Kannibalismus
Wilde Tiere sind natürlich nicht die
einzigen Kreaturen, die gelegentlich menschliches Fleisch zu schmecken
bekommen. Der Kannibalismus ist ein Teil der menschlichen Geschichte. Er
taucht in vielen Teilen der Welt wie den Pazifischen Inseln, Polynesien,
Australien, Neuseeland, Südamerika und Afrika auf. Er hatte in
Kriegszeiten eine rituelle Funktion, und wird nach wie vor in
Zeiten akuter Hungersnöte praktiziert. In der ganzen entwickelten
Welt gibt es Fälle von Serienmördern mit einem perversen Appetit auf
Menschenfleisch.
Als kulturelles Phänomen hat der Kannibalismus
symbolischen Zwecken gedient. Manche glaubten, dass mit dem Verzehr des
Fleisches eines toten feindlichen Kriegers dessen Kräfte auf den
Kannibalen übergingen. Das gleiche Prinzip galt für den Verzehr toter
Angehöriger; in diesem wie in jenem Fall verdeutlichte es eine
Achtungsbezeigung gegenüber dem Toten.
Der
griechische Historiker Herodot schilderte mehrere Fälle von
rituellem Kannibalismus, der zu Ehren toter Angehöriger veranstaltet
wurde. Er erwähnt auch verschiedene europäische Volksgruppen, die ihre
toten Väter aßen. Nach einem Brauch wurde ein Festmahl veranstaltet, bei
dem Schaffleisch mit Menschenfleisch für die Festtafel der
Familienmitglieder und nahen Verwandten gemischt wurde. Der Schädel des
toten Vaters wurde anschließend in Gold gefasst und jedes Jahr bei einer
Gedenkfeier hervorgeholt und gezeigt. Herodot schrieb auch noch von
einer anderen Gruppe, die ihre Alten tötete und ihre Leichen dann für
ein großes Festmahl kochte.
Die Eingeborenen
Australiens und Neuguineas erachteten es für notwendig, die
Leichen von Verwandten zu verzehren, um ihnen Respekt zu erweisen und zu
verhindern, dass ihre Geister zurückkehrten. Dieser Leichenschmaus war
jedoch kein Vergnügen. Im Gegenteil, die Beteiligten waren bedrückt und
schwermütig, erbrachen sich oder spien ihr Essen wieder aus. Sie zeigten
auch viele andere Zeichen von Ekel. Bei einem Stamm in Neuguinea, den
Gimi, verzehrten die Frauen die verwesten Leichen der männlichen
Verwandten in einem männlichen Heiligtum, das sie normalerweise nicht
betreten durften. Anschließend gaben die lebenden männlichen Verwandten
ihnen die entsprechenden Teile von einem Schwein.
Bei ihren Hochzeitszeremonien imitierten die Frauen den rituellen
Kannibalismus, den sie vorher praktiziert hatten.
Kannibalismus gehörte möglicherweise auch zu dem
kunstvollen rituellen Opfersystem der Azteken.
Diese Opfer wurden gebracht, um die Götter versöhnlich zu stimmen, und
damit die Krieger mit ihnen sprechen konnten. Manche Schätzungen gehen
davon aus, dass bis Ende des 15. Jahrhunderts jedes Jahr
zweihundertfünfzigtausend Menschen geopfert wurden. Zuerst wurden den
für die Opferung bestimmten Gefangenen - Männern, Frauen und Kindern -
die Herzen aus der Brust gerissen und ihre Leichen dann an den Seiten
der Pyramiden hinuntergeworfen. Krieger oder andere, die bei der
Opferfeier zugegen waren, warteten unten, schnitten die Leichen in
Stücke, legten das rohe Fleisch in Streifen oben auf Schüsseln mit
Mais und reichten diese dann rundum. Die Nachbarn
der Azteken folgten ähnlichen Praktiken. Manche Historiker
bestreiten die Behauptung, dass die Azteken ihre Opfer verzehrt hätten.
Aus "Die letzte Reise. Eine Kulturgeschichte des
Todes" von Constance Jones.
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