(...) Das
Neujahr zieht
schon herauf, stichelte Frau Adriána. Meinst du, deine
Engländer kommen noch rechtzeitig mit ihrem Pudding? Du
erwartest sie doch seit einundvierzig?
Und trotzdem. Am Neujahrsmittag hatten sie Fleisch auf dem Tisch.
Gekochtes, auch nur wenig, aber Fleisch, in reichlich Brühe.
Das ist ja nicht zu kauen, mosert Fräulein Salome, was ist das
überhaupt für ein lila Fleisch, ist das ein Marder?
Wunderbar zart ist es, ruft ihre Schwester grimmig, kau ordentlich,
deine Zähne sind bloß nicht mehr an Fleisch
gewöhnt, und iß gefälligst auch die
Brühe, damit du den Besatzern nicht ohnmächtig in die
Arme fällst!
Fräulein Salome ist pikiert und steht vom Tisch auf, ohne auch
nur das Kreuz zu schlagen, nicht einmal die Serviette nimmt sie vom
Hals. Wenn sie pikiert war, ging sie immer zu ihrem Papagei, um ihm ihr
Leid zu klagen. Sie tritt in ihr Zimmer, der Papagei ist verschwunden.
Da geht ihr ein Licht auf, fast wie eine Offenbarung. Sie
läuft zurück ins Eßzimmer, die Serviette
hängt ihr noch um den Hals, Kannibalen!
stößt sie aus. Zum Glück hatten die anderen
da den Papagei schon verdrückt, Martina hatte sich sogar noch
die restliche Portion ihrer Tante genommen.
Salome gebrauchte äußerst harte Worte, ihre
Schwester hörte sie schweigend und mit gesenktem Kopf an, das
heißt, sie konnte gar nichts sagen, denn sie kaute noch auf
dem letzten Bissen des Papageischenkels herum. Zutiefst getroffen ging
Fräulein Salome mit ihr ins Gericht. Sie habe das Unterpfand
einer Verlobung mißachtet, habe die Liebe ihrer kleinen
Schwester in den Kochtopf gesteckt, und was der bitteren
Äußerungen noch mehr war. Als sie sie allerdings
persönlich als Medea und Menschenfresserin apostrophierte,
erhob Frau Adriána die Stimme.
Jetzt hör mir mal gut zu, meine Beste, sagte sie zu ihr, hab
ich denn nicht schon genügend Gewissensbisse, weil ich dem
unschuldigen Vogel den Hals umgedreht habe? Ganz abgesehen davon,
daß er mich heftig gebissen hat! Was hätte ich denn
sonst tun sollen? Meine Kinder haben doch gehungert!
Du hast nur ein Kind! Und auch das nur mit Ach und
Krach, rieb ihr Salome unter die Nase, offenbar hatte Frau
Adriána kein zweites bekommen können, das hatte
Vater Dínos in der Nachbarschaft herumerzählt.
Aber Frau Adriána war nicht zu halten.
Drei Kinder hab ich, sagte sie. Meine
unnütze Tochter, die bloß für
Proklamationen taugt, meinen unnützen Bruder, den ich um
Weizen über die Dörfer schicke, und der mir dann
Schläuche für ein Auto anbringt, das nicht
funktioniert ...
Entschuldige mal, unterbrach sie Tássis indigniert. Stehlen
gehn tu ich ja gerne, wenn ich was finde. Aber daß ich auch
noch zur Ährenleserin werden soll, als Mann von
Einunddreißig, nein danke!
Aber Adriána fuhr unbeirrt fort.
Und das dritte Kind, das bist du selbst, meine Beste! Meine nutzlose
Schwester. Als wir Razzia in einem Magazin gemacht haben, da hast du
dich einen Teufel darum geschert, etwas zum Essen mitzubringen, um auch
mal einen Beitrag zu leisten! Bloß Tokalonpuder! Und
Lippenstift, für deinen Mund, der wie ein Hühnerarsch
aussieht. Wenn wir noch nicht vergessen haben, welche Form ein
Hühnerarschloch hat, dann deshalb, weil wir deinen Mund
anschauen dürfen! Du Egoistin! Scheißanglophile!
(...)
aus
"Die Tochter der Hündin" von Pavlos Matessis
Hanser Verlag 2001
aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand
Buch
bei amazon.de bestellen