
zurückgekehrt, wohlhabender, als die beiden Einwandererfamilien es sich
für ihre Kinder jemals erträumt hatten. Morris' Vater war mit Eiern
hausieren gegangen, und Ednas Vater Joseph hatte viele Berufe, aber keinen
einträglichen, ausgeübt. Morris hatte den Wollhandel an der Quelle
studiert, hatte die Qualität des Rohmaterials in den Schafherden von
Montana geprüft und war in fünf Jahren zu einem der einflußreichsten
Textilgroßhändler der Ostküste aufgestiegen. Aber in Montana hatte es
keine jüdischen Gemeinden gegeben, und so waren sie zurückgekommen. Beim
langen, traurigen Exodus aus dem jüdischen Dorchester, diesem von ganz
Boston am dichtesten besiedelten Stadtteil, waren sie die ersten gewesen,
die weggingen, noch lange bevor die Zwangsverkäufe und der Terror der aus
der City delogierten Schwarzen begannen. Als sie das Haus in Bradford
Terrace kauften, war Brookline noch eine Adresse, die protestantische
Exklusivität bedeutete in dieser Stadt, die an eifersüchtiger Abgrenzung
gegen Fremde keinem Dorf in Europa nachstand.
Fast fünfzig Jahre lang stand Josephs grüner samtbezogener Lehnstuhl schon
an der Schmalseite von Ednas damastgedecktem Tisch, zunächst in dem weißen
Haus mit dem klassizistischen Portal in Brookline und später in dem
ebenerdigen Erkerzimmer in Beacon Hill, und die Mitglieder der verwandten
und verschwägerten Familien saßen dicht gedrängt vor den vielen kleinen
Schalen voll Speisen, die für den Seder vorgeschrieben waren, tauchten die
Petersilie
in Salzwasser, häuften Charosset und Meerrettich zwischen Mazzastückchen,
und der jeweils Jüngste stellte die vier Fragen - so auch Ednas Kinder,
eines nach dem anderen, und in den Jahren dazwischen die Kinder ihrer
Geschwister, dann deren Kinder. Es fehlte nicht an Kleinen bis in die
sechziger Jahre, bis die Jugendlichen, die in Ermanglung Jüngerer sich
genierten, mit ihren in den Stimmbruch kippenden Stimmen schon wieder oder
noch immer dieselben Fragen zu singen, Ausreden erfanden und fernblieben.
Jahrzehntelang war Morris in Josephs Lehnstuhl gesessen, zurückgelehnt wie
ein zum erstenmal seit der Knechtschaft freier Mann, und später, als
Morris, von der Krankheit geschwächt, schweigsam und mürrisch wurde, ihr
Sohn Jerome oder ihr Neffe Irving, der jüngere Sohn ihrer Schwester Dora.
Irving besaß als einziger der jüngeren Generation genügend
Hebräischkenntnisse und einen wachen, widerspenstigen Verstand, der auch
die weniger Gebildeten zur Diskussion anregte, stets stachelte sein
Widerspruch und seine Ironie die Altersgenossen zu Wortgefechten an, denen
die Älteren mit Genugtuung und Stolz auf ihre Kinder lauschten.
Wer wird diesmal den Seder leiten, wenn Jerome nicht kommt? fragte Carol.
Marvin natürlich, entgegnete Edna, und aus dem leicht herausfordernden und
kaum merklich verächtlichen Tonfall waren noch viele andere Sätze
herauszuhören, die alle unausgesprochen blieben, wie etwa, warum sollte er
nicht, es ist schließlich auch seine Religion und, ich weiß schon, er hat
für Traditionen nichts übrig, und seine Eltern haben es versäumt, ihm eine
ordentliche religiöse Erziehung angedeihen zu lassen, er wird sich eben
bemühen müssen. Mit Rücksicht auf Carol behielt sie diese Sätze für sich,
die auch den Tadel mit eingeschlossen hätten, daß Marvin, wenn er auf
Tradition etwas gäbe, sie, Carol, nie geheiratet hätte.
Und wer wird heute die vier Fragen stellen? fragte Carol. Und als Edna
schwieg, wußten sie, daß sie beide dasselbe dachten und im gleichen
Augenblick eine ähnliche bittere Trauer um ihre Kinder empfanden. Der
Seder war ein Drama, ein Schauspiel, in dem die symbolischen Speisen und
Handlungen die Requisiten darstellten, die Hagada das Skript und die
Familienmitglieder die Schauspieler.
Doch wie konnte man sich an einem Schauspiel erfreuen, bei dem die
Hauptrollen unbesetzt blieben und das Publikum fehlte?
(Aus dem Roman
"Familienfest" von Anna Mitgutsch.)
Lien:
Ein Leitfaden durch den Seder (von Rabbiner Walter
Rothschild)