26) Einen Fuß vor den anderen setzend, fast im
Laufschritt, trabte ich in den Flur, um das Telefon abzuheben. Falsch
verbunden, der Anruf galt den Vormietern. Im Zimmer drang ein grauer Tag
durch die Tüllvorhänge. Ich legte den Hörer zurück auf die Gabel des
alten Apparats, umrundete in Gedanken versunken meinen Schreibtisch und
blieb reglos am Fenster stehen. Es regnete. Die Straße war naß, die
Bürgersteige glänzten dunkel. Autos
parkten ein. Über andere, die bereits standen, ging der Regen nieder.
Leute beeilten sich, über die Straße zu kommen, betraten und verließen
das Postamt, den modernen Bau mir gegenüber. Auf die Fensterscheibe vor
mir legte sich ein leichter Beschlag. Hinter dem zarten Dunstfilm
beobachtete ich, wie Passanten Briefe einwarfen. Der Regen verlieh ihnen
etwas Konspiratives: Am Briefkasten angekommen, zogen sie einen Umschlag
unter dem Mantel hervor und steckten ihn, sehr schnell, damit er nicht
naß wurde, in einen Schlitz, richteten danach den Mantelkragen auf, um
sich vor dem Regen zu schützen. Ich bewegte mein Gesicht noch näher ans
Fenster, und plötzlich, die Augen an die Scheibe gepreßt, konnte ich
mich des Eindrucks nicht erwehren, daß sich alle diese Leute da unten in
einem Aquarium befanden. Hatten sie vielleicht Angst? Das Aquarium
füllte sich langsam.
27) Auf meinem Bett sitzend, den Kopf in die Hände gestützt (immer diese
extremen Stellungen), sagte ich mir, daß die Leute den Regen nicht
fürchteten; manche, die gerade vom Friseur
kämen, würden sich vor ihm hüten, aber niemand hätte wirklich Angst, daß
der Regen nie wieder aufhört, ein unaufhörliches Fließen, das alles
verschwinden läßt - alles vernichtet. Mich dagegen, da am Fenster,
überkam plötzlich ausgelöst durch eine Verwirrung, die der wachsenden
Beklemmung geschuldet war angesichts all der Bewegungen vor meinen
Augen, dem Regen, dem Hin und Her der Menschen und Autos, Angst vor dem
Unwetter, dabei war es das Verrinnen der Zeit selbst, das mich, einmal
mehr, in Schrecken versetzt hatte.
28) Der Küchentisch bedeckt mit einem weißen Wachstuch, der
Küchenschrank, seine Schubladen und Regale, das Fenster und das
Fensterbrett. Das Spülbecken und den Stapel Geschirr dort gegenüber,
auch diesen Herd erkannte ich nicht mehr wieder. Der Boden wirkte
dunkel, an manchen Stellen hatte sich das Linoleum gelöst. Zwei Besen
waren an die Wand gelehnt. Ich registrierte all diese Details, ich
schaute, ohne mich entschließen zu können einzutreten. Ich stand im
Türrahmen und hatte das Gefühl, mich an einem völlig fremden Ort zu
befinden. Wer waren diese Männer? Was hatten sie bei mir zu suchen?
29) Ohne sich im geringsten an meiner Anwesenheit zu stören, setzten die
Polen konzentriert und in aller Ruhe ihre Unterhaltung fort. Die Augen
auf die auf dem Holzbrett ausgebreitete unförmige Masse gerichtet, stach
Kabrowinski da und dort mit der Spitze seines Messers in den
Cephalopoden, um irgendwelche Auswüchse zu beseitigen. Der Tintenfisch
war nun vollständig nackt. Nur noch an den Enden der Fangarme waren
Reste der gräulichen Haut zu sehen, umgestülpt wie kleine Söckchen. Die
Tentakel ragten über das Holzbrett hinaus, schlängelten sich in alle
Richtungen; sie krochen längs des Spülbeckens entlang, wölbten sich über
Hindernisse hinweg, trafen wieder aufeinander, überkreuzten sich. Die
längsten hingen an verschiedenen Stellen ins Leere. Kabrowinski legte
sein Messer beiseite und erklärte, an mich gewandt, daß er nun die
richtigen Handgriffe beherrsche. Nach seiner Schätzung, obwohl noch fünf
Tintenfische ineinander verschlungen im Spülbecken lagen, bräuchte er
nur noch eine Viertelstunde, um sie abzuhäuten. Wunderbar, wunderbar,
dachte ich und suchte in meinen Taschen nach den Zigaretten. Ich hatte
sie in meinem Zimmer liegen lassen.
30) Debatten wurden eröffnet, würde der Botschafter sagen, Vorschläge
eingebracht, Schlußfolgerungen gezogen und neue Programme ins Leben
gerufen. Diese Projekte, die im Sinne einer Vereinheitlichung der
Konzepte ausgearbeitet wurden, zielen anhand einer präzisen Definition
der vorgängigen Studien auf nachhaltigere Umsetzung der während der
letzten Sitzung getroffenen Verfügungen. Mit diesen Verfügungen wird im
übrigen versucht, die Teilnehmer zu einer genaueren Programmierung ihrer
Untersuchungsaktivitäten zwecks erfolgreichen Umgangs mit den Projekten
anzuleiten, um so Modalitäten einer verbesserten praktischen Effizienz
der personellen Ressourcen ins Werk zu setzen. Eingedenk der von den
Teilnehmer gehegten großen Erwartungen, sind sie darin übereingekommen,
ihre Anstrengungen hinsichtlich Zuständigkeit, Zuverlässigkeit und
Zusammenhalt zu bündeln. Mehr noch. Sie erwarten - und dieser Ausdruck
stammt aus dem Munde des Vorsitzenden der Sitzung selbst - vermehrte
Anstrengungen im Hinblick auf die Realisierung der gesteckten zentralen
Ziele. Haben Sie eine Salatschüssel? fragte Kabrowinski. Wie bitte? Eine
Salatschüssel,
wiederholte er und zeichnete so etwas wie eine Salatschüssel in die
Luft.
31) Mit leicht nach vorn gebeugtem Körper ließ Kabrowinski liebevoll den
in kleine Scheiben geschnittenen Tintenfisch über das schräg gehaltene
Brett in einen Behälter gleiten. Er hatte alle Schränke öffnen, Töpfe
verschieben, Kannen und Schüsseln, Siebe und sonstiges Küchengerät
hervorziehen müssen, bis er hinten in irgendeinem Schrank diese
grünliche Obstschale aus schäbigem durchsichtigen Plastik gefunden
hatte. Kovalskazinski Jean-Marie hatte sich ebenfalls an der Suche
beteiligt, allerdings mit weit weniger Überzeugung, er hatte sich darauf
beschränkt, wachsamen Blicks durch die Küche zu gehen. Der Tintenfisch
war vollständig zerlegt, der Körper in Streifen geschnitten, die
Fangarme in kleine runde Scheiben, mit Hilfe seines Messers beförderte
Kabrowinski diesen beweglichen Haufen in den Behälter. Nachdem das getan
war, piekste er einen zweiten Tintenfisch aus dem Spülbecken, hob ihn
weit über unsere Köpfe hinweg und breitete ihn, mit einer eleganten
Bewegung und in die Knie gehend, auf dem Holzbrett aus. Seit einiger
Zeit schon war mir klar, daß ich die Küche verlassen würde (ich fror ein
wenig).
32) Ich war aufgestanden und ging aus der Küche, um mir einen Pullover
aus meinem Zimmer zu holen. Bevor ich die Schwelle überquerte, verbeugte
ich mich leicht und ließ meine Gäste mit einem entschuldigenden Lächeln
wissen, daß ich sie mit Bedauern verließe. In der Wohnung war es still.
Ich ging geräuschlos. Wie oft hatte ich auf diese Weise die Diele
durchquert, mich erst nach links, dann nach rechts gewandt, bevor ich
mit gleichmäßigem Schritt mein Zimmer erreichte? Und wie oft hatte ich
den umgekehrten Weg genommen? Ich fragte mich das. Die Türen zum Flur
hin waren halb geöffnet. Durch die Türöffnungen fielen feine Bänder
grauen Lichts, die sich auf dem Teppichboden vermischten. Über meine
sich bewegenden Schuhe kreuzten blasse Streifen. Ich wandte mich nach
rechts und betrat mein Zimmer. Vor dem Fenster stehend, massierte ich
Arme und Brust. Mit einem Finger zeichnete ich auf das Fenster, zog
Linien auf die beschlagene Scheibe, unendliche Kurven (draußen war es
immer noch so pariserisch).
33) Zwei Arten gibt es, zu Hause, hinter einer Fensterscheibe, zu
beobachten, wie der Regen fällt. Bei der ersten hält man den Blick auf
einen beliebigen Punkt im Raum gerichtet und sieht dem unaufhörlichen
Fallen des Regens an der ausgewählten Stelle zu; diese Art, so
entspannend sie für den Geist ist, gibt keinen Aufschluß über das
zielgerichtete Ende der Bewegung. Die zweite Art, die dem Sehvermögen
einiges an Behendigkeit abverlangt, besteht darin, mit den Augen dem
Fallen eines einzigen Tropfens zu folgen, von seinem Eintritt in das
Sehfeld bis zu seinem Aufplatzen auf dem Boden. Auf diese Weise ist es
möglich, sich vorzustellen, daß die Bewegung, so blitzartig sie auch dem
Anschein nach ist, in ihrem Wesen zur Bewegungslosigkeit tendiert, und
sie aus diesem Grund, so langsam sie manchmal auch scheinen mag, die
Körper unaufhörlich in
Richtung Tod zieht, in dem ich die Bewegungslosigkeit seh. Olé.
(Aus "Das Badezimmer" von
Jean-Philippe Toussaint.
Aus dem Französischen von Joachim Unseld.)
Ein junger Mann, der,
merkwürdig genug, von sich sagt, "noch 27, bald 29 Jahre alt" zu sein,
beschließt, künftig sein Leben in der Badewanne zu verbringen. Er will
ein abstraktes Leben führen, unabgelenkt sein, warum, das verrät er
nicht. Er liest Bücher, geht eigenen Gedanken nach. Ein Ich in
Isolation, das registriert, was um es herum passiert. Da ist Edmondsson,
seine Frau, die in einer Kunstgalerie arbeitet; da gibt es zwei Polen,
Kunstmaler eigentlich, die für wenig Geld die Küche streichen sollen.
Ein Freund der Eltern schaut vorbei, die besorgte Mutter kommt ihn
besuchen. Dann aber eines Tages, fast überstürzt und ohne Gepäck,
verlässt er sein Badezimmer, verlässt Paris, nimmt einen Zug, der ihn nach Venedig
und dort in ein Hotelzimmer bringt, das er nur selten verlässt. Dort
spielt er Dart. Und er ist auf der Suche nach einem Tennisplatz.
Als Jean-Philippe Toussaint 1985
in Frankreich "Das Badezimmer" veröffentlichte, seinen berühmten
Traktat über Bewegung und Stillstand, über den Sinn menschlichen
Handelns und den Tod, rüttelte das die damals eintönig gewordene
französische Romanlandschaft auf. Da legte ein unbekannter junger Autor
ein Buch vor, das so ganz anders war, ein karger, alles Unnötige
verbannender, glasklarer Stil, eine kuriose Geschichte. Hier war
unerwartet in der ernst-komischen Schnittstelle eines Samuel
Beckett und Jacques Tati ein neuer großer Autor aus dem Nichts
aufgetaucht. Der moderne Klassiker in einer neuen Übersetzung.
(Frankfurter Verlagsanstalt)
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